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Die jüngste Generation
Lieder. Ihren Melodien lauschend, bin ich versunken. In mir. In mich. Ich höre täglich Musik. Morgens wenn ich aufstehe und mit dem Bus zur Arbeit fahre. Während der Mittagspause. Und dann wenn ich wieder auf dem Nachhauseweg bin. Klänge auf deren sanften Wellen ich bis tief in die Nacht hineinsegle. Bis der Mond seinen fahlen Schein zu uns hinabschickt. Almosen an die einsame und verlorene Spezies.
Hier stehe ich, irgendwo auf einem Dach, hoch über dem emsigen Gewimmel unseres Seins. Der Himmel, schwarz und voller Sterne, die dem weißen Antlitz glitzernd Gesellschaft leisten. Ob auch er alleine ist? Verloren?
Manchmal habe ich die Lieder und ihre Melodien satt. Ich sitze dann die Tage hindurch herum oder gehe etwas tun. Nüchternheit und dennoch fühle ich mich glücklich; die Tiefe meiner Seele ist wie fort.
Tiefe. Was für ein schwermütiges Wort! Was für ein schwermütiges Bild; ein dunkelbraunes Meer, unentwegt sich wiegend und kräuselnd, Stille, Horizont der Abenddämmerung. Die Gestade geformt von schimmerndem Sand, ein Anblick so weit das Auge sieht. Es ist vielleicht die Unschuld der Natur, die mich dabei auch Hoffnung spüren lässt. Nicht viel, aber doch ein wenig. So wie eine schwache Böe, hergetragen über das herbe Land, hergetragen von einer morgenfrischen Briese.
Heute war ein guter Tag. Einer an dem man kaum Musik hört, aber jede einzige Nuance genießt, wenn sie weit jenseits des Bewussten erschallt. Selbst die traurigen gesungenen Worte erfüllten mich mit Frohsein. Ich war in der Stadt, bummelte umher, geleitet und getrieben von meiner inneren Stimme. Es war ein Ausflug ohne Ziele, ohne Pflichten; jeder Schritt ein unsicherer; jeder Blick eine Überraschung.
»Hey!«, rief er. Er war ein Freund, lange nicht gesehen, obwohl wir uns eigentlich nahe stehen. Obwohl ich nicht sehr viele Freunde habe. »Was machst du? Wohin gehst du? Und wie geht es dir?« Genauso gut könnten wir einander fragen, wer wir sind. Ich meine das nicht böse. Ich meine es nachdenklich. Sind wir nicht, was uns bewegt? Sind wir nicht die Stimme, die in unserem Verborgenen schlummert und plötzlich erwacht, uns Verlangen, uns Ideen aufbürdend?
Erfreut begrüßte ich ihn, sein Blick ebenso kritisch wie der meine; man verändert sich. Selbst in nur wenigen Wochen. Selbst in nur wenigen Tagen. Zwei Millimeter mehr Bart. Zwei Millimeter mehr Haar. Vielleicht auch die Frisur. Sicherlich die Kleidung, sicherlich die Miene des Gesichts, die Aura. Wir redeten. Smalltalk und der übliche Rest. Es ist gut Freunde zu haben. Es ist gut, etwas Vertrautes zu haben. Heimkommen zu können, egal wo, solange es sich nur wie Zuhause anfühlt. Vor allem in unserer Zeit. Einer, die wohl der Zeit der amerikanischen Novellisten in Paris damals, der »Génération Perdue«, nur allzu ähnlich sein muss. Die Welt so zerbrechlich, noch immer unter der Wut der Menschen. Und wenn sie birst? Wohin gehen wir dann? Kein Frieden. Kein Heim. Das Leben eine einzige Flucht, ein einziger Kampf. Wie würde man uns wohl am besten nennen? Die jüngste Generation? Die Generation ohne Zukunft?
Es ist so töricht, darüber zu sprechen, die Angst in den Mund zu nehmen. Europa ist schon immer krank gewesen, ein hässlicher pulsierender Tumor. Aber jetzt ist die Furcht vor dem anderen so groß geworden, dass ich es nicht mehr sehen kann. Für mich ist dieser Ort nur noch ein Feld, reserviert, um ein Schlachtfeld zu werden. Ein Platz, um zu bluten. Daran zu denken, lässt meinen Körper erbeben, meine geballten Fäuste erzittern. Aber Mitleid habe ich keines, so sehr ich es versuche. So sehr ich am Guten im Menschen festhalte. Und wer, wenn nicht unsere Generation selbst sollte das Gute besser kennen? Wir, die wir etliche Hollywood-Streifen gesehen haben, in denen die Guten für das Gute kämpfen?
Amerika. Europa. Der Doktor und der Patient? Die Medizin und der Tumor? In den Medien sehe ich die Proteste, sehe die Hippies, die mit hocherhobenen Tafeln durch die Strassen marschieren. »Fucking U.S.A.«, »Don’t drop bombs: smoke weed: make love«. Wenn ihr mich fragt: Europa ist eine Schlampe. Zu feige, dem Tod ins Auge zu blicken. Zu eingebildet, um dem reicheren Kontinent die Spitze zu gewähren. Aber… würde ich in den Krieg ziehen? …
»Mach’s gut, man sieht sich« Sein Lächeln, das Letzte was er mir würdigte. Dann verschwand er im Menschengewirr. Irgendwo, zahllose Kilometer weit entfernt, in einem fernen Land, da kreischt wohl gerade ein schweißgebadeter Mann seinen Abschiedslaut. Die Brust zersiebt und zerfetzt. In der letzten Sekunde seines Lebens rauschen traumschnell die Bilder und Gedanken seiner schönsten Erlebnisse durch seinen Kopf. Vielleicht seine Kinder, wie sie ihn glücklich anlächeln. Vielleicht seine erste Liebe, braungelockt, anmutiges Nässchen, verliebt. Vielleicht das Gefühl von herumschwirrenden abgestorbenen Herbstblätter, ihn umtänzelnd, ihm ihre würzigen Düfte offenbarend. Vielleicht, vielleicht. Und dann prallt sein bleierner Körper auf dem staubigen trockenen Boden auf; er ist tot. Kommt nicht wieder. Nie mehr. Einzigartig. Ein Leben vertan. Nein, diejenigen die in den Krieg ziehen, wollen kein Öl. Sie wollen nicht die Spitze der Weltwirtschaft darstellen.
Die jüngste Generation. Bin hinabgestiegen die winzigen Tritte meiner Seele, tiefer und tiefer. Meine Augen geschlossen. Nostalgie. Unschuldige Kindheit. Geborgenheit. Die Welt ist noch heil. Als hätte ich diesen Spruch damals begreifen können. Ein sanfter Windstoss schmeichelt sich an meine Wange, hebt mein Haar empor. Über mir blitzen noch immer die Sterne. Und der blasse Mond. Ich setze mich hin, ziehe meine Knie an und umschlinge sie. Mein Kinn auf sie gebettet. In meinen Augen muss sich wohl alles spiegeln. Die ganze Nacht, die spärlichen dunklen Wolken dort am Rande der Welt. Ich setze die Kopfhörer auf und klicke auf die Play-Taste. Die Musik, Wogen voll Leben, voll Spiel. Und doch ruhig, friedvoll. Eine Ruhe hinaufsteigend aus unermesslichen Tiefen. Schließe die Augen. Denke an meine Liebe; Zuhause.
Warten. Warten auf Morgen.