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Die Jon-Ton Expedition
Won-Lon nahm im respektvollen Sechs-Meter-Abstand Platz neben Jon-Ton, der vor seiner Wohnkugel in einem Sitzkelch lag: "Ich grüße dich, Jon-Ton, und ich danke dir für deine Einladung. Du strahlst ja geradezu vor Aufregung. Haben deine Himmelsbeobachtungen ein unerwartetes Ergebnis gezeigt?"
"Ich grüße dich, Won-Lon. Nimm doch bitte neben mir Platz, damit ich dir zeigen kann, was ich entdeckt habe."
Won-Lon hatte bisher ein höfliches Blau mit ein wenig orangener Neugierde gezeigt, aber nachdem er auf einen Kelch neben Jon-Ton geschwebt war und Platz genommen hatte, nahm auch er ein kräftiges Orange an. Mehrere Kugler in der Umgebung zeigten mit gelben Flecken ihr Interesse, aber Jon-Ton umgab sich mit einem breiten roten Streifen und bat Won-Lon, ebenso Ablehnung gegenüber den anderen anzuzeigen. Beide blendeten die Umgebung aus und Jon-Ton zeigte Won-Lon, was er bei seinen Himmelsforschungen entdeckt hatte. Er war beim Abtasten vor einigen Nächten auf einen Körper gestoßen, der in einem hellen Rot strahlte.
"Ein verbotener Körper", murmelte Won-Lon.
"Wenn man annimmt, dass wir das Zentrum des Universums sind und auch für die belebten und unbelebten Elemente anderer Welten unsere Regeln gelten - dann gewiss."
"Das ist Blasphemie!" Won-Lons Haut überzog sich mit hektischen violetten Beulen, die die sonst makellose Kugelform seines Körpers regelrecht entstellten.
"Beruhige dich und bleib sitzen. Ich stelle die Lehren unserer heiligen Vorkugler nicht in Frage. Aber bei diesem gleichmäßigen Leuchten müssten die Kugler dort dicht gedrängt leben und das ist unmöglich. Nein, ich vermute, der Körper reflektiert nur den roten Teil des Sonnenlichtes. Wie er das macht, weiß ich nicht, aber eine Atmosphäre wäre die einfachste Erklärung."
"Das hat der Schöpfer dann bewusst so eingerichtet. Davon müssen wir jedenfalls ausgehen." Won-Lon strahlte hellblaue Zuversicht aus und auch Jon-Ton zeigte ihm Übereinstimmung, wenn auch sein Blau mit einigen Streifen orangener Neugier durchsetzt war.
"Gibt es denn Leben auf dem Körper?", fragte er.
"Nein, ich habe keine Gedanken feststellen können."
"Also bedeutet die rote Farbe doch eindeutig, dass auf diesem Körper intelligentes Leben nicht gestattet ist. Was haben wir von deiner Beobachtung?"
"Erst einmal ist kein Nutzen erkennbar. Aber ich habe inzwischen noch einen Körper entdeckt. Er ist aber am Tage sehr schwach zu erkennen."
"Und welche Farbe zeigt er?"
"Ich habe ein helles Blau gesehen, aber ich kann ihn alleine nicht genauer untersuchen. Ich möchte dich deshalb bitten, dich mit mir zu verbinden."
"Gut, wenn wir weniger als einen Tag brauchen."
"Wir müssen zur Dämmerung aufhören. Der Körper verschwindet gegen Abend und kommt am Morgen erst wieder. Wahrscheinlich gibt es auf ihm auch Tag und Nacht."
Jon-Ton und Won-Lon verbanden sich also und beobachteten gemeinsam den Himmel.
"Dort, ein herrliches Blau", hauchte Jon-Ton.
"Ja, eine sehr einladende Farbe. Und ich spüre eine schwache Gedankenströmung."
"Ich empfinde sie auch, aber sie scheint sehr diffus, kaum lokalisierbar."
"Angesichts der großen Entfernung des Körpers kann dies bedeuten, dass es zahlreiche Kugler auf dem Körper gibt."
"Wir sollten einen Vierer bilden um bessere Eindrücke zu erhalten."
Beide Kugler glühten in lebhaftem Orange. Die roten Warnstreifen waren längst erloschen und so war es kaum verwunderlich, dass eine größere Ansammlung vor Neugier gelb und orange gefleckter Kugler im Zwölf-Meter-Sektor um sie herum schwebte. Won-Lon lief erschrocken ein wenig grün an und Jon-Ton zeigte unbewusst das ganze Farbspektrum. Er benötigte einige Zeit, sich wieder zurecht zu finden, dann aber ließ er seine Haut in einem hellen Braun strahlen, um so zu zeigen, dass er sich an alle, die ihn aufnehmen konnten, wenden wolle.
"Wir waren in unseren Forschungen vertieft. Ich bitte um Entschuldigung, wenn wir euch beunruhigt haben. Wir laden zwei astrologisch erfahrene Interessierte zu einem Forschungsvierer ohne weitergehende Konsequenzen ein."
Zwei Kugler mit orangener Grundfärbung und blauen Höflichkeitsstreifen näherten sich auf sechs Meter.
"Hon-Hon, Professor für Astronomie und Physik", stellte sich der erste vor.
"Mon-Lon, ich erforsche die Botanik unzugänglicher Gebiete besonders in den Ozeanen."
"Nehmt doch bitte Platz. Wenn ihr einverstanden seid, verbinden wir uns zu einem ersten Gedankenaustausch."
Nachdem die beiden Neuankömmlinge auf ihre Kelche geschwebt waren, verknüpften sie ihre Sinneszentren und erstrahlten in hellem Rot, das jeden Vorbeikommenden veranlasste, sich sofort abzuwenden und die Privatheit des Vierers zu respektieren.
"Sehr interessant; eine Welt, die offensichtlich Kugler beherbergt, war mir bisher nicht bekannt. Sollten wir nicht die Priester informieren?", dachte Hon-Hon nach dem Austausch.
"Am liebsten würde ich die Welt besuchen." Jon-Tons leiser Gedanke rief bei den dreien ein tiefgrünes Erschrecken hervor. Schließlich hatte noch nie ein Kugler die Heimatwelt verlassen. Da aber inzwischen die Dämmerung hereingebrochen war, verabredete man, den Austausch zu beenden und zu einem gemeinsamen Frühstück nach Sonnenaufgang wieder zusammenzukommen. Die drei Gäste schwebten zu ihren Wohnkugeln, während sich Jon-Ton nach einem kleinen Abendimbiss zufrieden in sein Schlafkissen kuschelte und sofort in einem traumlosen, beruhigenden Schlaf versank.
In den nächsten zwei Umlaufphasen trafen sich die vier tagtäglich. Ihre Gedanken richteten sich zunehmend auf die Frage, ob eine Expedition in den Weltraum möglich sei. Manche Kugler hatten die höchsten Berge bezwungen und waren von dort aus noch höher in den freien Himmel geschwebt. Das war gefährlich, denn die Luft wurde immer dünner und durch den geringen Druck dehnten sich diese wagemutigen Kugler immer mehr aus und manche, die nicht wiederkamen, waren vermutlich geplatzt. "Man müsste eine dichte Wohnkugel nehmen, wie die Unterwasserkugeln", schlug Mon-Lon vor.
"Jeder benötigt eine eigene Kugel, sonst werden wir sehr bald intim, obwohl wir es gar nicht beabsichtigen" warf Hon-Hon ein.
Die gemeinsamen Gedanken führten dann zu einer Pyramide aus starren Stangen mit vier Wohnkugeln an den Enden.
"Wir müssen über den Abstand der Kugeln weiter denken", stellte Jon-Ton fest, nachdem die Mechaniker ihnen mit ihren sechs gelenkigen Armen in kurzer Zeit den gedachten Prototypen gebaut und sie einige Stunden in den Aufenthaltskugeln verbracht hatten.
Hon-Hon stimmte ihm zu: "So ist der Abstand zu groß, um mit unseren vereinten Gedanken im Weltraum schweben zu können."
"Aber wenn die Kugeln zu dicht beieinander liegen, können wir eine intensive Verschmelzung nicht verhindern. Und eine Knospung wäre für die Expedition eher hinderlich. Abgesehen von dem engen Verwandtschaftsgrad zwischen Won-Lon und mir, der eine Verschmelzung ohnehin verbietet", fuhr Mon-Lon fort.
"Aber wir werden wahrscheinlich mehrere Wochen unterwegs sein, ohne Kontakt zu anderen Kuglern. Wir müssen also auch die Möglichkeit von Kuschelphasen vorsehen", warf Won-Lon ein.
Sie überlegten dieses Problem noch mehrere Tage und dachten schließlich an die Mechaniker eine Pyramide, deren Kugeln mit Seilzügen aufeinander zu bewegt werden konnten, wenn beide Insassen dies wünschten. Sinnreiche Sperren wurden eingebaut, um zu verhindern, dass alle vier Kugeln zusammenkamen und dann eine Verschmelzung einsetzte, deren ekstatischer Verlauf leicht das Ende der Expedition bedeuten konnte.
Endlich war die Pyramide fertiggestellt und in mehreren Flügen rund um die Heimatkugel getestet. Verpflegung, Sauerstoffzylinder, Lesebänder, Trimmgeräte und manches mehr wurde in den Kugeln verstaut und endlich startete die große Expedition. Die Priester hatten eher widerstrebend ihre Einwilligung erteilt. Aber dann hatten sie doch fünfhundert Mechaniker und einhundert Kugler zusammengerufen und mit ihnen eine große Gedankenverschmelzung initiiert und so der Pyramide den nötigen Antrieb für den Vorstoß in den Raum verliehen.
Nachdem die Expedition das Kraftfeld der Heimatkugel verlassen hatte, kamen sie schnell voran und schon nach wenigen Flugwochen waren die Gedankenwellen, die von dem Zielplaneten ausgingen, deutlich zu empfangen. Sie konnten ein breites Spektrum unterschiedlichster Gedankenmuster ausmachen. Aber kein Gedanke war ihnen vertraut.
"Vielleicht denken die Kugler dieses Planeten anders als wir", vermutete Mon-Lon.
"Wir werden in zwei Wochen landen können und bis dahin wissen wir gewiss mehr", erwiderte Jon-Ton und stellte auf seinen Monitoren erfreut fest, dass sich die anhaltende hellblaue Farbe seiner drei Gefährten verstärkte.
Schließlich kamen sie der blauen Kugel so nahe, dass sie unterschiedliche Muster ausmachen konnten.
"Sehr interessant, diese Mischungen von dunkelblau und violett, aber ich kann dieses Farbmuster nicht deuten", stellte Hon-Hon fest.
"Wir haben mehrere kleine Bereiche mit sehr intensiven Gedankenemissionen, die zeitweise auch sehr komplex sind, aber ich kann weiterhin keine vertrauten Gedanken empfangen" ergänzte Mon-Lon.
Dann kam die nächste Überraschung: "Das Blau ist anscheinend nur eine Hülle", rief Won-Lon aus und ergrünte seinerseits: "Darunter ist sehr viel Grün, aber auch Rot und Grau und - mir wird schlecht, das sind viel zu viele Farben."
Won-Lon lief grau an und auch die anderen Kugler ergrauten zunehmend, je mehr sie dieses Farbwirrwarr in sich aufnahmen. Schließlich gelang es Hon-Hon trotz der Übelkeit, die seine ganze Kugel erfasst hatte, die Monitore so zu justieren, dass wenigstens die unangenehmen Farben ausgefiltert wurden. Zwei Umläufe Kuscheln in Zweiergruppen stabilisierten die Expeditionsteilnehmer so weit, dass sie eine der intensiven Gedankenquellen ansteuern konnten. Schließlich schwebten sie über einem riesigen ovalen Kelch.
"Hier muss eine mächtige Priestergruppe sein", hauchte Jon-Ton, als ihnen deutlich wurde, dass sich Tausende Wesen, die den Mechanikern ähnlich sahen, aber nur vier plumpe Gliedmaßen aufwiesen, in diesem Oval aufhielten. Ihre gleichartigen Gedanken und Bewegungen waren auf den schrecklich grünen Raum in der Mitte des Kelchs hin gerichtet.
"Wer steuert die Gedanken und Bewegungen?", fragten sich die vier Kugler und beobachteten fasziniert, dass einige Wesen auf das Grün liefen und sich dort in einer geraden Reihe aufstellten. Dadurch wirkte das intensive Grün noch erschreckender.
"Das muss eine rituelle Feier sein", dachte Jon-Ton, "aber wo sind die Priester?"
"Dort, in der Mitte, da ist einer." Won-Lon lief tief violett an und lenkte die Aufmerksamkeit seiner Gefährten auf ein kleines Feld vor der Mechanikerreihe.
"Aber der ist ja nur knospengroß", erschrak Hon-Hon und lief seinerseits grün an.
"Aber er muss die Quelle dieser gleichartigen Gedanken sein." Alle teilten Jon-Tons Feststellung. Aber wie intensiv sie auch diese kleine farblose Kugel mit ihren eigenartigen Mustern andachten - sie reagierte nicht, sondern schien ganz in dem lenkenden Andenken der Mechaniker aufgegangen zu sein.
Unversehens löste sich die Mechanikerreihe auf dem Grün auf und einer versetzte der Kugel einen heftigen Stoß. Im gleichen Augenblick änderte sich die Gedankenflut. Jetzt schienen zwei unterschiedliche Muster miteinander im Streit zu liegen.
"Was geschieht da?", fragte Hon-Hon, der wieder grün anlief, verzweifelt. "Wir müssen den Kugler mitnehmen, um ihn mit unseren Gedanken zu erreichen", beschloss schließlich Jon-Ton. Alle zeigten hellgrüne Zweifel, aber da ihnen keine bessere Idee einfiel, holten sie in einem waghalsigen Manöver den Kugler in Jon-Tons Kapsel und verließen schnellstmöglich den Riesenkelch.
In das helle Grün der vier mischten sich violette Schlieren. Die gerettete Kugel lag unbeweglich in Jon-Tons Kabine und sandte keinen einzigen Gedanken aus.
"Ist er tot?"
"Ich kann keine Lebenszeichen feststellen. Uns bleibt nur noch eins. Ich werde ihn sezieren."
Jon Ton holte sein Operationsbesteck und schnitt vorsichtig in die zähe Haut der fremden Kugel. Entsetzt starrten die vier, als Jon-Ton die Kugel aufklappte: Sie war völlig leer.
"Ein hohler Ball steuert die Mechaniker oder steuern etwa die Mechaniker den Priester?", stöhnte Jon-Ton und alle vier Kugler verfielen in ein tiefes Schwarz äußerster Verzweiflung.
Nach ihrer Rückkehr übergab Jon-Ton sein Expeditionstagebuch an die Priester und zog sich in ein Kloster zurück. Sein Buch wurde für zweihundert Zyklen auf den Index gesetzt, aber auch nach dieser Zeit gab es niemanden, der eine zweite Expedition in die Leere des Weltalls unternehmen wollte.