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Die Hinterbliebenen

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18.08.2002
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Die Hinterbliebenen

Ich knie mich auf den Boden, und sehe immer noch ratlos und leer auf euer Angesicht. Ich streiche über eure Haut, und lasse die Erde aus meinen Fäusten rieseln. Streichle euch das Haar, höre den Moosfarn unter meinen Händen knistern.

Danke, dass ihr Sekundenjahre mit mir teilt.

Vergissmeinnicht für dich, Anna, obwohl mehr als Appell an mich selbst gedacht, nie dein Lachen, deine samtene Stimme und deinen unglaublichen Sinn fürs Praktische zu vergessen.
Eine rosafarbene Primel für dich, Yvonne, die du mit sonderbarer Anmut und Zielgerichtetheit erwachsen werden wolltest.
Eine größere, kräftig Gelbe für Louis, sozusagen zum Ausgleich für dein kurzes, doch hoffnungsvolles Leben.

Was für Jahre hatten wir gemeinsam, und doch, je mehr ich mich an sie zu erinnern versuche, desto weniger kann ich es.
„Hol Wasser!”, sage ich dem, der dort auf der Bank kauert. Doch ich wende den Blick nicht ab von den Buchstaben, die metallen in Stein gemeißelt, aber in unfassbarer Ferne vor meinen Augen tanzen. Ich sammle den Unrat von eurem Bett, entferne sorgfältig das Wildkraut. Die Kanne kommt, ich begieße euch mit Tränen.

Und ich harke Wellenlinien um das Grab, davor ziehe ich mit dem Jätenstiel eine tiefe Gerade, von dieser aus Striche seitwärts. Ich gehe an ihr entlang und schließe die Augen: Die Holzbalken des Kais knarren unter meinem Gewicht, der Wind streift um meine Schläfen und ich sehe, durch den dichten Nebel, ein Schiff uns abholen kommen.

„Wir gehen”, sage ich zu David. Ich tue mich schwer, ihm in die Augen zu sehen. Nebeneinander gehen wir zum Parkplatz, auf uns hängt der graue Himmel herab. An jenem Tag war ein Sonnenschein, der den Asphalt in der Ferne spiegeln ließ. Wir sangen Unsinn, sahen uns im Geiste schon an pommerschen Stränden dösen.
Ich hätte David kein Piratentuch kaufen dürfen.

War es Eifersucht?
War es Spaß, eine kleine Überraschung?

Vorm Wagen bleiben wir stehen und sehen uns an. Ich sehe die ersten Tränen aus seinen Augen kommen, das Kinn, wie es zittert, wie sich die Mundwinkel verziehen. Wohl habe ich unbewusst eine Geste gemacht, als er mir jäh in die Arme fällt und das Gesicht an meinen Mantel presst.
Es ist Zeit, ihm zu vergeben. Er ist schlicht dem Übermut anheim gefallen, als er mir vom Rücksitz aus das Tuch um die Augen schlang. Auch mir schießen die Tränen in die Augen und ich pflüge ihm mit der Hand durchs Haar. „Es tut mir leid”, sage ich mühsam. "Ich vergebe dir ... vergebe dir."
Und ich weine.

Wir sind aller Tränen frei; steigen ein. Nach einer Stille wende ich mich zu ihm. „Du würdest sie gern wiedersehen, nicht wahr?”, frage ich und staune, dass er groß nickt, wie auf das Angebot eines Eisbechers, damit das Knie wieder heilt.
„Ich auch”, antworte ich; erlaube mir ein kleines Lächeln und starte den Motor.

[highlight]Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE (s. Profil)[/highlight]​

 

Hallo Floh,

das Wort Familie müsste ja gar nicht auftauchen. Es würde schon reichen, wenn du Anna etwas intimer beschreiben würdest, so dass klar wird, dass sie seine Frau war und die Mutter seiner Kinder.

Aber das kommt immer darauf an, mit welchen Gedanken man an diese KG drangeht. Ich erlebte eben schon solch' eine traurige Geschichte, dass ein Auto voll mit jungen Menschen tödlich verunglückt sind; dadurch sind meine Gedanken automatisch in diese Richtung gegangen.


Lieber Gruß
bernadette

 
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Hallo Floh,

deine Geschichte hat mir insgesamt nicht schlecht gefallen. Der Titel hätte mich allerdings normalerweise abgeschreckt: Klingt nach Larmoyanz, und ganz falsch liegt man mit dieser Vermutung auch nicht.

Was mir gut gefallen hat:
+ Teils sehr schöne Sprache (z.B. auf uns hängt der Himmel herab, der mir völlig neue "Jätenstiel")
+ Interessante Gedanken (Vergissmeinicht - mehr als Apell an mich gedacht)
+ Die Pointe sitzt

Was mir weniger gefallen hat:
- Ein Sprachschnitzer (Ich setze mich auf die Knie) und ein paar larmoyante Stellen (das Grab als "ewiges Bett", ich begieße euch mit Tränen, "von Herzen")
- Die Handlung wirkt etwas konstruiert (Ich vermute, es war ein Schleuderunfall, also wahrscheinlich Frontalaufprall, dann ist es seltsam, dass gerade der Fahrer überlebt)
- Mein Haupteinwand: Es gibt nichts, was über die Story hinausweist. Was wäre die Prämisse der Story? Kauf deinen Kindern keine Piratentücher?

Wie gesagt, insgesamt nicht schlecht.

Grüße,
dein Mit-Gatherer Stefan

P.S.:
Ich dachte sofort an eine Familie, an einen Sohn. Wahrscheinlich wegen dieses Satzes:
Doch ich hätte David kein Piratentuch kaufen dürfen.
Piratentuch - da dachte ich an ein Kind.

 

Hallo Floh,

auch mir hat deine Geschichte gut gefallen. Beeindruckend fand ich es, wie du die Personen mittels der Blumen und wenigen kurzen Sätzen so genau charakterisierst. Deinen Stil fand ich auch richtig gut und vor allem auch sehr passend zur Geschichte: Unaufdringlich, poetisch und trotzdem ohne zu viele sinnlose Worte, die die Trauer zerreden.
Die Pointe hat mich am Ende schon vom Hocker gehauen. Ich weiß nicht, ob mir die so gut gefallen hat. Für mich hätte es gereicht, dass zwei Jungs das Grab ihrer verstorbenen Freunde besuchen. Das ein Unfall im Spiel war, ist ja klar - wie sonst hätten sie "zusammen" sterben können.

Das der Fahrer den "Scherz" tatsächlich verzeihen kann, ist für mich irgenwie unvorstellbar. Sicherlich dachte David nicht an so schlimme Folgen, aber so etwas zu tun ist trotz allem sehr, sehr fahrlässig und einfach dämlich. Selbst wenn es nur mit einem Blechschaden ausgegangen wäre. Ich weiß nicht, ob ich das könnte.

LG
Bella

 

Wow, danke Euch beiden fürs Lesen und Kommentieren.

Stefan: Danke für die Plus- und Minuspunkteliste. Hm, die Sprachschnitzer will ich mir nochmal ansehen, vor allem "sich auf die Knie setzen" ist wahrhaftig fast eine Stilblüte. Die Larmoyanz: Ja, mag sein. Als ich die Geschichte schrieb, war ich anders gelaunt als jetzt. Aber ich stehe auch heute zu ihr und auch zu ihrem eher rührseligen Charakter.

Was wäre die Prämisse [Moral?] der Story? Kauf deinen Kindern keine Piratentücher?
Die Moral ist Teil der Interpretation und die wiederum ist Sache des Lesers. ;) Ich kann dir meine "Deutung" verraten, aber nur wenn du wirklich möchtest (via PM).

Bella: Danke fürs Lob. Zu der Pointe hab ich zeitweilig selbst gespaltene Gefühle gehabt.
Es ist ja offen, ob es wirklich nur ein Scherz bzw. Übermut war, oder ob mehr dahintersteckte. Die Figuren haben sich nie darüber ausgesprochen - so redet sich der gemeine Autor mal heraus - oder zumindest müssen wir Leser davon nichts wissen. Zu Davids Fahrlässigkeit möchte ich sagen, dass er in seinem Alter und seiner Verfassung vielleicht noch gar nicht recht abmessen konnte (geschweige denn überhaupt nachgedacht hatte), was er da tut, zumal er eine durchaus naive Sicht auf das Autofahren hat.
(Außerdem ist es sein Sohn, und kein Fremder. Aber da das in unserer Gesellschaft sowieso keine große Rolle zu spielen scheint, sei das mal in Klammern gesetzt.)


FLoH.

 

Hallo FloH!

Hut ab! Sowohl Stimmung als auch Charaktere der "Grabpflegenden" sind bildreich und eindringlich beschrieben. Gerade der poetische Stil verstärkt die Wirkung auf den Leser und nimmt dem tragischen Schluss etwas von seiner Härte.

Was die Einschätzung der Beziehung zwischen den Beiden betrifft, erging es mir übrigens wie Stefan: ich dachte ebenfalls an eine Familie. Diesen, anderen Kritikern noch unklaren Umstand könntest Du jedoch durch Einflechtung eines kleinen Hinweises (s. bernadette) noch verdeutlichen.


Ciao
Antonia

 

Uiuiui, so baut ihr mich auf. Danke auch Dir, Toni, fürs Lesen und das Lob. Vielleicht wäre es doch besser, Anna einen Tick näher, "intimer" zu beschreiben, so war es doch sie, mit der das nun zerstörte Familienglück erst seinen Lauf nahm. Ich mache das, wenn mir etwas Gescheites dazu einfällt; so auf Teufel komm 'raus etwas hinzuzufügen - lieber nicht.

FLoH.

 
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Hallo.

Ich streiche über eure Haut, und lasse die Erde aus meinen Fäusten rieseln.
Da schließe ich mich Woltochinons Kritik an. Zuerst dachte ich, es geht um irgendwelche aus Erde gebaute Monster.
Streichle euch das Haar, höre den Moosfarn unter meinen Händen knistern.
Farn knistert nicht.
Danke, dass ihr Sekundenjahre mit mir teilt.
Unverständlich. Findet keine Entsprechung im übrigen Text.
Wir sangen Unsinn, sahen uns im Geiste schon an pommerschen Stränden dösen.
Doch ich hätte David kein Piratentuch kaufen dürfen.
Wirkt komisch. Warum kein Arafattuch?

„Es tut mir leid”, sage ich mühsam. "Ich vergebe dir ... vergebe dir."
Und ich weine.
Wir sind aller Tränen frei.
Schwülstig.

Gruß
marquee

 
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Tschui, das war nicht eben originell von dir, schon hinlänglich unter der Wendung "Wie du mir so ich dir" bekannt. Aber ich habe in gewissem Sinne draus gelernt ;).

Danke fürs Raufholen,
FLoH.

 

Daß ich mir jetzt eine deiner Geschichten vornehme, war doch klar. Warum du das jetzt als Retourkutsche bezeichnest, ist mir indes ein Rätsel. Geh doch mal auf meine Kritik ein, statt dir etwas einzubilden.

Gruß

 

Daß ich mir jetzt eine deiner Geschichten vornehme, war doch klar.
Ja, wie gesagt: Wie du mir so ich dir, ein Verhaltensmuster, das ein halbwegs integerer Mensch irgendwann über Bord wirft. Ein halbwegs integerer Mensch hätte mir stattdessen gesagt, meine Kritik wäre unkonstruktiv (denn das war sie, tschui :( ), er könne damit nichts anfangen, und ich hätte ein schlechtes Gewissen gehabt.

Warum du das jetzt als Retourkutsche bezeichnest, ist mir indes ein Rätsel.
Rätsel sind nunmal dazu da, gelöst zu werden; keine Angst, davon wird man nur klüger ;).

Geh doch mal auf meine Kritik ein, statt dir etwas einzubilden.
Nein. Du weißt warum. Und wenn dir auch das ein Rätsel ist - du kennst meinen Rat.


FLoH.

 
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Du bildest dir immer noch was ein.

Ja, wie gesagt: Wie du mir so ich dir, ein Verhaltensmuster, das ein halbwegs integerer Mensch irgendwann über Bord wirft. Ein halbwegs integerer Mensch hätte mir stattdessen gesagt, meine Kritik wäre unkonstruktiv (denn das war sie, tschui ), er könne damit nichts anfangen, und ich hätte ein schlechtes Gewissen gehabt.
Du siehst das zu schematisch. Wie ich mich verhalte, das mußt du schon mir überlassen. Aber der Rachegedanke - oder die Racheunterstellung - stammt eindeutig von dir. Übrigens kann man dir anscheinend leicht ein schlechtes Gewissen machen.
Ich meine, vielleicht bin ich ja nicht integer, aber auch damit habe ich kein Problem.
Gruß :)
marquee

 

Wie streiten sich Kinder auf hohem Niveau?

Hey floh, hey marquee, das könnt ihr doch bestimmt´per PN lösen. :)

Lieben Gruß, sim

 

Hallo FloH,
mir ist aufgefallen, dass ich zwar mit dir gechattet habe, aber deine Geschichten gar nicht kenne, und deshalb habe ich mir diese mal herausgesucht. Ein Glücksgriff, oder sind alle deine Geschichten so gut?

Aber dann denke ich wieder, Gott, da hat jemand seine Familie verloren, und verantwortlich dafür ist sein eigenes Kind, dass er weiterhin lieben wollte, aber nicht kann.
Ein schwieriges Thema, schön geschildert, aufwühlend. Der neue Titel passt gut, die Beschreibung der passenden Blumen ist selbst für mich Friedhofsmuffel ansprechend.

Allerdings habe ich auch, wie Sim, beim Schluss geschluckt; das wäre doch eine Möglichkeit des Neuanfangs, die im Keim erstickt wird. Allerdings, es ist ja deine Geschichte, und ich bin schon ruhig.

Gruß, Elisha

 
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Hi Elisha :).

Erstmal herzlichen Dank fürs Lesen und Gutfinden. Und, du wirst es nicht glauben, du hast nicht nur mit mir, sondern auch ich habe mit dir gechattet. Heißt das jetzt ...? ;)

Allerdings habe ich auch, wie Sim, beim Schluss geschluckt; das wäre doch eine Möglichkeit des Neuanfangs, die im Keim erstickt wird. Allerdings, es ist ja deine Geschichte, und ich bin schon ruhig.
Du brauchst nicht ruhig sein, ich gönn dir als meine Kritikerin schon etwas Selbstbewusstsein :D. Ich habe das Ende noch ein Stückchen in Richtung Offenheit gedämpft. Vielleicht kann man so schon einen Neuanfang hineindeuten?
Jedenfalls sträubt es sich immer noch in mir, wenn ich ein happy end in Erwägung ziehe.

edit: Oh, da fällt mir gerade ein, dass ich ja am Ende rumschustern kann wie ich lustig bin, bei dem Titel wird der unbedarfte Leser ewig denken, dass der Vater ihr beider Leben nimmt, oder?

FLoH.

 

Hallo FloH,

Und, du wirst es nicht glauben, du hast nicht nur mit mir, sondern auch ich habe mit dir gechattet. Heißt das jetzt ...?
___:D___

Naja, mit dem Ende hast du Recht. Jetzt ist es zwar offener - beide wollen die Toten wiedersehen - könnte ja heißen, dass sie einfach Sehnsucht haben. Aber zusammen mit dem Titel kommt man doch nur zu einem Schluss.

Gruß, Elisha

 

Lieber FLoH!

Eigentlich wollte ich die Kritik ja rechtzeitig zu Deinem Geburtstag fertig haben, das ging leider nicht, trotzdem hier noch einmal alles Gute! :)

Das ist zwar eine sehr traurige Geschichte, die ich mir da zu Deinem Geburtstag ausgesucht habe, aber bis auf eine SF- und eine Kindergeschichte hab ich alle Deine Geschichten schon gelesen. :)

Gefallen hat mir diese jedenfalls gut; auch, wenn ich mit Deiner Intention nicht so ganz klarkomme.

Erst einmal was zur Schuldfrage: Bei Euch ist es doch auch Pflicht, so kleine Kinder (ich denke, er ist maximal fünf, allerhöchstens sechs, am ehesten halte ich ihn für ca. vier) in Kindersitze zu setzen? Wäre der Sohn da drin gesessen, hätte er das mit dem Piratentuch bestimmt nicht machen können (versuch das mal vom Rücksitz aus in sitzender Position und denke Deine Arme dabei kürzer). Somit sehe ich die wahre Schuld beim Vater (bzw. beiden Eltern), der sie aber (auch vor sich selbst) verleugnet, und daher hätte mir der ursprüngliche Titel »Ironische Unschuld« sehr gefallen.

Aber das mit dem Kindersitz fiel mir auch erst eine Weile nach dem Lesen ein. ;-)
Zuerst verstand ich es so, daß der Vater nur seine eigene Trauer sah, dem Sohn aber aufgrund der »Schuld« keine Trauer zugestehen wollte, ihn sogar fast ignorierte. Aber gegen Schluß kam er dann doch seinem Sohn wieder näher, verzieh ihm und erkannte schließlich sogar, daß er ihm Unrecht tat („Es tut mir leid“). In der Frage, ob er sie gern wiedersehen würde, sah ich endlich die Anerkennung der Trauer des Sohnes durch den Vater, und schließlich durch das Starten des Motors das Fortsetzen des Lebens, das Starten des gemeinsamen weiteren Weges.
Also ich würde schreiben: »Wir steigen ein, David nun immer im Kindersitz.« – Auch deshalb, weil ich den Jungen keinesfalls für zwölf Jahre halte, und vorher darf er ja nicht vorne sitzen.

Der aktuelle Schluß ist zwar offen, trotzdem will ich hierzu noch was sagen:

Doch das Problem ist eben, das sich der Freitod dem Schreiber so frech als einziges Motiv aufdrängt, genauso wie dem "Versager" im richtigen Leben als einzige Lösung. Zumal es tatsächlich bessere geben kann/gibt.
Das Problem ist, daß diese Schreiber dann eben nur einen Teil ihres Protagonisten sehen. Sie sehen nicht, daß dessen Leben aus mehr besteht, als aus den von ihnen geschilderten Szenen, und daß ein realer Mensch auch einen Selbsterhaltungstrieb hat (der beim Schreiber natürlich nicht einsetzt, da er ja nicht wirklich in der Situation ist), der zum Glück in den meisten Fällen wirkt. Und nebenbei verfügt der menschliche Geist auch noch über ganz andere Mittel, um solche Situationen wie die hier erzählte zu überstehen. Selbstmord ist nur für Autoren so aufdringlich; für sie ist es der leichteste Weg, denn sie selbst behalten ihr Leben ja und die Geschichte haben sie damit auch schneller fertig, als wenn sie den Protagonisten mit sich kämpfen und die Probleme in den Griff kriegen lassen (aber ich weiß, daß Du das eigentlich eh weißt ;-)).

Und ich harke Wellenlinien um das Grab, davor ziehe ich mit dem Jätenstiel eine tiefe Gerade, von dieser aus Striche seitwärts. Ich gehe an ihr entlang und schließe die Augen: Die Holzbalken des Kais knarren unter meinem Gewicht, der Wind streift um meine Schläfen und ich sehe, durch den dichten Nebel, ein Schiff uns abholen kommen.
Hier hab ich zwar kurz gerätselt, auf Dein Schiff bin ich aber nicht gekommen. Den kursiven Satz habe ich als Erinnerung an das vor dem Unfall Erlebte gesehen, und die Zeichnungen um das Grab als melancholisches, nachdenkliches Tun (er hätte ja z. B. auch Blumensamen hineinstreuen können, nachdem er die Verstorbenen schon alle mit Blumen verglichen hat – eine Blumeninsel mit den drei Blumensorten und in der Mitte das Grab ;-)).

Was das Erkennen der Rollen betrifft, hatte ich aber keine Probleme. Schon bei der blumigen Beschreibung hatte ich den richtigen Verdacht, der sich beim Piratentuch bestätigt. Wer sagt schon über seine Freunde Dinge wie »die du mit sonderbarer Anmut und Zielgerichtetheit erwachsen werden wolltest«? :shy:

Aber dann denke ich wieder, Gott, da hat jemand seine Familie verloren, und verantwortlich dafür ist sein eigenes Kind, das er weiterhin lieben wollte, aber nicht kann. Diesem persönlichen Zwiespalt wollte (und musste) ich eine Richtung, eine Entscheidung geben, damit die Geschichte nicht "eiert". Es gibt zwei: Vergeben, Abschließen und Weiterleben oder (Vergeben und) Fliehen. - Ich hätte auch die Münze werfen können.
Vielleicht ist er im Grunde seines Herzens aber trotz allem auch froh, daß ihm wenigstens eines seiner Kinder geblieben ist? ;-)
Und »verantwortlich«: Der Vater mag es im Moment der Trauer so sehen und für die Gefühle des Kindes blind und taub sein, aber als objektiv betrachtender Mensch, der nicht solchen Gefühlen wie der Vater ausgesetzt ist, kann ich nicht sagen, das Kind sei verantwortlich – nicht umsonst wird man vor dem Gesetz erst mit 14 strafmündig: Weil Kinder eben gewisse Gefahren und deren Folgen nicht oder nur mangelhaft abschätzen können – man kann ihnen keine Verantwortung für Dinge geben, die sie erwiesenermaßen noch nicht können.
Daß trotzdem manche Kinder lebenslang für etwas bestraft werden, das man ihnen gar nicht anlasten kann, will ich damit natürlich nicht bestreiten. Solche Eltern strafen dann strenger als das Gesetz – das kann keine Liebe sein. Und deshalb hab ich auch bei der Sichtweise, wie Du die Geschichte dachtest, keinerlei Mitgefühl mit dem Vater und seinem »Zwiespalt«, sehe viel mehr, wie schwer es der Junge hat, weil er genauso den Verlust verkraften muß, nicht einmal in seiner Trauer ernst genommen wird, und zudem auch noch schuldig gesprochen wird – was man auch mit einem »Ich vergebe dir« ganz gut aussprechen kann.

Nicht, daß Du das jetzt als negative Kritik auffaßt – ich finde es sehr positiv, daß mich die Geschichte zum Nachdenken anregt, und das tut sie. Stil und Aufbau finde ich ebenfalls gelungen. :)

Nichts anfangen konnte ich damit:

Danke, dass ihr Sekundenjahre mit mir teilt.
An wen ist das gerichtet? An die Moosfarne? :susp: Wenn es sich an die Verstorbenen richten soll, wäre dann nicht »geteilt habt« angebracht? Der Begriff »Sekundenjahre« erscheint mir auch etwas seltsam, soll er bedeuten, daß in der Erinnerung Jahre zu Sekunden schrumpfen? Und wie ist das dann in Verbindung mit dem Danke zu sehen? (Danke, daß die Jahre mit euch jetzt nur mehr Sekunden sind? :D)

Und gleich weiter im Text:

»Streichle euch das Haar, höre den Moosfarn unter meinen Händen knistern.«
– würde den Artikel vor »Moosfarn« streichen

»Vergissmeinicht für dich, Anna,«
– Vergissmeinnicht

»Eine größere, kräftig Gelbe für Louis,«
– würde hier auch einen Blumennamen einsetzen

»Solche Jahre hatten wir gemeinsam,«
– worauf bezieht sich »Solche«?

»Die Kanne kommt, ich begieße euch mit Tränen.«
– finde das mit den Tränen hier unpassend, weil man doch schon die Kanne im Bild hat (und in der sind keine Tränen drin). Würde dieses »Die Kanne kommt« allein stehen, wäre das viel wirkungsvoller, weil es besonders deutlich macht, wie sehr der Vater den Sohn ignoriert. Wenn danach ein Satz käme, in dem sein Selbstmitleid mehr rauskommt (versinke in Tränen, z. B.), würde mir das besser gefallen.

»und ich sehe, durch den dichten Nebel, ein Schiff uns abholen kommen.«
– besser ohne Beistriche

»An jenem Tag war ein Sonnenschein, der den Asphalt in der Ferne spiegeln ließ.«
– das »ein« vor »Sonnenschein« will mir nicht so recht gefallen, Vorschlag: An jenem Tag schien die Sonne so stark, dass der Asphalt … (mit dem »spiegeln« hab ich auch irgendwie ein Problem, halte das für den falschen Ausdruck)

»Doch ich hätte David kein Piratentuch kaufen dürfen.«
– würde das »Doch« weglassen

»und staune, dass er groß nickt wie auf das Angebot eines Eisbechers, damit das Knie wieder heilt.«
– nickt, wie
– was macht der Eisbecher denn für ein Angebot? ;-)


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Herzlichen Dank für die Allesgutewünsche und die Kritik, Susi :).

Tja, der Kindersitz - da hätte ich mich wohl vorher schlauer machen müssen. Ich hab mich aber nun unter www.autokindersitz.at kundig gemacht. Für Schalensitze mit eigenem, evtl. abgesichertem Gurtsystem ist David mit sechs Jahren zu alt, für Kinder wie ihn dient der Kindersitz glaube ich nur noch dazu, dass der normale Gurt im Ernstfall nicht ihre Kehle zerschneidet.
Es ist daher denkbar, dass er sich für seine Aktion abschnallte und der mitsingende Vater das Klicken des Gurtschlosses, was ihn vorgewarnt hätte, nicht gehört hat ... Aber egal wie ich mich gerade bemühe den Plot zu rechtfertigen, undurchdacht ist er hier auf jeden Fall.

Und nebenbei verfügt der menschliche Geist auch noch über ganz andere Mittel, um solche Situationen wie die hier erzählte zu überstehen.
Ich möchte hier keine Selbstmörder rechtfertigen, aber aufgrund der Verschiedenheit von Menschen bezweifle ich stark, dass es "den" menschlichen Geist, also irgendeine neuronale Struktur gibt, die wirklich bei allen Menschen identisch ist. Aber ich bin mittlerweile froh, dass ich das Ende soweit geöffnet habe, dass sich der Leser die Geschichte auch ohne Selbstmord zu Ende denken kann, wie du es gezeigt hast.

Nichts anfangen konnte ich damit:
Danke, dass ihr Sekundenjahre mit mir teilt.
An wen ist das gerichtet? An die Moosfarne? Wenn es sich an die Verstorbenen richten soll, wäre dann nicht »geteilt habt« angebracht?
Nein, ich wollte es so ausdrücken, dass sich der Protagonist an die Verstorbenen richtet, dessen Tod er noch nicht vollständig akzeptieren will. Er sollte mit ihnen so reden, als würden sie da unten liegen und ihm durch die meterdicke Erdschicht zuhören (er redet ja nicht wirklich, er denkt es sich nur).

Sekundenjahre: Sekunden, die ihm wie Jahre erscheinen wollen.

»Streichle euch das Haar, höre den Moosfarn unter meinen Händen knistern.«
– würde den Artikel vor »Moosfarn« streichen
Es ist das Moosfarn gemeint, das auf dem Grab wächst, es ist also bestimmt.

»Eine größere, kräftig Gelbe für Louis,«
– würde hier auch einen Blumennamen einsetzen
Hm, was eignet sich da? Mit Blumen kenn ich mich nicht so aus.

»Solche Jahre hatten wir gemeinsam,«
– worauf bezieht sich »Solche«?
Weiß grad nicht den Fachbegriff, aber das meinte ich mehr in ausrufender als in referenzieller Funktion. Hab's durch "was für" ersetzt, wie man etwa sagt: Was für ein Morgen! Ist es so besser?

»Die Kanne kommt, ich begieße euch mit Tränen.«
– finde das mit den Tränen hier unpassend, weil man doch schon die Kanne im Bild hat (und in der sind keine Tränen drin). Würde dieses »Die Kanne kommt« allein stehen, wäre das viel wirkungsvoller, weil es besonders deutlich macht, wie sehr der Vater den Sohn ignoriert. Wenn danach ein Satz käme, in dem sein Selbstmitleid mehr rauskommt (versinke in Tränen, z. B.), würde mir das besser gefallen.
Hm. Ich halte diesen metaphorischen Beisatz mittlerweile für etwas kitschig, aber ich lass es so. Nur "Die Kanne kommt." stände zu isoliert und hinten angehangen.

»und ich sehe, durch den dichten Nebel, ein Schiff uns abholen kommen.«
– besser ohne Beistriche
Ich denke, sie passen da ganz gut hin. Die beiden Pausen sollen dem Satz etwas Melancholie verpassen.

»An jenem Tag war ein Sonnenschein, der den Asphalt in der Ferne spiegeln ließ.«
– das »ein« vor »Sonnenschein« will mir nicht so recht gefallen, Vorschlag: An jenem Tag schien die Sonne so stark, dass der Asphalt … (mit dem »spiegeln« hab ich auch irgendwie ein Problem, halte das für den falschen Ausdruck)
Hm ... auch das lass ich so. ;)

»und staune, dass er groß nickt wie auf das Angebot eines Eisbechers, damit das Knie wieder heilt.«
– nickt, wie
– was macht der Eisbecher denn für ein Angebot? ;-)
Naja, hinsichtlich seiner Bedeutung ist der Genitiv/Wesfall nun mal ziemlich undefiniert. Grammatisch zeigt er nur an, dass das eine mit dem anderen in irgendeiner Beziehung steht. Hier eben in einer Objektbeziehung, vgl. "Verkauf alkoholischer Getränke", "Beachtung der Gesetze" etc. -> s. Genitiv

Vielen Dank für deine Mühe. Ich hoffe - warum auch immer kann ich mir nicht helfen, das zu sagen - du bist mir nicht böse, dass ich viele deiner konstruktiven Vorschläge nicht implementiert habe.


FLoH.

 

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