Was ist neu

Die Herbstzeitlose

Mitglied
Beitritt
13.09.2007
Beiträge
302
Zuletzt bearbeitet:

Die Herbstzeitlose

Agnes Iglkraut ist das sonnigste Wesen, welches ich kenne. Dennoch ist sie meine Seelenverwandte. Soeben öffnet sich das Haus - Agnes erscheint.
In der Linken den Weidenkorb und in der Rechten den Stock trippelt sie in den Garten. Wie immer begrüßt sie mich, die Herbstzeitlose, zuallererst: "Guten Morgen Teufelskrokus. Schau, ich war beim Friseur. Purpurrosa, hab ich gesagt. Bitte färben Sie mein Haar purpurrosa! Herr Safran hat vielleicht geschaut."
"Noch bin ich eine Nackte Hur", wispere ich neidisch.
"Warte bis der Herbst kommt, Teufelskrokus. Dann blühst Du purpurrosa." Agnes lässt mich stehen und trippelt zur Leonurus cardiaca, dem Herzgespann. Diese ist die älteste und höchste Staude des Gartens. Doch Agnes überragt sie um Blatteslängen. "Morgen Herzige!", pflückt sie weißrosa Blüten in den Korb. Agnes geht weiter zur Chelidonium majus, dem Schöllkraut. Sie legt den Stock bei Seite, holt das grüne Kissen aus dem Korb und kniet sich ächzend darauf. Jetzt stellt sie den Korb ab, entnimmt ihm die Dechsel und das Messer. "Morgen Goldige, ich brauch ein Stück von Dir", gräbt sie die Gelbblütige samt Wurzel aus. Seufzend geht Agnes in die Hocke. Sie legt Pflanze, Werkzeug und Kissen in den Korb, stützt sich am Stock in die Höhe und trippelt zur neben mir stehenden Gartenbank. Agnes stellt den Korb ab und legt das Kissen auf die Bank. Endlich beugt sie sich zu mir herab: "Ich bin schon alt, aber meine Augen sehen noch gut. Noch kann ich Dich von Deinen Doppelgängern unterscheiden", pflückt sie ein paar Blätter vom mir nahe stehenden Bärlauch. Agnes geht zur Bank zurück, hängt den Stock an die Rückenlehne und setzt sich aufs Kissen. Sie schaut zu mir, zum Bärlauch in ihrer Hand und wieder zu mir. Nickend legt sie das Grün in den Korb und greift sich das Schöllkraut. Agnes bricht den Stängel ab, legt die Wurzel in den Korb zurück. Nun spreizt sie die dürren Finger der linken Hand und beträufelt ihre Warzen mit dem milchig-gelben Pflanzensaft.
"Iris hat geschrieben", bemerkt sie nebenbei. "Gestern kam die Karte: Schöne Grüße aus Mallorca. Es geht uns gut. Das Essen ist vorzüglich. Heute, am 29. Mai 2009, haben wir uns in der Kathedrale Santa Ana das Ja - Wort gegeben. Herzlichst! Iris und Rüdiger Maiglöckchen. PS.: Papa hätte sich nur aufgeregt."
"Deine Tochter ein Maiglöckchen", zische ich.
Agnes Iglkraut richtet sich kerzengerade auf, schüttelt die rosa Locken und donnert: "Iris Maiglöckchen ist doch kein Name!"
"Convallaria majalis!", füge ich hinzu.
Agnes' Mund zuckt, ihre Augen regnen: "Das ist kein Name", schnieft sie.
"Agnes!"
Agnes schaut zum Haus: "Er ist wach."
"Hunger!", schreit das Haus wieder.
Agnes wendet sich mir zu: "Früher war er mein wilder Bär."
"Ramser", zische ich.
"Und jetzt..."
"Ich lieg nass", brüllt das Haus, "Dreckspisse!", brüllt es lauter.
"Er stinkt", flüstert sie.
"Wurmlauch, Hexenknoffel", pflichte ich ihr bei.
"Wo bleibst Du, Alte, taube Nuss", plärrt das Haus.
"Gehört auf den Gottesacker!", gifte ich.
Agnes beugt sich zu mir herab. Sanft streichelt sie meine grünen Blätter.
"Agnes komm jetzt!", heult das Haus. "Ich hab Schmerzen."
"Ein Blatt von mir und Du bist ihn für immer los", säusele ich.
Agnes schaltet das Hörgerät aus.
"Noch sehen meine Augen gut", lächelt sie und greift zum Bärlauch.

 

Salve Damaris,

Du wählst für Deinen Text eine ungewöhnliche Perspektive - die einer Gartenpflanze - wirklich seltsam ist er deswegen nicht. Was nicht heißt, dass er schlecht ist. Nein, er gefällt mir.

Dass die alte Dame sich die Haare rosa färben lässt, einen Pflanzennachnamen hat (ebenso wie ihre Tochter, die in eine weitere Pflanzenfamilie einheiratet), mutet eher albern oder passend für eine Kindergeschichte an, stört aber nicht im Allerernstesten.

Das plärrende Haus gefällt mir, auch die zarte Andeutung zum Schluss, dass Agnes eines Tages das plärrende Haus möglichwerweise satt hat, und im Garten ein klein wenig daneben greift - schließlich werden die Augen schlechter ;).

Ein defätistischer Gedanke beschleicht mich jedoch zum Schluss: eines Tages wird möglicherweise auch Agnes pflegebedürftig werden. Ob dann Maja in Überlastung zu ihrem Maiglöckchengift greift?

Ach ja: nach eingebetter wörtlicher Rede kommt ein Komma, auch wenn die wR mit einem Satzzeichen endet.

LG und schönes WE

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Damaris,

:) Das hat Spass gemacht. Fand ich sehr einfallsreich. Anfangs brachten mich allerdings die Pflanzennamen der Menschen recht durcheinander. Ich wusste nicht, wer jetzt Pflanze und wer nicht ist. Die lateinischen Pflanzennamen am Anfang stören meiner Ansicht nach den Lesefluss - fand ich überflüssig. Nur im Dialog über die Maiglöckchentochter fand ich's angebracht.

Sehr gelungen fand ich, wie der Mann dargestellt wurde, vom Kraut empfunden. (wurde zwar schon gesagt..)

Dank Dir für den Ausflug in den Garten.

Liebe Grüsse

Elisabeth

 

Guten Abend liebe Pardus, liebe Elisabeth.
Danke für Euer Interesse an meiner Geschichte. Ich habe aus Euren Antworten Lesevergnügen herausgehört, das freut mich riesig!
Die Geschichte habe ich für eine Lesung im Botanischen Garten geschrieben. Es hat mir große Freude bereitet, Pflanzen und Menschen unter dem gemeinsamen Nenner "Lebewesen" zu verknüpfen. Dieser Störfaktor Haus, der nie vom Garten gesehende, bettlägrige Ehemann Agnes', hat gewisse Ähnlichkeit mit dem Bärlauch. Dieser, sowie Maiglöckchen und Safran (eine Krokusart) sind zu verschiedenen Zeiten Doppelgänger der Herbstzeitlosen, wobei nur der Bärlauch (wilder Knoblauch) ungiftig ist. Agnes wiederum ist die Herbstzeitlose in menschlicher Form. Sie lebt im Herbst ihres Lebens. Die Herbstzeitlose ist, in Minidosis präzise angewendet, heilend. Die anderen Gartenpflanzen sind ebenso heilend und giftig. Pflanzen und Menschen vereinen gut und böse in sich - auf die "Dosierung" kommt es an.
Sorry, aber die lateinischen Pflanzennamen finde ich sprachlich so schön, dass ich nicht darauf verzichten möchte. Außerdem glaube ich, dass Pflanzen auf Latein miteinander kommunizieren. Die Herbstzeitlose hats nur für uns Menschen eingedeutscht ;-)
Tja, was passiert, wenn Agnes nicht mehr so gut sieht und auch der Rest langsam das Bächlein runter fließt?
Sonnige Grüße sendet Euch Damaris :-)

 

Hallo Damaris,

das war mal ein Lesevergnügen der etwas anderen Art, der blumigen nämlich :).

Da ich einen Garten habe und Blumen mag, hast Du mit Deiner Geschichte mitten in mein Gärtnerherz getroffen, außerdem finde ich die Idee super. Ich könnte mir die Geschichte wirklich toll in einem Botanischen Garten oder im Rahmen einer Gartenschau vorstellen.

Gerade die außergewöhnliche Perspektive hat mich gereizt und das blärrende Haus, super! Auch die Möglichkeiten, die den Damen bleiben, sich des Einen oder Anderen zu entledigen. Da bleiben viele (mehr oder weniger) nette Interpretationsmöglichkeiten offen, das gefallt mir.

Gerne gelesen und liebe Grüße
Giraffe :)

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom