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Die Gummistiefel
Wie froh muss man sein, wenn man Gummistiefel hat. Man kann durch Wald und Wiese, Matsch und Dreck rennen und die Füße bleiben trotzdem trocken. Und Spaß muss das machen. Plitsch Platsch, von einer Pfütze zur anderen. Wer wäre da nicht gerne wieder Kind. Sich im Schlamm austoben können, bis die Klamotten dreckig sind und man von oben bis unten, nein stopp, die Füße bleiben immer trocken, nass ist. Einen Tost auf Gummistiefel.
Gemütlich in meine Couch gekuschelt, erhebe ich mein Glas Rotwein auf ein Paar Schuhe, genauer ein Paar Gummistiefel. Es regnet draußen. Morgen kauf ich mir Gummistiefel!
Am nächsten Tag (wie schnell die Zeit vergeht!), ich, hundemüde, quäl mich aus dem Bett, durch die Morgenroutine, und schließlich aber endlich finde ich mich am Tisch mit Frühstück.
Dass Brötchen mit Marmelade immer gleich schmecken muss. Die verdammte Industrie kann das Brötchen doch mal nach - hmm - Rotwein schmecken lassen.
“Huuuubert, was hast du denn da für Brötchen gekauft? Die schmecken nach Rotwein! Willst du uns besoffen machen?“
Und nach einem verdutzten Gesicht des Huberts fügt die Alte schreiend hinzu: „Spuck’s endlich aus!“
“Ahhh, doch nicht du, Depp, schau dir mal die Sauerei an, das wischt du aber schön selber auf!“ Der 12-jährige Junge hat noch nie so etwas Gutes wie Rotweinbrötchen gegessen und alles auf einmal in sich hineingestopft, und auf Kommando seiner Mutter landete alles auf dem Tisch.
Und ich landete bei dieser Vorstellung vor Lachen auf dem Boden. Kam aber schnell wieder in die Realität zurück.
Die verdammte Industrie könnte mir aber einfach Arbeit geben. Aufpassen auf die Maschinen, dass die nichts Unartiges machen, das kann ich. Oder Sekretärin spielen. Kaffee machen ist auch kein Problem. Und in kurzen Röcken auf dem Schreibtisch vom Chef sitzen, das kann man lernen. Bloß, dass man heute mehr können muss als in den Filmen von damals.
Versunken in meinen Gedanken über die Nichteinstellbarkeit von mir, kommt mir ein Gedanke.
Irgendwas wollt ich doch heute noch machen. Mal schauen, was in meinem Terminkalender steht.
Nichts. Aha, wie immer. Ach, morgen steht einer drin: Putzen bei Marta. Warum steht denn das schon wieder drin, das weiß ich doch. Seit einen halben Jahr, jeden Dienstag, Punkt 9 Uhr.
“Lili, ich möchte mir eine Putzfrau suchen. Meine Knie werden schön langsam schwach, und eine kleine Hilfe ist bestimmt nicht schlecht.“
“Und?“
“Deine Wohnung schaut immer so sauber und gespickt aus.“
Tja, wann man den ganzen Tag nichts zu tun hat, kratzt man sogar die Fliegenscheiße vom Schrank.
“Würdest du mir nicht helfen wollen, eine bessere Hilfe fänd ich nicht. Und es wäre nur einmal die Woche. Zudem hätt ich noch nette Unterhaltung. Bitte.“
Soso, jetzt versucht sie es schon hintenrum. Alles Bitten und Betteln und Auf-Knien-Kriechen hat nicht geholfen, dass ich Geld von meinen Freunden nehm. Auf keinen Fall, wär ja noch schöner.
Aber dafür arbeiten wäre schon besser, zumindest wäre es verdient, und ob ich jetzt bei meiner besten Freundin oder irgendjemand Fremden putze, kommt doch aufs Selbe raus. „O.k, ich mach es.“
“Danke, also dann bis Dienstag, 9 Uhr.“ Und weg war sie.
Wo ist ein Kuli, Ein Kuli, ach hier. Durchstreichen, Putzen bei Marta am Dienstag, weiß ich, weg damit!
Bloß was ich heute machen wollte, weiß ich immer noch nicht. Ich war doch gestern nirgends. Bin faul auf der Couch gelegen und hab Rotwein getrunken, mein neustes Hobby. Die Couch wartet auch schon wieder auf mich.
“Komm zu mir“, ich kann sie schon hören.
Aber ich könnte auch raus, es hat ja aufgehört zu regnen. Regen, das ist es. Gummistiefel, ich wollte Gummistiefel kaufen gehen. Ich werde uralt, dass ich alt bin, weiß ich ja schon lange, aber uralt. Doch bald mit Gummistiefeln an den Füßen kann ich mich wieder wie ein Kind fühlen.
Wo sind meine Schuhe. Wo meine Jacke. Und dann brauch ich noch meine Tasche und los geht’s.
Türschlossklacken.
Eine Frau, fortgeschrittenen Alters, noch nicht uralt, aber doch schon mit grauen Haaren, geht eines Morgens aus ihrem Haus, die Stufen hinunter, den Weg entlang, die Straße hinunter, die erste links und die zweite wieder rechts, ins dritte Haus rechts: Schuhgeschäft Allermann.
“Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“ Immer wieder die gleiche Frage.
“Mit einem Paar Gummistiefel, bitte.“
“Bitte folgen Sie mir, hier entlang. Welche Schuhgröße haben Sie? Achtunddreißig?“
“Ja, meistens.“
„Da hätten wir diese Stiefel hier, wollen Sie sie einmal anprobieren?“
“Gelb, nicht gerade meine Farbe, haben Sie auch andere?“
Wer schaut denn bei Gummistiefeln auf die Farbe.
„Ich ...“
Die werden doch eh nur von der Gartenarbeit dreckig.
„... bevorzuge eine andere Farbe, etwas bunter vielleicht.“
“Einen Moment bitte, da muss ich schnell im Lager nachschauen, bin gleich wieder zurück.“ Hoffentlich mit Gummistiefeln. Irgendwo müssten doch welche sein. Vielleicht bei den Ladenhütern. Ah, ja, da sind welche, hässlich schauen die aus, aber ich denk, die könnten passen.
“So, hier haben wir das neuste Modell, frisch eingeflogen aus Mailand. Die neueste Kollektion.“ Ok, einstudiert, gelogen, aber wirkt immer.
“Soso und das soll ich Ihnen abnehmen. Ihr Verkäufer sagt das doch immer. Es ist doch jedes Mal das gleiche Kreuz mit euch.“
Ähm, was soll man darauf jetzt sagen, denken, denken. „Ich finde, die Schuhe stehen Ihnen ausgezeichnet, und sie sind wie auf den Leib geschneidert.“ Und noch einen Seufzer hinterher. „Hach.“ Gerettet.
“Ich nehme sie, wie viel kriegen Sie?“
“30 Euro, bitte; möchten Sie die Schachtel?“
“Ja, bitte.“
“Dankeschön, und beehren Sie uns bald wieder.“
“Auf Wiedersehen.“
Das war aber einen komische Nudel. Aber wenigstens hab ich die vielleicht größten Ladenhüter, die wir je hatten, verkauft. Der Chef wird stolz auf mich sein. Vielleicht wird er mir sogar eine Prämie geben und erkennt endlich, wie gut ich verkaufen kann, und versetzt mich. Und ich komm endlich aus dieser Einöde hier raus. Mehr Leben, mehr Abenteuer. Wo bleibt der alte Trottel denn.
Eine Viertelstunde später kommt die gleiche Frau wieder aus dem Schuhgeschäft heraus. Die Schachtel mit den Gummistiefeln unterm Arm, ihre Tasche unterm anderem. Sie geht die Straße vor, dreht links, geht die zweite rechts, noch ein paar viele Schritte und schnurstracks in ihr Haus.
Türschlossklacken.
Hach, wieder daheim, die Verkäufer, was sich die manchmal einbilden, tztz. Wollen einem zum Narren halten, aber nicht mit mir. Doch die Gummistiefel, die sind perfekt.
So, gleich mal raus in meinem Garten damit. Dicke Socken anziehen. Sodala, fertig.
Türschlossklacken.
Die Frau geht aus ihrem Haus und in ihren Garten, natürlich mit den neuen Gummistiefeln an den Füßen. Sie springt in die nasse Wiese und beobachtet, wie der Matsch an ihren Gummistiefeln hochspringt. In Zeitlupe springt sie wieder und wieder in die Luft. Bis in alle Zeiten. Sie lacht wie ein Kind, ihre Haare springen ihr überall ins Gesicht. Wo bleibt die Musik? Musik bitte. In solchen Momenten kommt doch immer die passende Musik. Versagt mal wieder das Tonstudio? Hey, Tonstudio, wir sind nicht so gut, dass die Szene ohne Musik wie ein Kind im Matsch tollend rüber kommt. Jetzt wirkt die Frau wie eine alte verrückte Lady, die in ihrem Garten rumspringt.
Und mittendrin, eines schönes Tages, hat sie aufgehört zu hüpfen. Einfach so. Ach, sie geht ins Haus.
Türschlossklacken.
Das war schöööön. Ich fühle mich 20 Jahre jünger. Aber jetzt brauch ich erst mal Musik, die fehlte mir draußen. Was haben wir denn da. Hmm, das ist jetzt das Richtige, rein damit.
Moment, was ist denn hier los, da müssen wir uns jetzt mal einmischen. Die Alte springt nun im Wohnzimmer rum, immer noch mit ihren pinkfarbenen Gummistiefeln mit den rosa Blümchen drauf. Aber nein, sie springt nicht, sie tanzt und springt. Und hört Musik. Jaaaa, das Tonstudio, es gibt es noch. Und sie springt bis an ihr Lebensende.
Türschlossklacken. Schuss.
Und Schluss.