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Die Heilung des Herrn Endres

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25.01.2002
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Die Heilung des Herrn Endres


oder
Eine Lektion in Wichtigkeit​

"Mexiko?", fragte Herr Endres ungläubig. Doktor Hoffmann sah ihn ernst durch seine runde Brille an und fragte: "Sie wollen doch gesund werden?"
"Natürlich", antwortete Herr Endres.
"Und Sie haben mir selbst gesagt, daß es schlimmer wird."
"Das stimmt wohl."
"Nun, dann sehe ich keine wirkliche Alternative für sie. Es sei denn, sie finden sich mit Ihrem Zustand ab."
Herr Endres ereiferte sich: "Aber Doktor Hoffmann, ich verwandle mich in eine Maschine! Mein ganzer Arm ist schon... in diesem Zustand."
"Sie wissen, daß das nicht wirklich passiert. Und sie können den Arm doch ganz normal benutzen."
"Ja, er funktioniert. Wie man das von einer Maschine erwarten würde."
Nachdenklich betrachtete Herr Endres seine rechte Hand. Er bewegte die Finger und hörte, wie dutzende winziger Servomotoren mit höchster Präzision zu arbeiten begannen.
"Ich würde sogar sagen, er funktioniert besser als jemals zuvor. Aber, es ist eben nicht mein richtiger Arm. Er ist nicht lebendig."
"Herr Endres, ich habe es ihnen schon erklärt. Ich kann ihren Zustand nicht heilen. Aber dieser Don Carlos, er ist ein guter Mann. Ich kenne ihn schon lange und würde ihm bedingungslos vertrauen. Wenn es jemanden gibt, der Ihnen helfen kann, ist es der Don Carlos."
"Aber ausgerechnet Mexiko, das ist ja nicht gerade der nächste Weg. Trotzdem..."

So kam es, daß Herr Endres wenige Tage später in einem uralten Bus durch die mexikanische Sierra holperte, um einen Wunderheiler aufzusuchen, der scheinbar am Ende der Welt lebte. 'Hier ist ja nichts', dachte er, als er der draußen vorbeiziehenden Sierra zusah. 'Warum sucht sich dieser Don Carlos einen derart gottverlassenen Ort aus? Und dann noch in einem Indianerdorf, dabei ist er selbst gar keiner. Ich muß verückt sein, mich auf so eine Sache einzulassen.'
Als sein Blick auf seine ihm so fremd gewordene rechte Hand fiel, dachte er: 'Verrückt. Das wird es wohl sein.'

"Guten Tag. Sie sind also Don Carlos?"
Ohne aufzublicken, antwortete der im Halbdunkel der Holzhütte sitzende Mann:
"Der bin ich anscheinend. Komm herein."
Zögerlich trat Herr Endres in die Hütte, und sagte dann:
"Ich bin auf Anraten von Doktor Hoffmann hier. Sie kennen ihn doch... aus Deutschland. Er sagt, sie könnten mir vielleicht helfen."
"Dann setz dich hin und erzähl."
Herr Endres setzte sich. Der Mann, der ihm nun gegenübersaß, erschien ihm wenig vertrauenerweckend. Sein Gesicht war unrasiert und sonnengegerbt, die Haare lang und wild. Seine nach indianischer Art geschnittene Kleidung, die einst farbenprächtig gewesen sein mochte, war hundertfach geflickt und ausgeblichen. Nur seine Haarfarbe verriet, daß er nicht indianischer Abstammung sein konnte.
"Es ist schwierig zu erklären", fing Herr Endres an, "aber es erscheint mir, als ob sich Teile meines Körpers in... Maschinen verwandeln. Sehen sie, dieser Arm hier ist nicht länger aus Fleisch und Blut."
"Ich sehe schon, daß etwas damit nicht stimmt. Erzähl weiter."
Verblüfft fragte Herr Endres: "Sie... sehen es? Aber das kann doch nicht sein, diese Verwandlung ist doch nur eine psychische Störung, eine Einbildung!"
"Ich sehe nicht notwendigerweise das gleiche, was du siehst, aber gewisse Veränderungen bleiben mir nicht verborgen. Warte kurz."
Don Carlos stand auf und verschwand irgendwo in der zwielichtigen Tiefe der Hütte. Wenige Minuten später erschien er wieder, mit einem Becher in der Hand. "Trink das. Langsam.", forderte er Herrn Endres auf.
Argwöhnisch betrachtete Herr Endres die grünliche, schaumige Flüssigkeit, sah dann zu Don Carlos und fragte: "Was ist das?"
"Medizin. Trink jetzt."
In dem sicheren Bewußtsein, etwas furchtbar dummes zu tun, führte er den Becher an die Lippen und nahm vorsichtig einen Schluck. Er verzog den Mund. Carlos sagte verschmitzt:
"Es schmeckt furchtbar."
"Das tut es, und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß das irgendwie weiterhelfen soll. Können wir nicht..."
"Trink weiter. Aber schön langsam."
In vorsichtigen Schlucken leerte Herr Endres den Becher. Als er das leere Gefäß auf den Tisch stellte, krümmte sich das Universum, faltete sich selbst zusammen und machte Platz für etwas anderes. Etwas völlig anderes.

Mit heiserer, stockender Stimme fragte Herr Endres:
"Was passiert denn hier?"
Es erschien ihm absolut unwahrscheinlich, daß diese radikale Veränderung seiner Umgebung irgendwie mit der widerlichen Flüssigkeit zusammenhing, die er gerade getrunken hatte - und doch konnte es anders nicht sein. Sein Verstand schien stillzustehen, unfähig, diese fremdartigen Signale zu verarbeiten, die auf ihn eindrangen. Panik begann in ihm aufzukeimen. Er dachte: 'Die können doch nicht einfach das Universum umbauen, ohne mir vorher etwas davon zu sagen.'
Herr Endres befand sich in einem wabernden, organisch anmutenden Chaos aus dunkelgrünen Fasern, zwischen denen rote Objekte von unbegreifbarer Form herumschwebten. Es schien, als ob alle Dinge mehr als die üblichen drei Dimensionen hätten.
Wie aus einer anderen Welt drang die Stimme des Don Carlos zu ihm durch:
"Es ist alles in Ordnung."
Dieser einfache, beruhigende Satz half Herrn Endres, sich etwas zu fassen. Er fragte:
"Was haben Sie mir da gegeben, was haben zum Teufel was..."
Don Carlos wiederholte im gleichen Tonfall den letzten Satz:
"Es ist alles in Ordnung."
Doch dann war da plötzlich eine andere Stimme, oder vielmehr war es so: etwas sprach zu Herrn Endres, aber eigentlich war keine Stimme da. Die Worte existierten einfach so.
(Wer bist du?)
(Wie hast du es geschafft, hierher zu kommen?)
(Du solltest nicht hiersein.)
(Wenn du hierbleibst, stirbst du.)
Die letzten beiden Worte schienen sich echoartig und verzerrt in die Unendlichkeit fortzupflanzen. Plötzlich verknäulten sich die dunkelgrünen Fasern vor Herrn Endres zu einer Form, die vage menschlich, weiblich wirkte. Nun existierte zu den Worten plötzlich auch eine Stimme, die tonlos und seltsam vertraut zu ihm sprach:
(Was willst du?)
"Ich glaube ich bin hier... auf der Suche. Nach Heilung."
(Du veränderst dich. Etwas ist in dich eingedrungen.)
"Es ist so, daß ich mich langsam verwandle. In eine Maschine. Unaufhaltsam..."
(Du hast in deiner Welt viel mit Maschinen zu tun. Der Geist einer Maschine hat deine Seele berührt, dich infiziert.)
"Ja, ich habe mit Maschinen zu tun.. ich bin Elektriker. Aber ich will, daß es aufhört. Daß es wieder verschwindet."
(Das geschieht bereits in diesem Augenblick.)

Die Manifestation vor Herrn Endres verschwand so plötzlich, wie sie entstanden war. Das grüne Gewirr ordnete sich, veränderte seine Struktur und nahm schließlich die Gestalt von Herrn Endres' altbekannter Wirklichkeit an.
Voller Staunen, und immer noch sehr verwirrt, befühlte Herr Endres seinen Arm und stellte fest:
"Es hat funktioniert, es hat tatsächlich funktioniert! Ich bin wieder ein ganzer Mensch!"
Don Carlos beugte sich etwas vor und fragte:
"Was hat sie zu dir gesagt?"
"Sie sagte... der Geist einer Maschine sei in meine Seele eingedrungen."
Don Carlos nickte und sagte:
"Das pflegt zu passieren. Es scheint, daß ich dir eine Lektion in Wichtigkeit erteilen muß."
"Wichtigkeit?"
"Ja! Du mußt wissen: Das, was du 'Seele' nennst, ist ein sehr empfindsames Organ. Ein Organ des Verstandes natürlich, nicht physisch existent. Ich habe ein anderes Wort dafür, aber bleiben wir bei 'Seele': es paßt in dein Weltbild. Alles, was die Seele berührt, färbt auf sie ab und verändert sie. Nur wichtige Dinge sollten mit der Seele in Berührung kommen dürfen. Dinge, die für dein Leben von essentieller Bedeutung sind. Indem du etwas ernst nimmst, gestattest du dieser Sache, an deine Seele vorzudringen. Nimmst du etwas nicht ernst, verbleibt es in den äußeren Schichten deines Bewußtseins. Der Trick ist also, nur solche Dinge ernst zu nehmen, die tatsächlich Wichtigkeit besitzen. Laß die unwichtigen Dinge des Lebens nicht so sehr an dich herantreten, wahre die Distanz. Geh mit einer gewissen Diskretion durchs Leben. So kannst du dich vor unerwünschten Veränderungen schützen. Du kannst weiter an deinen Maschinen herumschrauben, aber merke dir: sie sind nicht wichtig."
"Was ist denn wichtig?"
"Das mußt du selbst herausfinden. Soviel Verstand traue ich dir schon zu."

Herr Endres sagte:
"Ich glaube, ich verstehe. Wenn ich also Maschinen nicht als wichtig betrachte, werden auch diese Einbildungen nicht wiederkommen."
Scheinbar erstaunt fragte Don Carlos:
"Wer sagt, daß das eine Einbildung war? Die Veränderung, die dir widerfahren ist, war auf einer abstrakten Ebene absolut real. Du hast es eben nur auf eine ungewöhnliche, sehr konkrete Art wahrgenommen: als Transformation in eine Maschine selbst. Ich bin erstaunt, daß du überhaupt etwas davon wahrgenommen hast, die meisten Menschen merken davon überhaupt nichts."
"Die meisten Menschen? Gibt es denn noch andere, denen so etwas passiert ist?"
"Du wirst staunen. Fast jeder, den du kennst, hat sich schon längst auf die ein oder andere Art in eine Maschine verwandelt. Kein Wunder, eure so hochgeschätzte Zivilisation ist ja voll davon. Und da es ja von einem Menschen erwartet wird, daß er innerhalb der Gesellschaft funktioniert, nicht daß er als Mensch lebt, wird diese Verwandlung im allgemeinen als positiv und produktiv empfunden."
"Ich muß zugeben, was sie da erzählen, ergibt Sinn. Aber eins müssen sie mir doch noch verraten: Was war denn nun in dem Becher?"
Schmunzelnd antwortete Don Carlos:
"Grüntee. Was du erlebt hast, ist nur aus dir selbst gekommen, nicht aus irgendeinem Getränk."
"Aber, wie ist das denn möglich?"
Don Carlos lachte.
"Das habe ich meinen geistigen Lehrer früher auch immer gefragt. Aber ich habe natürlich nur einen Witz gemacht, es war kein Tee. Es war der Saft aus den Blättern einer Pflanze, die wir das Kraut der Hirtin nennen."
Leiser und beinahe ehrfürchtig fuhr Carlos fort:
"Es ist heilig. Es hat Kraft. Aber trotzdem ist es nur ein Werkzeug, ein Schlüssel."
"Ein Schlüssel... wozu?"
"Du bist doch so versessen auf Maschinen, ich werde es dir erklären, daß auch du es verstehst. Wenn du, meinetwegen, in einem Schaltkasten ein Relais austauschen mußt, was tust du zuerst?"
"Ich öffne ihn. Ist schon klar, mit einem Schlüssel."
"Siehst du. Und wenn es eine Seele zu reparieren gilt, auch dann mußt du sie vorher öffnen. Dafür haben wir die heiligen Pflanzen."

Einige Zeit später saß Herr Endres wieder in dem heruntergekommenen Bus, zurück auf dem Weg in seine Heimat. 'Kann ich', so dachte er, 'jemals wieder so leben wie bisher? Mit diesem Wissen? Will ich das überhaupt?'
Und doch schien die Erinnerung an diesen seltsamen Schamanen in seiner finsteren Hütte bereits zu verblassen. Er betrachtete seinen rechten Arm aus Fleisch und Blut und spürte das Leben darin. Er sah aus dem Fenster, und sah Leben überall: was ihm auf der Herfahrt als karge Sierra erschien, empfand er nun als angefüllt mit der gewaltigen Kraft alles Lebendigen, die in jeder noch so kleinen Pflanze, jedem Tier, und jedem Menschen zu finden ist. 'Dies', entschied er, 'ist wichtig.'

Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.

 

Hallo LeManiac,

wow, was ne schöne Geschichte! :thumbsup:
Was mich am meisten beeindruckt hat, war die in ihr liegende Aussage und diese Passage ist ausnehmend gut gelungen:

Ja! Du mußt wissen: Das, was du 'Seele' nennst, ist ein sehr empfindsames Organ. Ein Organ des Verstandes natürlich, nicht physisch existent. Ich habe ein anderes Wort dafür, aber bleiben wir bei 'Seele': es paßt in dein Weltbild. Alles, was die Seele berührt, färbt auf sie ab und verändert sie. Nur wichtige Dinge sollten mit der Seele in Berührung kommen dürfen. Dinge, die für dein Leben von essentieller Bedeutung sind. Indem du etwas ernst nimmst, gestattest du dieser Sache, an deine Seele vorzudringen. Nimmst du etwas nicht ernst, verbleibt es in den äußeren Schichten deines Bewußtseins. Der Trick ist also, nur solche Dinge ernst zu nehmen, die tatsächlich Wichtigkeit besitzen. Laß die unwichtigen Dinge des Lebens nicht so sehr an dich herantreten, wahre die Distanz. Geh mit einer gewissen Diskretion durchs Leben. So kannst du dich vor unerwünschten Veränderungen schützen. Du kannst weiter an deinen Maschinen herumschrauben, aber merke dir: sie sind nicht wichtig."

Puh, da hats mich richtig gekribbelt und das tut es meist, wenn mir etwas sehr gefällt. :)

Nicht so gut hat mir dein Schreibstil gefallen, er hätte geschmeidiger klingen können. Deine Protagonisten reden, wie z.B. die Anfangsszene etwas sehr gewollt miteinander. Diese Unterhaltung fließt nicht so richtig, sondern man merkt als Leser, dass du Informationen unterbringen willst und den Plot aufbauen willst. Das ist nicht so gelungen, es wirkt teils etwas hölzern.
Auch die Zweifel, die dein Protagonist bei seiner Reise hat, sind eigentlich nicht so arg wichtig. Viel wichtiger wäre mir, dass es rasch und eigentlich ohne Umschweife zu der Szene mit dem Mexikaner kommt. Da kannst du noch wesentlich dichtere und mehr Atmosphäre aufbauen. Dieser Mann darf noch mehr Leben bekommen, darf noch mehr Faszination ausstrahlen. Da liegt immerhin der Schwerpunkt deiner Geschichte.


Und der letzte Satz ist schön, aber er passt nicht dorthin. Nicht ans Ende.

Achso und dann bringst du in der wörtlichen Rede zwar "Ihnen" richtig zustande, aber "sie" müsste dann auch immer groß geschrieben werden bitte.

Deine Geschichte hat mir trotz der von mir beschriebenen Mängel gefallen, aber, wie ich schon anfangs sagte, wegen ihrer wunderbaren Aussage.

Lieben Gruß
lakita

 

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