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Die Hassrede
Ich hatte es in mit eigenen Augen gelesen, ein Leitartikel beim schnellen, morgendlichen Durchblättern der Zeitung in Socken und Schlafanzug. Es war Samstag und ich hatte wieder einmal zu lange geschlafen, um mit meiner Familie zu frühstücken, die sich jetzt über das ganze Haus verteilt hatte.
Ich durchlebte grade eine Phase in der ich nicht gut schlafen konnte und abends erst spät ins Bett kam. „Der englische Hilfsarbeiter und Tagelöhner, George Winston, wird am 23.6.2004 für alle Interessierten eine Hassrede halten! Die Veranstaltung zum Unkostenbeitrag von fünfzig Euro soll auf einem Landgut nahe der englischen Stadt Boston stattfinden.“! Die Veranstaltung soll auf einem Landgut nahe der englischen Stadt Boston stattfinden.“, stand in großen Lettern über einem Leitartikel der Zeitung. Meine Augen waren viel zu ungeduldig, als ich den Artikel lesen wollte. Sie waren schneller als mein Kopf und ich musste häufig mit dem Lesen neu ansetzen.
Mir schien, als sei mein bisheriges Leben nur darauf ausgerichtet gewesen zu sein, jetzt, in diesem Augenblick, genau diesen Artikel zu lesen, der mich auf den eigentlichen Sinn meines Lebens aufmerksam machte, nämlich diese Hassrede zu besuchen.
In meiner euphorischen Unruhe nahm ich die Zeitung und wetzte aus unserem Wohnzimmer die Treppe hinauf. Ich hatte zwei Geschwister, einen großen Bruder und eine kleine Schwester, zwei ungeschiedene Eltern. Es musste doch möglich sein, was sonst unvermeidbar war, nämlich in diesem verdammten Haus auf irgendjemanden zu treffen! Die Zimmer meiner Geschwister waren leer. Zumindest mein Vater saß, in seinem fürchterlich bunten Bademantel versteckt, an seinem Computer.
„Hast du das gelesen Paps?“ (ich nannte ihn immer „Paps“, wenn ich etwas von ihm wollte), ich zeigte auf das Bild von George Winston, obwohl mir völlig egal war, ob er es gelesen hatte, ich musste ihn nur darauf aufmerksam machen und ihn dazu bringen mit mir da hinzugehen.
„Ja, natürlich habe ich das gelesen, gestern gab es ja kein anderes Gesprächsthema im Fernsehen!“ „Oh, das wusste ich nicht, ihr hättest mich ja mal zu den Nachrichten holen können, du weißt doch, dass ich die normalerweise nicht gucke, weil nichts passiert.“
Der Vater lachte so gönnerhaft, dass sich der Schnurrbart verzog: „Also es tut mir leid, mein Sohn, aber damit, dass du nicht mitbekommst, dass George Winston eine Hassrede hält, hätte ich niemals gerechnet!“
„Na ja, ist ja jetzt auch egal! Wichtig ist nur, dass wir dahin gehen, ich hab’ ja noch nichts verpasst!“
„Da muss ich dich leider enttäuschen, Junge.“ (ich hasste es, wenn er mich „Junge“ nannte, das bedeutete, dass mein „Paps“ nicht gefruchtet hatte), sagte der Vater wieder vollkommen nüchtern. „So gerne ich mir diese Hassrede anhören würde und wie wichtig es auch für die Entwickelung von euch Kindern wäre, der Aufwand und die Kosten, die mit einer Reise nach England verbunden wären, sind einfach zu groß.“ (Er machte oft auf Übervater, der alles überblickte) „Du bist gemein! Da passiert mal etwas in Europa, da haben wir einmal die Chance dabei zu sein und meinem lieben Vater ist das ganze zu teuer!“, schrie ich ihn an und stapfte aus dem Zimmer.
Für mich war die Sache gestorben. Auch wenn ich zusammen mit meinen Geschwistern, der Rhetorik meines älteren Bruders und dem Tränenkanal meiner kleinen Schwester, den Vater noch umzustimmen versuchte, wusste ich, dass das völlig nutzlos war. Unseren selbsternannten Übervater umzustimmen war unmöglich. Es gab überhaupt nei eine Chance den Vater von irgend etwas zu überzeugen, selbst dann nicht, wenn es offensichtlich war, dass man selbst Recht hatte und der Vater sich in eine Sache verrannt hatte.
Nein, den Vater konnten wir wirklich nicht überzeugen, aber durch verschiedene Klassenkammeraden ständig durch die Frage: „Sach’ mal, kommst du eigentlich mit nach Boston zum George Winston?“, an die Sache erinnert (wie konnte man solch ein Ereignis auch vergessen?), gelang es uns die diesjährigen Pläne für einen Familienurlaub in den Sommerferien insoweit zu manipulieren, dass wir ins südenglische Plymouth fuhren.
Als schließlich auch dem Vater im Verlauf des Urlaubs auffiel, dass die Hassrede genau in unsere Urlaubszeit fiel (überall hingen Plakate, die eine Busreise zu diesem Megaevent anpriesen, Busreise plus Eintritt für nur 55 Pfund), war auch er Feuer und Flamme dafür die paar hundert Kilometer nach Boston zu fahren und sich die Rede anzuhören. Bis er realisiert hatte, dass es in Großbritannien noch keinen Euro gab, war er besonders davon begeistert, dass die Busreise aufgerechnet nur 5 Euro kosten sollte, war aber schnell wieder ernüchtert, als ihn auf das Pfundzeichen aufmerksam machten.
Genau in einem dieser, dann doch noch überteuerten, vor allem aber überfüllten, Busse sitze ich jetzt und schaue aus dem Fenster, das mir ein eindrucksvolles Bild des berüchtigten englischen Wetters zeichnet. Nach rechts schaue ich nicht mehr, weil mir dann der Mundgeruch eines älteren, rundlichen, vor allem ekelhaften Mannes entgegenschlägt, der sich neben mich gesetzt hat und den es nicht zu stören scheint, dass er mich zwischen seinem Hintern und der Scheibe fast zerquetscht. Ich habe immer ein Glück! Draußen regnet es und die Regentropfen fließen bedingt durch die Fahrt etwas schräg die Scheibe hinab, vereinigen sich, überrumpeln einander und fließen in kleinen Strömen.
Meine Familie habe ich schon bei der Abfahrt verloren. Wir haben uns getrennt, um auf dem riesigen Gelände, auf dem die Busse auf ihre Fahrgäste warteten, schneller den richtigen für uns zu finden (Nummer 1783 war uns beim Kauf des Bustickets von einer rothaarigen Frau gesagt, die nicht besonders freundlich aussah, sich das aber nicht anmerken lies). Die Suche nach der richtigen Nummer gestaltete sich schwierig, weil das Organisationstalent der Busfahrer für ein solches Massenereignis, wie die Hassrede des Tagelöhners und Hilfsarbeiters George Winston, offensichtlich nicht gewachsen war und sie mit ihren Zahlen wild durcheinander parkten. Ich fand den Bus mit der 1783 schließlich (er stand zwischen 2627 und 821) und kehrte zum vereinbarten Treffpunkt zurück (einem außer Betrieb genommenen Parkscheinautomat).
Dort wartete ich, bis ich mir irgendwann zu der Überzeugung gelangte, dass ein weiteres Warten unsinnig wäre, weil meine Familie aus welchen Gründen sie auch immer fern blieb, nach so langer Zeit auch nicht mehr kommen würde, außerdem fing es zu regnen kann. Vielleicht waren sie ja schon am Bus.
Ich kehrte also zum Bus 1783 zurück, sah keine Familie, machte es mir dennoch bequem und wartete dort darauf, dass sie doch noch kam. Stattdessen fuhr der Bus aber bald los, so dass ich nicht wusste, ob es in dieser Situation klüger war alleine die Strecke nach Boston zu fahren, oder den Busfahrer zu bitten mich aussteigen zu lassen und weiterhin auf dem größten Busparkplatz, den ich je gesehen habe, herumzuirren, während meine Familie womöglich schon längst in einem anderen Bus nach Boston fuhr.
Ich entschied mich dafür einfach sitzen zu bleiben und die Regentropfen zu betrachten.
Regentropfen sind langweilig, die Fahrt hängt mir schon nach kurzer Zeit zum Halse heraus. Ich habe dieses seltsame Gefühl das Falsche zu tun oder zumindest nicht zu wissen, ob ich mich richtig verhalte. Es schnürt mir die Brust ein. Dazu kommt noch die Langeweile, diese Fahrt ist drauf und dran mich der Vorfreude auf die Rede zu berauben! Aber jetzt genug von diesem selbstmitleidigen Geschwafel! Ich will nur klarstellen, dass ich mich insgeheim freue, als der Bus mitten auf der Fahrt unerwartet folgendes Verhaltensmerkmal zeigt: Der Motor schuckelt, ruckelt, rumort, heult, brummt und geht plötzlich beim Anfahren an einer Ampel aus. Der Busfahrer flucht, funkt und erklärt uns aufgebrachten Fahrgästen, die wir völlig entnervt in unserem überfüllten Bus sitzen und auf schnellstem Wege zur Hassrede gelangen wollen, folgendes: „Liebe Fahrgäste, unser Motor hat leider grade den Geist aufgegeben! Ich habe angefragt, ob es möglich sei einen Ersatzbus für uns zu bekommen, aber es sind leider alle Reisebusse unserer Gesellschaft in Betrieb. Wir können uns auch nicht auf andere Busse verteilen, weil alle bis auf den letzten Platz voll sind und sie dann stehen müssten, was unsere Gesellschaft blahblah… .“ Jedenfalls werden wir jetzt mit der Bahn weiterfahren!“ Natürlich sagt er das auf Englisch und ich verstand nicht alles, nur Wortfetzen. Plötzlich wird mir klar, dass mein Vater zum übersetzen der Rede gar nicht da ist. So werde ich George Winstons Wortschatz wohl schutzlos ausgeliefert sein. Vorausgesetzt ich erreiche die Rede überhaupt.
Ich muss aber mit meiner Deutung der Rede ungefähr richtig gelegen haben. Es dauert zumindest nicht lange (wir waren ziemlich nah an London gestrandet, was der Busfahrer in weiteren Ausführungen noch erläuterte) und es parkt ein Wagen hinter dem Bus, ein Mann steigt aus und nimmt sich unserer Gruppe an, die wie eine Schulklasse hinter der fremden Entenmama, watschelt.
Ich lache insgeheim: Erwachsene die watscheln!
Es dauert nicht besonders lange und wir stehen am Bahnhof und noch etwas Später steigt unsere Gruppe in eine schon völlig überfüllte Bahn ein. Überall Leute, die zur Hassrede wollen, deren Gesichter teilweise sehr müde aussehen, aber die das gleiche Ziel haben wie ich. Das macht sie ungemein sympathisch.
Da sehe ich den Hinterkopf eines Engländers, der von hinten Ähnlichkeiten mit unserem Nachbarn hat. Solche Ähnlichkeiten interessieren mich immer ungemein und ich kann mich nicht beherrschen mich durch die Menge zu ducken, quetschen und rempeln, um ihn von vorne zu sehen (Erwachsene drehen ihren Kopf so gut wie nie).
Das ist kein Double, sondern wirklich mein Nachbar! Endlich mal jemand, den ich kenne! Jemand der mich nicht anrempelt oder zerquetscht!
„Hi!“, sage ich.
„Oh, Hallo, was machst du hier kleiner?“, beguckt er mich skeptisch.
„Ich will zur Hassrede!“, sagte ich und ärgerte mich schon während ich es sagte über die Naivität, die meine Worte hatten.
„Ja, da will ich auch hin.“, lächelte er. „Wo sind denn deine Eltern?“
„Och, die sind mir verloren gegangen, ist nicht so schlimm, die kommen ganz gut allein zurecht“. Da war der richtige Ton!
„Wenn du willst, kannst du mit mir mitkommen, dann müssen wir jetzt aber raus.“, sagte er.
„Ja, gerne!“, antwortete ich.
„Gut, dann komm’ mit.“, antwortet er ziemlich nüchtern.
Wir zwängen uns durch die Massen. Genau genommen zwängt nur er sich und ich kann überall, wo er mit seinem Koffer durchpasst, problemlos hinterher schlüpfen. Wir steigen aus dem Zug und der Bahnhof ist wie leergefegt.
„Ich hab das Taxi extra für eine Station früher bestellt, weil wir in Boston wohl keine Chance hätten das Taxi zu bekommen!“, erläutert er fröhlich.
Er schmeißt seinen Koffer in den Kofferraum des Taxis, das für uns bereitsteht. Wir sind sehr langsam, weil die Straßen nach Boston verstopft sind und mein Nachbar flucht, weil er die ganzen Taxikosten bezahlen muss.
So werden wir die Hassrede wohl niemals rechtzeitig erreichen!