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Die Kehlkopfschwangerschaft
Eines Morgens erwachte Martha M. mit einem merkwürdigen Gefühl im Hals. Es war wie ein leichtes Kratzen oder vielmehr eine Art zartes Kribbelgefühl. Sie räusperte sich, legte die Hand an den Hals, räusperte sich nochmals. Da sie keine Änderung merkte, schloß sie die Augen und blieb entspannt im Bett liegen. Wie angenehm dies wäre, noch länger im Bett zu bleiben! Heute würde sie nicht aufstehen, ganz einfach nicht im Büro erscheinen. Später könne sie anrufen und dem Chef sagen, sie sei krank, ihr sei übel oder, noch besser, sie habe Grippe. Obzwar die Grippezeit schon vorbei war, klang dies doch plausibel. Eine ihrer Kolleginnen litt auch erst unlängst an dieser Volkskrankheit. Vor zwei Tagen war sie, nach einer Woche Krankenstand, wieder im Büro - sie sah gar nicht sonderlich krank oder hergenommen aus. "Warum, sollte ich nicht auch einmal Grippe haben", dacht Martha M. Tatsächlich ist sie die ganze kalte Jahreszeit über nie wirklich krank gewesen. Ja, ein- oder zweimal war sie verkühlt, nichts Besonderes. Sie übertauchte es mit Aspirin-Tabletten und Kräutertee, und sie erschien auch immer pünktlich im Büro. "Fast alle waren heuer schon krank, sogar der Alte war einmal für ein paar Tage nicht in der Arbeit", sprach Martha M. stumm zu sich. Tatsächlich hatte auch ihr Chef, ein fast gemütlicher Herr in den Fünfzigern, der allerdings etwas älter wirkte, nach vielen Jahren wieder einmal eine stärkere Erkältung, sodaß er es vorzog - mehr auf Drängen seiner Gattin - für einige Tage nicht in seinem Büro zu erscheinen. Er überließ damit zwar die Arbeit seiner Abteilung dem Chaos der Angestellten, wie er meinte, aber zu seiner Überraschung und wohl auch ein wenig zu seiner Enttäuschung mußte er, als er wieder im Amt erschien, feststellen, daß der Arbeitsbetrieb ohne besondere Beeinträchtigung weiterlief. Er hatte fast den Eindruck, daß seine Abwesenheit kaum bemerkt wurde, geschweige denn, daß sie sich negativ auf die Abteilung ausgewirkt hätte.
Martha M. riß es empor. Sie müsse auf, sonst erreiche sie den Bus nicht! Die Gedanken, die sich allmorgendlich in geringfügigen Variationen nach dem Aufwachen bei ihr einstellten, waren verflogen. Mürrisch löste sie sich langsam aus der flauschigen Wärme ihres Bettes. An diesem Tag war Martha M. noch ein wenig mürrischer als an anderen Tagen.
Im Badezimmer besann sich Martha M. wieder ihres eigenartigen Gefühls im Hals. "Wahrscheinlich bin ich verschleimt, nach dem Frühstück wird es sicherlich verschwinden. In der Nacht war es ziemlich frisch und die trockene Luft hat meinem Hals "bestimmt nicht gut getan", dachte sie, schon etwas besser gelaunt, und füllte ihren Becher mit lauwarmem Wasser. Sie nippte daran und ließ das warme Naß langsam die Kehle hinunterrinnen. Erst kam es ihr vor, als sei das Kratzen tatsächlich verschwunden. Doch nach einigen Sekunden stellte es sich wieder ein. Sie nahm einen großen Schluck Wasser, das ihr abermals in die Kehle lief, dort aber verharrte, da Martha M. aus dem Schlund emporsteigende Luft dagegen pustete, sodaß das Wasser in ihrem Halse freudig Bläschen bildete, die sich immer mehr ausdehnten, schließlich in sich zusammenfielen, um neuerlich zu Blasen anzuwachsen. Martha M. gurgelte vielleicht eine halbe Minute und spie das Wasser in die Muschel. Diesen Vorgang wiederholte sie einige Male.
Tatsächlich fühlte sie sich danach etwas wohler, obwohl das Gefühl im Hals nicht völlig verschwand. Es trat jedoch mehr in den Hintergrund, und während sie ihr Frühstück richtete, beachtete Martha M. das Kratzen nicht weiter. Sie schlürfte ihren Kaffee, biß in die Semmel und blickte ab und zu etwas unruhig auf die Küchenuhr. Obwohl sie wußte, daß sie den Bus pünktlich erreichen würde, war sie doch etwas nervös.
So erging es ihr eigentlich jeden Morgen. Martha M. war sehr gewissenhaft und pünktlich, um nicht zu sagen überpünktlich. Noch nie hatte sie den Bus versäumt und erst ein einziges Mal, seit sie in diesem Büro arbeitete, und das waren mittlerweile schon dreieinhalb Jahre, kam sie zu spät. Wegen eines Unfalls kam damals der Verkehr ins Stocken und der Busfahrer mußte einen Umweg nehmen. Martha M. erinnerte sich fast jeden Morgen daran, wie sie schweißgebadet - die Schuld stand ihr in die Augen geschrieben, wenngleich wissend, daß sie für ihre Verspätung eigentlich nichts dafür konnte - im Büro erschien und schließlich niemand von ihrem Zuspätkommen Notiz nahm. Sie sprach damals sogleich beim Chef vor, um sich für ihr Versäumnis, das aber gar nicht das ihre war, zu entschuldigen. Da er deswegen in seiner Arbeit unterbrochen wurde, meinte der Alte etwas ärgerlich, daß es doch nicht notwendig sei, sich für eine so minimale Verspätung zu entschuldigen, noch dazu für eine Mitarbeiterin, die er ohnedies wegen ihrer Pünktlichkeit und Genauigkeit zu schätzen wisse. Martha M. war erstaunt über die Reaktion des Chefs und es war ihr peinlich, daß sie ihm wegen dieser Kleinigkeit, wegen dieser Nichtigkeit belästigt hatte. Wie konnte sie auch nur glauben, daß sich der Leiter der Abteilung, der sich doch mit gewichtigeren Angelegenheiten herumzuschlagen hatte, für die Anwesenheit oder Nichtanwesenheit einer so unbedeutenden Mitarbeiterin interessieren sollte! Sie überlegte kurz, ob sie sich für ihre Entschuldigung entschuldigen sollte, fürchtete aber, den Chef damit noch mehr zu verärgern und verließ schließlich den Raum, indem sie ihn wegen der Störung reumütig um Verzeihung bat. Ihr Tonfall ließ zustimmendes Verständnis für seine derbe Reaktion erkennen. Martha M. war aber insgeheim durchaus der Meinung, daß es besser war, sich für das verspätete Erscheinen am Arbeitsplatz zu entschuldigen.
Martha M.s Kolleginnen nahmen es weder mit der Pünktlichkeit noch mit dem Entschuldigen so genau. Den Alten, wie die Mitarbeiterinnen untereinander den Chef verachtend-liebevoll nannten, kümmerte dies auch nicht allzu sehr, außer jemand machte sich das Zuspätkommen zur Regel. Diesfalls stellte er die Betroffene zur Rede, aber in einer durchaus nicht unfreundlichen Art, sodaß es der Unzuverlässigen künftighin geradezu leichtfiel, die Arbeitszeit genauer einzuhalten.
Nachdem sie das Frühstück eingenommen hatte, schlüpfte Martha M. in ihren Mantel, der eher für die kältere Jahreszeit geeignet schien als für den mittlerweile ins Land ziehenden Frühling. Ihr Mantel bestand aus einem matten Dunkelgrün mit Spuren von grauen und schwarzen Mustern, die jedoch nur aus nächster Nähe erkennbar waren. Aus der Ferne betrachtet sah der Mantel schmutziggrün aus. Sie trug ihn bereits seit vielen Jahren und obwohl sie sich schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken herumschlug, sich einen neuen anzuschaffen, konnte sie sich doch noch nicht dazu durchringen, ihr mittlerweile so gewohntes Kleidungsstück gegen ein anderes zu tauschen. Martha M. legte keinen besonderen Wert auf modische Kleidung; man konnte fast meinen, daß sie allzu Modisches mied. Sie bevorzugte dunklere Farben für ihre Kostüme und Kleider, da sie schon seit ihrer Jugend der Meinung war, daß sie eine unscheinbare und wenig attraktive Frau sei, die nicht noch durch auffällige oder bunte Kleidung die Aufmerksamkeit der Mitmenschen auf ihre kaum anziehende Gestalt lenken sollte. Tatsächlich war Martha M.s äußere Erscheinung nicht sehr angetan, die Blicke anderer Menschen anzuziehen, wenngleich sie keineswegs so unansehnlich wirkte, wie sie es sich in ihrer Einbildung vorstellte. Man könnte sagen, Martha M. hatte ein unbedeutendes Aussehen. Als junges Mädchen hätte sie manchmal insgeheim den Wunsch gehabt, sich schöner und geschmackvoller anzuziehen, doch wußte sie, daß dies das Mißfallen ihrer Mutter hervorrufen würde, und daher vermied sie es, ihrem eigenen Wunsch nachzugeben.
Martha M. eilte von ihrer Wohnung zur Bushaltestelle, wo zahlreiche Leute in der Morgendämmerung auf den Bus warteten. Jeden Morgen blickte sie in dieselben Gesichter von Frauen, die sich vergeblich bemüht hatten, die Müdigkeit aus ihren Antlitzen zu schminken. Das dicke Make-up strich die Leere in ihren Gesichtern noch deutlicher hervor und entstellte sie fast mumienhaft. Wahrscheinlich hatte nie jemand den Trägerinnen dieser Masken, die glaubten, damit ihrem Aussehen nicht vorhandene Frische verleihen und inneren Elan vortäuschen zu können, mitgeteilt, wie lächerlich, um nicht zu sagen, verunstaltet sie in Wahrheit wirkten. Der Geruch de' Zigaretten, mit denen sich einige von ihnen die Wartezeit verkürzen wollten, verstärkte noch den Eindruck allgemeiner Morbidität. Martha M. konnte Zigarettenrauch an sich nicht leiden, aber am Morgen erweckte er in ihr ein besonderes Empfinden von Übelkeit. Sie selbst hatte ein einziges Mal in ihrem Leben ein paar Züge von der Zigarette einer Schulfreundin überredeterweise geraucht und danach nie mehr das Bedürfnis nach dem Qualm verbrennenden Tabaks verspürt. Damals, nach diesem ersten und einzigen Versuch zaghaften Zigarettenkonsums, hatte sie eine mehrstündige Wanderung in der frischen Luft unternommen, um ihre Lungen vom Gift des Nikotins zu reinigen.
Obwohl sie Tag für Tag mit denselben Frauen den Platz im Bus teilte, sprach Martha M. nie mit einer von ihnen. In ihrem Innersten verabscheute sie diese Bürokratinnen. Sie wollte nie eine von ihnen werden. Schon in ihrer Jugend fürchtete sie sich davor, das Schicksal dieser austauschbaren Frauen teilen zu müssen und diesem trostlosen Alltagseinerlei zu verfallen. Dennoch hatte sie schon immer gespürt, daß ein solches Leben unausweichlich, auf sie hereinbrechen würde.
Im Büro angekommen, fühlte sie das Kratzen im Hals wieder deutlicher. Doch während sie neben Stößen von Papier vor der Schreibmaschine saß, hatte sie keine Zeit, sich des halswehartigen Gefühls zu besinnen. Über ihrer Arbeit vergaß sie wieder darauf, daß sie sich nicht ganz wohl fühlte, und nur wie in weiter Ferne nahm sie das Kribbeln in ihrem Hals wahr. Erst bei der ersten Kaffeepause merkte sie wieder, daß offensichtlich ein Husten in Anzug war. Sie unterhielt sich mit ihren Kolleginnen über die üblichen Banalitäten, ohne etwas von ihrem Halsweh zu erwähnen. Zu unbedeutend schien ihr dies.
Am Arbeitsplatz beteiligte sich Martha M. für gewöhnlich an den Gesprächen mit den anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Büros, fiel dabei aber niemals als besonders eifrige Rednerin auf. Auch vertrat sie nie außergewöhnliche oder originelle Ansichten, stets wirkte sie besonnen und überlegt. Von den anderen wurde sie geachtet, sie galt weder als unbeliebt noch konnte man aber sagen, daß sie besonders geschätzt wurde. Während in der Abteilung, in der Martha M. arbeitete, außer dem Chef nur Frauen angestellt waren, gab es in anderen Abteilungen auch zahlreiche Männer. In den Kaffeepausen, vor allem aber beim Mittagessen in der Kantine, saßen Martha M. und ihre Kolleginnen meist mit Beschäftigten aus anderen Abteilungen zum Tratsch beisammen. Das Bürogebäude war einige Stockwerke hoch und jede Abteilung nahm einige Räume in Anspruch. Stets gab es ein reges Hin und Her zwischen den Abteilungen, sodaß eine bürofremde Person nicht erkennen hätte können, welcher Angestellte nun eigentlich zu welcher Abteilung gehörte.
Mit den männlichen Mitarbeitern unterhielt sich Martha M. ebenso wie mit ihren Kolleginnen. Es war für sie, oberflächlich betrachtet, nicht viel Unterschied, ob ihr Gesprächspartner männlichen oder weiblichen Geschlechts war. Während ihre Kolleginnen aber mit den männlichen Arbeitsgefährten häufig scherzten, waren Martha M.s Gespräche mit diesen eher sachlich. Obwohl sie mit ihnen stets gut auskam, schienen Martha M.s Kollegen den Kontakt zu ihren Kolleginnen mehr zu suchen als zu ihr. Diese Feststellung stimmte sie zwar traurig, aber sie ließ es sich niemals anmerken. Nicht daß sie an einer näheren Bekanntschaft interessiert gewesen wäre, ein wenig mehr an Beachtung hätte sie sich aber schon gewünscht. Martha M. ergriff nur selten von sich aus die Initiative zu einer Konversation, denn sie hielt sich für zu uninteressant und meinte, die anderen würden dann nur ihr zuliebe das Gespräch erwidern.
Der Arbeitstag verlief für Martha M. unauffällig. Manchmal schien ihr Halskratzen deutlicher spürbar zu sein, manchmal verschwand es fast vollständig. Am Ende der Arbeitszeit verabschiedete sie sich von ihren Kollegen mit den üblichen Floskeln und wünschte ihnen noch einen schönen Tag. Diese erwiderten die Höflichkeit und wünschten auch ihr einen schönen Abend.
Dieses Ritual spielte sich täglich ab. Alle Mitarbeiter verabschiedeten sich so voneinander und keiner fand etwas Lächerliches daran, daß sich dieselben Menschen dieselben Floskeln Tag für Tag schallplattenartig zuwarfen. Man wußte schon im voraus, daß nun das Sätzchen "Auf Wiedersehen und noch einen schönen Abend" folgen mußte, und wie zwanghaft erwiderte man ohne zu denken: "Danke, Dir auch, auf Wiedersehen". Da täglich alle zu allen anderen der Abteilung diese Worte höchstens in geringfügigen Abweichungen äußerten, hätte es eigentlich genügt, sich diese Satzfragmente nur zu denken. Jeder wüßte ja beim Auseinandergehen, daß der andere gerade sein Abschiedsprüchlein dachte, und so hätte man es auch nur in Gedanken zu erwidern brauchen. Man hätte auf diese Art den Sprechaufwand, der notwendig war, um diese Worte zu artikulieren, sparen können.
Im Bus machte sich Martha M.s Halskratzen wieder stärker bemerkbar. "Wenn ich daheim bin, koche ich mir heißen Tee und lege mich ins Bett", freute sie sich auf die baldige Erholung vom Arbeitstag. "Wird das Halsweh nicht besser, so bleibe ich morgen wirklich zu Hause. Dann kommt das Wochenende und bis am Montag werde ich wieder auskuriert sein." Martha M. schien plötzlich direkt froh über die sich anbahnende Verkühlung zu sein, sie sehnte sich schon nach einer längeren Entspannung. Die Arbeit hatte ihr in letzter Zeit sehr wenig Lust bereitet und sie fühlte sich schon ziemlich gestreßt. "Vielleicht bleibe ich auch länger in Krankenstand. Mein Arzt hat sicher Verständnis dafür, er wird mich bestimmt krank schreiben." Sie erinnerte sich daran, wie sie vor einigen Jahren seinen Ratschlag ausschlug, aus Krankheitsgründen für einige Tage nicht zur Arbeit zu gehen.
Martha M. verließ den Bus und eilte heimwärts. Zu Hause angekommen, kochte sie Tee, wie sie es geplant hatte, goß dann auch noch etwas Slibowitz hinein und nippte an ihrer Schale. Allerdings ging sie nicht gleich zu Bett, sondern räumte noch ein wenig in ihrer Wohnung auf und erledigte einige kleinere Arbeiten, die in einem Haushalt so anfallen. Erst dann bereitete sie sich das Bett, früher als gewöhnlich, und schaltete den Fernsehen ein. Bald merkte sie, daß sie mit ihren Gedanken nicht recht bei der Fernsehsendung war, die sie auch nicht sonderlich interessierte. Sie stand auf, nahm noch eine Schale Tee zu sich - diesmal ohne Slibowitz - und legte sich schließlich mit einigen Zeitschriften wieder ins Bett. Der heiße Tee besänftigte die Halsbeschwerden etwas und. Martha M. blätterte in den Journalen.
Nach einiger Zeit machte sich aber das Kribbeln im Hals wieder mehr bemerkbar. Unwillig las sie noch ein wenig in den bedruckten Seiten, bis sie auch diese beiseite legte, das Licht abdrehte und mit offenen Augen auf die Decke starrte. Bald erhob sie sich wieder, schluckte ein paar Hustentropfen, band sich ein Halstuch um und verkroch sich endlich unter der Bettdecke. Sie schlief nach kurzer Zeit ein, wachte einmal in der Nacht auf, schlief aber gleich wieder weiter. Das Halsweh schien ihren Schlaf nicht zu beeinträchtigen.
Als sie in der Früh aufwachte, fühlte sie sich nicht schlechter als am vergangenen Abend. Die Halsbeschwerden waren zwar noch da, aber sie waren nicht stärker als tags zuvor. Entgegen ihrem ursprünglichen Vorhaben entschloß sie sich nun doch, ins Büro zu gehen» Martha M. nahm wieder einige Hustentropfen zu sich, trank heißen Tee und verließ die Wohnung Richtung Bus-Station.
Das Wetter schien schon frühlingshafter als am Vortag zu sein. Martha M. fühlte sich ungewöhnlich wohl. Das Halskratzen war zwar nach wie vor da, aber es schien ihr Befinden nicht zu stören. "Eigentlich seltsam", überlegte sie, "ich brüte eine Erkältung aus und fühle mich so munter und tatkräftig, wie schon lange nicht." Martha M. lutschte ein Bonbon, das ihren Atemwegen eine klare Kühle verschaffte, aber obendrein ihren Geist aufmunterte. Im Bus verschwand zwar ihre gute Stimmung etwas, aber im Büro begrüßte sie wieder freudig ihre Mitarbeiter. Ihr kam es vor, als seien auch diese besonders gut aufgelegt. Beim Kaffee scherzte sie einige Male, was sonst nicht allzu häufig vorkam. Der Arbeitstag verflog auffallend schnell und das Wochenende wartete schon auf sie.
Samstag vormittag absolvierte sie wie gewöhnlich ihre Einkäufe. Dies war der einzige Tag der Woche, an dem sie sich dazu mehr Zeit nehmen konnte. In den Einkaufsmärkten war es an diesem Tag zwar weit weniger geruhsam als an den anderen Wochentagen, da es vielen Leuten ähnlich erging, wie Martha M. Der Samstag war für berufstätige Menschen der einzige Tag, an dem sie genug Zeit hatten, die Vorräte für die gesamte Woche auszuwählen. Es waren Zeichen einer entmenschlichten Arbeitswelt und ihrer Zeiteinteilung, wenn Herden von Menschen durch die schmalen Gänge der Supermärkte drängten, um sich schließlich wie Schafe vor der Schlachtbank an den Kassen anzustellen.
Martha M. war eines dieser Schafe. Nachdem sie dem Supermarkt doch noch entkommen war, schleppte sie sich, bepackt mit Taschen, heimwärts. "Wieviel müssen erst andere einkaufen, die eine ganze Familie zu versorgen haben", dachte sie oft auf dem Rückweg vom Einkauf, "wenn ich schon für mich alleine soviel zu tragen habe?" Tatsächlich war das Gewicht, das sie jedes Wochenende vom Supermarkt nach Hause beförderte, so groß, daß sie sich, in ihrer Wohnung angekommen, um einige Zentimeter kleiner fühlte.
Daheim leerte sie ihre Taschen, füllte mit deren Inhalt Kühlschrank und Regale und bereitete sich schließlich die Mittagsmahlzeit. Nachdem sie gegessen hatte, schluckte sie wieder ihre Hustentropfen, setzte sich bequem in den Lehnstuhl, nahm die Zeitung zur Hand und - hatte ihre Brillen vergessen. "Das macht mich noch verrückt!", ärgerte sie sich, "daran werde ich mich nie gewöhnen ". Seit einiger Zeit schon benötigte sie Augengläser, da ihr die Buchstaben beim Lesen immer mehr verschwammen. Diese ersten Vorboten des Alters brauchte sie aber nur für die Nähe. In die Ferne sah sie gestochen scharf, manchmal meinte sie sogar, noch schärfer als in früheren Jahren in die Weite sehen zu können. Martha M. stand also auf, holte die Brillen und setzte sich abermals in ihren Fauteuil. Sie las in ihrer Zeitung, die den Geist der kleinen Leute ansprach, mit ihren Empörungen, ihren Wünschen und ihren Weltbildern. Martha M. kannte dieses Blatt seit ihrer Kindheit, ihre Mutter hatte es sich zwei-, dreimal pro Woche gekauft. Martha M. las es nie mit Begeisterung, manchmal mit Zustimmung, meistens mit Gleichgültigkeit. Wenn sie sich über etwas empörte, dann nur deswegen, weil es auch ihre Nachbarinnen und Kolleginnen, vor allem, aber die Trafikantin, bei der sie die Zeitung für gewöhnlich besorgte, taten. Die Trafikantin war eine redselige Frau, die den Inhalt der Zeitung samt mitgelieferter Meinung, die sich mit der des Blattes auffallend deckte, ihren Kunden verriet, sodaß es für diese eigentlich gar nicht mehr notwendig gewesen wäre, die Zeitung auch noch zu kaufen.
Während der Zeitungslektüre kam das Halskribbeln wieder stärker. "Ich werde etwas in die frische Luft gehen, das Wetter ist heute schön und es wird meinem Hals sicher guttun", dachte sich Martha M. und schlüpfte alsbald, in ihren Mantel. Beim Spazierengehen glaubte sie jedoch eine Verschlechterung ihres Halskratzens zu verspüren. Es war ein eigenartiges Gefühl, das sie nicht als Schmerz definieren wollte, obwohl es doch ziemlich lästig war. Sie hatte ein Halstuch umgebunden, das ihr aber bald zu warm wurde, und so öffnete sie ihren Mantel und lockerte das Tuch. Der Nachmittag war mild und Martha M.s Gedanken kreisten über allerlei, ab und zu kamen sie auf ihr sie ständig begleitendes Halsweh, schweiften jedoch bald wieder in andere Gefielde ab. Ihre Gedanken waren nicht sehr bedeutsam, aber Martha M. erfreute sich an ihnen. Sie dehnte ihren Spaziergang weiter aus, das ersprießende Grün des jungen Frühlings tat ihr wohl. Martha M. war kein Naturmensch, jedoch liebte sie kleine Wanderungen und Ausflüge.
Der Rest des Wochenendes verging unauffällig. Das Gefühl im Hals ließ noch immer nicht nach, da sie sich dabei aber wohl fühlte, kümmerte sich Martha M. nicht weiter darum. Auch am Montag im Büro spürte sie deutlich ihr Kratzen im Hals. Das Gefühl schien sogar intensiver geworden zu sein, was Martha M. etwas verstörte.
"Ich weiß nicht, was es ist, seit einigen Tagen habe ich so ein komisches Gefühl im Hals. Zuerst habe ich geglaubt, es ist eine Erkältung, aber ich fühle mich eigentlich nicht so, als wäre ich verkühlt", verriet sie einer ihrer Kolleginnen. "Ja, ja, das kenne ich. Das ist so eine verschleppte Verkühlung, die nicht raus will und die einem dann ziemlich auf die Nerven gehen kann", tröstete sie die Arbeitsgefährtin. "Am besten, man tut überhaupt nichts dagegen und wartet bis sie richtig rauskommt. Von Niederkämpfen mit Medikamenten halte ich gar nichts, da verschleppt man sie nur noch mehr und wird sie dann nie los. Am besten, heißen Tee trinken und ab und zu ein Zuckerl lutschen." "Das tu´ ich ohnedies schon, aber es nützt nichts", erwiderte Martha M., um gleich darauf wieder das Gesprächsthema zu wechseln.
Während der Arbeit dachte sie öfters an ihr Halskribbeln. Sie war verärgert, daß es trotz Hustentropfen und Tee nicht besser, sondern sogar schlechter geworden ist. Für einen Krankenstand fühlte sie sich aber doch nicht krank genug. "Vielleicht soll ich wirklich dem Rat der Kollegin folgen und keine Hustentropfen nehmen, damit die Verkühlung herauskann. Und dann bleibe ich ein paar Tage zu Hause", überlegte Martha M. Zu Hause änderte sie dann doch die Meinung und schluckte ihre Tropfen.
Einige Tage später erinnerte sich die Kollegin an Martha M.s Halsbeschwerden. "Ist dein Halsweh schon vorbei, geht es dir wieder besser?" wollte diese während einer der üblichen Kaffeepausen wissen. "Aber wo! Es ist sogar noch etwas schlimmer geworden. Heute Nacht haben mich die Halsbeschwerden so gestört, daß ich furchtbar schlecht geschlafen
habe." "Ach so, haben Sie Halsschmerzen?" fragte neugierig eine Sekretärin, während sie den Zigarettenstummel im Aschenbecher ausdrückte. "Ja, ja, schon seit ein paar Tagen", erwiderte Martha M. "Naja, das hab´ ich auch oft", fiel ihr eine andere Arbeitskollegin ins Wort. "Ich spül' mir dann den Hals mit, mit… na, wie heißt das noch, daß gelbe Zeug? Mir fällt jetzt der Name nicht ein. Das ist so ein gelbes Gurgelwasser, das brennt zwar etwas, hilft mir aber immer bei Halsweh. Vielleicht solltest du es damit probieren!" "Von solchen Dingen halt´ ich nichts", erwiderte die Mitarbeiterin, die Martha M. schon früher von Medikamenten abgeraten hatte. "Ich glaube, eine Verkühlung soll man rauskornmen lassen. Diese chemischen Sachen schaden mehr als sie nützen", unterstrich sie ihren Standpunkt. Sie sprach mit einer hohen und schrillen Stimme, die ihr eigen war. Sie klang nicht sehr wohl im Ohr, hob sich aber aus jedem Gespräch deutlich hervor. "Wie lange haben Sie das schon?" wollte ein zufällig anwesender Abteilungsleiter wissen. "Zirka eine Woche", antwortete Martha M., "ich glaube, so seit Donnerstag voriger Woche." "Zu lange sollte man so etwas nicht anstehen lassen. Wenn es nächste Woche noch nicht besser ist, sollten Sie einen Arzt aufsuchen", riet er ihr in ernstem Tonfall, der das Gesagte unterstreichen sollte. "Die Ärzte kennen sich ja auch nicht aus. Außerdem soll man nicht wegen jeder Kleinigkeit gleich zum Arzt
gehen", erwiderte die schrille Stimme.
"Sexodral, Sexodral oder so ähnlich!" ruft die Kollegin, die sich schon vorher zu Wort gemeldet hatte, dazwischen. "Die hat schon wieder nur Sex im Kopf", grinst der Abteilungsleiter. "Nein, nein, so heißt das gelbe Gurgelwasser, von dem ich zuerst gesprochen habe. Ich glaube Sexo..., Sexodral oder so ähnlich ..." "Na, Hauptsache Sex ist dabei, das andere ist nicht so wichtig", wirft eine Stimme ein. "Genau das war das Richtige für Martha, das würde ihr schon helfen!" ruft jemand lachend in die Runde. Die anderen lachen mit. Martha M. lacht ebenfalls, wenngleich etwas verlegen, mit, versucht aber gleichzeitig diese Verlegenheit zu verbergen. Sie hat es gar nicht gerne, wenn über dieses Thema, noch dazu in Zusammenhang mit ihr, gesprochen wird. Sie versucht ihre Unsicherheit, die sich in diesem Fall bei ihr immer breitmacht, durch Lachen zu überwinden, in der Hoffnung, daß das Gespräch schnell auf ein anderes Thema kommt.
Tatsächlich war Sex für sie immer etwas mit einem Tabu Behaftetes. In ihrem Innersten hatte sie manchmal wohl Sehnsucht danach, aber sie wollte sich dies nie richtig eingestehen. Vielleicht war dieser scherzhaft gemeinte Rat der Mitarbeiterin gar nicht so unsinnig! Möglicherweise war es genau das, was sie brauchte, um gesund zu werden. Auch ihrer alltäglichen Eintönigkeit, unter der zu leiden sie sich ebenfalls nicht eingestehen wollte, wäre damit abgeholfen. Aber nein, Schluß damit! Solche Gedanken wollte Martha M. erst gar nicht aufkommen lassen.
Zu ihrer Erleichterung lenkte der anwesende Abteilungsleiter das Gespräch wieder auf den Hals. "Bei meiner Frau helfen meistens heiße Halswickel. Nach ein, zwei Tagen löst sich der Schleim und Halsweh und Husten sind weg. "Husten hab´ ich eigentlich keinen", meinte Martha M. "Na, umso besser, dann wird es nicht so schlimm sein", sagte eine weibliche Stimme. "Ach, das ist ja das Schlechte, der Husten soll rauskommen, sonst bleibt alles drinnen. Man soll den Husten nicht unterdrücken", erwiderte die Schrille. Der Abteilungsleiter verabschiedete sich, indem er den Tip mit dem Halswickel wiederholte und Martha M. einen Arzt empfahl, sollten sich die Beschwerden nicht bessern. Nach dem Verlassen des Abteilungsleiters, der es gewohnt war, Anweisungen zu erteilen, löste sich auch die Gesprächsrunde auf und Martha M. begab sich wieder auf ihren Schreibtischsessel.
Während sie abends wieder ihren Tee wärmte, dachte sie an den Ratschlag des Abteilungsleiters, im. Falle, daß die Beschwerden nicht besser würden, einen Arzt aufzusuchen. Martha M. hatte ihren Hausarzt schon länger nicht konsultiert. Sie liebte Arztbesuche nicht allzu sehr. Abgesehen von einer Blindarmentzündung in ihrer Kindheit hatte sie noch nie in ihrem Leben an einer bedeutsamen Krankheit gelitten, war aber dennoch gerne kränklich. Sie hatte schon in ihrer Jugend eine so große Anzahl von Arztbesuchen hinter sich, die eigentlich für einen alten Menschen gereicht hätte. Ihre Symptome waren oft unangenehm und manchmal auch hartnäckig, verschwanden aber im allgemeinen nach den ärztlichen Untersuchungen wie von selbst. Wahrscheinlich würde es diesmal wieder so sein, vermutete Martha M. "Es ist am besten, ich gehe nächste Woche zum Arzt und dann werden die Beschwerden schon aufhören. Aber vielleicht lassen sie über das Wochenende von selbst nach", wünschte sie sich, um auf den Arztbesuch doch noch verzichten zu können.
Aber ihre Hoffnung war vergebens. Es gab nicht eine Minute mehr, in der die Beschwerden nachließen. Das ganze Wochenende über kratzte und kribbelte es in ihrem Hals. Nachts konnte sie zuweilen nicht schlafen, obwohl sie sich im großen und ganzen an das seltsame Gefühl gehöhnt hatte und. untertags ihrer normalen Beschäftigung ohne besondere Beeinträchtigung nachging. Für Martha M. war es gewiß, daß es sich um eine Erkältung handelte, die sich verschlagen hatte und sich nun nicht wie eine normale Verkühlung entwickeln wollte. Vielleicht hätte sie die Hustentropfen wirklich nicht nehmen sollen. "Sie haben die Verkühlung nur unterdrückt, aber nicht beseitigt", war Martha M. plötzlich überzeugt und verzichtete von nun an auf die Einnahme des Medikaments. Die Kollegin mit der schrillen Stimme hatte möglicherweise doch recht gehabt!
Montag morgen erschien Martha M. pünktlich wie immer im Büro. "Wie geht es dir?" fragte eine der Kolleginnen, "sind deine Halsbeschwerden schon besser?" "Ich fürchte, nein. Es kratzt noch genauso wie vorige Woche, wenn nicht noch stärker", erwiderte Martha M. "Dann solltest du tatsächlich zum Doktor gehen", meinte ihre Kollegin besorgt. Martha M. stimmte zu: "Ich werde mich heute zu einer Untersuchung anmelden." "Ach, ich gehe immer gleich zum Arzt. Sonst bekomme ich einen Termin in zehn Jahren", meinte Martha M.s Arbeitsgefährtin auffordernd. "Nein, wenn ich so hingehe, muß ich stundenlang warten, bis ich drankomme. Außerdem geht es bei meinem Arzt mit den Voranmeldungen recht schnell. Wenn ich heute anrufe, bekomme ich bestimmt morgen oder übermorgen einen Termin", war Martha M. zuversichtlich.
Martha M. sollte recht behalten. Die Ordinationsgehilfin ihres Arztes teilte ihr am Telefon mit, daß am darauffolgenden Tag ein Termin frei sei. Der Zeitpunkt war für Martha M. zwar nicht sehr günstig, da sie dafür früher vom Büro weggehen mußte. Nichtsdestotrotz sagte sie zu und plante, die verlorengegangene Arbeitszeit später einzuarbeiten. Sie ging alsbald, mit etwas weichen Knien, zu ihrem Vorgesetzten, der sich vor einiger Zeit über ihre Entschuldigung wegen des Zuspätkommens ärgerte, und bat, am nächsten Tag etwas früher weggehen zu dürfen, da sie zum. Arzt müsse. Sie erklärte ihm, daß sie die verlorengehende Arbeitszeit ein andermal einarbeiten wolle. Der Chef lächelte freundlich und meinte, daß ein so geringer Arbeitsverlust keine Rolle spiele, sie könne ruhig einmal früher gehen. Er erkundigte sich noch nach ihrem Leiden, Martha M. erklärte es ihm kurz und ohne recht auf ihre Schilderung hingehört zu haben, wünschte der Chef Martha M. baldige Besserung. Erleichtert verließ sie sein Arbeitszimmer und erzählte ihrer Kollegin über die Großzügigkeit des Chefs, der ihr die verlorene Arbeitszeit sozusagen schenkte. Die anderen Mitarbeiterinnen der Abteilung teilten Martha M.s naives Wohlwollen dem Alten gegenüber nicht, sondern meinten, daß dies ja wohl selbstverständlich sei, daß er ein, zwei Stunden, die wegen eines Arztbesuches verlorengingen, nicht einarbeiten ließe. Dies sei doch das Mindeste an Kulanz insbesondere einer Angestellten gegenüber, die an Dienstbeflissenheit kaum zu übertreffen sei. Martha M. hörte nicht auf das Gemecker ihrer Kolleginnen, die die Freundlichkeit des Chefs, wie sie meinte, zum Anlaß nahmen, um sich über ihn zu ereifern, Sie vergrub sich stattdessen in ihren Akten, um, wenn schon nicht die Arbeitszeit, so zumindest die Arbeitsmenge einzuarbeiten. Sie arbeitete an diesem und am nächsten Tag so intensiv, daß sie dieses Ziel noch vor dem Aufsuchen des Arztes erreichte.
Als Martha M. den Warteraum ihres Hausarztes betrat, saßen dort schon zahlreiche Patienten, die ihrer Untersuchung harrten. Entgegen ihren Erwartungen, hatte Martha M. nun doch unter diesen hustenden, schneuzenden und von ihren Leiden erzählenden Personen zu warten. Hörte man diesen Leuten zu, konnte man den Eindruck gewinnen, sie alle hätten ein Martyrium hinter sich, dessen baldige Beendigung sie sich durch den Arztbesuch erhofften. Achtete man jedoch genauer auf ihre Reden, so mußte man feststellen, daß sie alle nur an Allerweltskrankheiten litten und offensichtlich große Genugtuung empfanden, in der Runde der anderen wartenden Patienten gerade ihr Leiden als ein besonders beschwerliches anzupreisen. Es schien, als wollten sie sich geradezu überbieten, ihre Krankheit als die leidvollste von allen darzustellen. Sie verfielen dabei in eine resignative Stimmung, die sie aber zu genießen schienen. Nur Martha M. und eine etwas ältere Patientin mischten sich nicht in diese Auktion von zur Schau gestellten Krankheiten. Wahrscheinlich glaubte die ältere Dame ebenso wie Martha M., daß ihre Krankheit keinen Höchstpreis erzielen würde.
Die Patienten verließen in Abständen von wenigen Minuten das Ordinationszimmer des Arztes. Lediglich ein alter Herr verweilte länger im Untersuchungsraum, aus dem er schließlich lachenden Gesichts heraustrat. Alsbald rief der Doktor Martha M.s Namen. Sie begrüßte ihn freundlich und auch der Arzt schien sich über ihren Besuch zu freuen. Er erkundigte sich nach dem Verlauf der Krankheit, weswegen sie ihn zuletzt aufgesucht hatte. Befriedigt ließ er sich schildern, daß sie bald nach Einnahme seiner verordneten Medikamente genas. Martha M. betonte dabei, daß es seine Therapie war, die die gewünschte Wirkung erzielte. Der Doktor wußte, daß dies eine Aufforderung für eine neuerliche wirkungsvolle Behandlung sein sollte. "Und wo fehlt's denn heute?" fragte er in väterlichem Ton. "Ich habe seit cirka zwei Wochen ein Kratzen im Hals, das nicht besser zu werden scheint. Ich glaube, es ist ein verschlagener Husten, der sich nicht löst. Um ehrlich zu sein, ich habe schon Hustentropfen genommen, aber es hat nichts genützt. Ich hab' mir gedacht, damit es nicht chronisch wird ..." "Ja, ja, das ist schon richtig! Sowas soll man nicht anstehen lassen", unterbrach sie der Mediziner, indem er ihr in ihrer Entscheidung, ihn aufzusuchen, zustimmte. "Lassen wir mal sehen", sagte er, während er zu einem Stückchen Holz griff, daß Martha M. an die Griffe der Eislutscher erinnerte, die sie in ihrer Kindheit ab und zu geschleckt hatte. Sie öffnete ungefragt ihren Mund, er drückte ihr mit dem Spatel auf die. Zunge und forderte sie auf, laut "Aah" zu sagen. Folgsam antwortete Martha M. "Aaahh“. "Aaahh", wiederholte der Doktor auffordernd und blickte konzentriert in den hell erleuchteten Rachen seiner Patientin. Martha M. wiederholte: "Aaahh". "Ja, man sieht nicht viel. Ihr Hals ist leicht errötet, aber es ist nichts Besonderes. Verschleimt sind Sie überhaupt nicht", stellte der Arzt fest. "Das hat mich auch gewundert, es kommt überhaupt nie Schleim hoch", stimmte Martha M. zu. "Sie haben eine leichte Halsentzündung, die geht in ein paar Tagen vorüber. Ich verschreibe Ihnen eine Flüssigkeit zum Gurgeln, damit spülen Sie Ihren Hals dreimal pro Tag oder auch öfter. Außerdem bekommen Sie Lutschtabletten, von denen können Sie alle paar Stunden eine nehmen. Sie werden sehen, nach einigen Tagen ist alles vorbei. Sollten Sie in einer Woche noch keine Besserung verspüren, kommen Sie wieder zu mir. Dann schießen wir halt mit stärkeren Kanonen, aber das wird bestimmt nicht nötig sein!" Während er dies sagte, kritzelte der Arzt sein Rezept auf einen Zettel. Martha M. bedankte sich, schüttelte dem Mediziner die Hand und verließ beruhigt das Untersuchungszimmer. Sie erinnerte sich an ihre Kollegin, die ihr ebenfalls ein Gurgelwasser empfohlen hatte. Der Name des auf dem Rezept stehenden Medikaments hatte aber keine Ähnlichkeit mit dem Namen des von der Kollegin empfohlenen Gurgelwassers, sodaß Martha M. annahm, daß es sich um eine andere Arznei handelte. Sie besorgte sich in der Apotheke die verordneten Medikamente und ging damit heim.
In den folgenden Tagen gurgelte Martha M. in der Früh, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam und. vor dem Schlafengehen mit der Arznei, die für kurze Zeit ein leichtes Brennen in ihrem Rachen hervorrief, das sie aber als erleichternd und wohltuend empfand. Außerdem lutschte sie regelmäßig ihre Tabletten. Das Halskratzen schien sich jedoch nicht zu bessern. Die Woche verging und Martha M. hatte noch keinen neuerlichen Termin beim Arzt. Um nicht nochmals Arbeitszeit zu verlieren - sie wagte es nicht, abermals den Chef um Erlaubnis zu fragen, früher von der Dienststelle gehen zu dürfen, um nicht den Eindruck zu erwecken, seine Gutmütigkeit ausnutzen zu wollen - suchte sie eines Tages nach Dienstschluß unvorangemeldet die Ordination des Arztes auf. Zu ihrem Erstaunen mußte sie gar nicht so lange warten, wie sie angenommen hatte. Der Arzt rief sie wieder mit ihrem Namen, begrüßte sie und fragte: "Wie geht es Ihnen, ist der Hals noch nicht in Ordnung?" "Ehrlich gesagt, es hat sich überhaupt nichts verändert. Ich habe jeden Tag gegurgelt und die Tabletten genommen, aber es hat anscheinend überhaupt nichts gewirkt", antwortete Martha M. "Wie geht es Ihnen sonst? Fühlen Sie sich schwach oder müde?" fragte der Arzt aufs Neue. "Nein", erwiderte Martha M., "eigentlich nicht. Ich fühle mich sonst recht gut". Der Arzt nahm wieder einen Holzspatel, forderte seine Patientin auf, den Mund zu öffnen, was sie auch tat und er blickte ihr in den Rachen, während er mit dem Holz die Zunge niederdrückte. Diesmal sah er sehr genau, schüttelte dann leicht den Kopf und meinte: "Ich kann nicht viel erkennen. Ihr Hals ist zwar noch immer etwas gerötet, aber daß das solche Beschwerden hervorruft, wundert mich. Möglicherweise sitzt die Entzündung etwas tiefer." Er nahm ein löffelähnliches Gerät aus blitzendem Metall zur Hand, drückte nochmals mit dem Hölzchen auf ihre Zunge und spiegelte mit dem glänzenden Metall ihren Hals aus. Unaufgefordert preßte Martha M. ein langes "Aaah..." heraus, was dem Arzt eine sublim-zustimmende Mimik entlockte, während er gebannt auf den Kehlkopfspiegel blickte, den er im Rachen der Patientin ganz fein hin- und herschwenkte. Nachdem er die Untersuchung beendet hatte, stellte er fest: "Es ist wirklich nicht viel zu erkennen. Gurgeln Sie weiter mit der Flüssigkeit, die ich Ihnen das letzte Mal verordnet habe und ich verschreibe Ihnen jetzt noch Tabletten, die Sie in der Früh und am Abend nehmen sollen. Das ist ein etwas stärkeres Mittel, aber da Sie ja jetzt schon drei Wochen krank sind, müssen wir schauen, daß die Halsbeschwerden bald wieder gut werden. Sie sollten die Tabletten mindestens eine Woche einnehmen und dann kommen Sie wieder zu mir. Trinken Sie in der nächsten Zeit nichts Kaltes." Martha M. bedankte sich, nahm das Rezept entgegen und ließ sich für einen Termin in der kommenden Woche vormerken.
Die Tage vergingen, einer wie der andere. Die Halsbeschwerden Martha M.s besserten sich nicht, trotz der Medikamente, die sie regelmäßig einnahm. Sie hatte sogar den Eindruck, daß das Kratzen im Hals schlimmer wurde. Es entwickelte sich immer mehr zu einem Brennen, als hätte sie ihren Hals verätzt. Nicht, daß sie es als sehr schmerzhaft empfunden hätte, aber es war unangenehm. Martha M. hatte schon ihre Flüssigkeit, die sie fürs Gurgeln verwendete, in Verdacht, daß sie die Ursache für die Verschlechterung ihrer Beschwerden war. Durch die lange Anwendung dieses Mittels könnte ihr Hals schon so gereizt sein, daß allein dadurch das Brennen stärker statt schwächer würde, fürchtete sie.
Sie merkte auch, daß sie immer nervöser und mürrischer wurde. Da ihre Erkrankung schon fast einen Monat dauerte , war ihre Laune merkbar beeinträchtigt. Sie schlief oft schlecht, war untertags grantig und konnte sich schlechter als gewöhnlich konzentrierte. Sie merkte, irgend etwas ging mit ihr und in ihrem Körper vor. Sie hatte ansonsten keine besonderen Beschwerden; Kopfschmerzen, unter denen sie sonst häufig litt, hatte Martha M. fast überhaupt keine mehr. Sie litt weder an einer richtigen Verkühlung und eine Grippe hatte sie schon gar nicht. Sie hatte weder Fieber noch sonstige Symptome, die eine Grippe angezeigt hätten. Aber irgend etwas stimmte nicht mit ihr!
Auch die nächste Konsultation bei ihrem Arzt ergab nichts Neues. Seine Ratlosigkeit überspielte der Mediziner durch die Beruhigung, daß es keine Krankheit von Bedeutung sein könne, sowie durch, die Empfehlung, die Tabletten weiterhin einzunehmen, da für eine ausreichende Wirkung noch zu wenig Zeit verstrichen sei. Die Flüssigkeit fürs Gurgeln solle sie aber nicht mehr verwenden; offensichtlich hatte auch der Doktor die Befürchtung, daß die Anwendung dieses Medikaments über einen längeren Zeitraum hinweg negative Folgen haben könnte. Er empfahl seiner Patientin, nach einer Woche abermals seine Ordination aufzusuchen. Sollte sich bis dahin noch immer keine Besserung eingestellt haben, würde er sie an einen Facharzt überweisen.
Martha M. glaubte nicht mehr an einen Erfolg der Therapie Ihres Arztes und war sich bereits gewiß, sich bald in die Behandlung eines Facharztes begeben zu müssen. Trotz ihrer Skepsis schluckte sie aber weiterhin ihre Tabletten. Tatsächlich änderte sich nach einigen Tagen die Art der Halsbeschwerden. Sie hatte nun eher die Empfindung als sei ihr Hals rauh und dumpf. Das Brennen und Kratzen verschwand zwar nicht völlig, trat aber mehr in den Hintergrund. Die Beschwerden empfand sie nicht mehr als so lästig und störend, wie in den vorangegangenen Wochen. Ihre Stimmung hellte sich folglich wieder auf, sie war nicht mehr so müde und konnte untertags wieder fast ungestört ihrer Tätigkeit nachgehen. Obwohl der Halsreiz andauernd spürbar war, gelang es ihr, ihn weitestgehend zu ignorieren. Selbst in der Nacht konnte sie wieder besser schlafen.
"Ich glaube, du bist wieder gesund", meinte daher eines Tages die Schrille. "Nein, ich fühle mich schon besser, aber mein Hals ist noch furchtbar rauh. Wahrscheinlich muß er schon ganz wund sein", erwiderte Martha M. "Laß mal sehen", forderte die Kollegin, indem sie ihre Augen nahe zu Martha M.s Mund wandte. "Ach, du wirst nichts sehen. Ich habe schon im Spiegel geschaut, man sieht nichts, der Hals ist ganz normal." Mit diesen Worten wollte Martha M. ihre Kollegin von einem Blick in das Innere ihres Mundes abhalten. Sie genierte sich schrecklich, wenn andere zu sehr in ihre Intimsphäre eindrangen. Martha M. liebte es nicht, wenn jemand in das Innere ihrer Seele Einblick nehmen wollte, aber fast noch mehr gehemmt war sie, wenn andere ihren Körper oder Teile davon zu genau inspizierten. Schon gar nicht wollte sie, daß eine Kollegin in ihren Rachen Einblick nehmen sollte. Bei Ärzten hatte Martha M. diesbezüglich weniger Hemmungen. Schließlich war es deren Beruf, in die schleimigen Abgründe ihrer Patienten zu blicken und die unappetitlichsten Stellen ihrer Körper zu untersuchen. Ihnen würde daher vor nichts mehr ekeln, da sie schon von den vielen von ihnen untersuchten Patienten abgestumpft seien. Aber was würde sich eine Kollegin denken, sollte sie den herunterhängenden Speichel in ihrer Mundhöhle sehen, die Zähne, von denen schon einige durch Plomben verunstaltet waren, und womöglich waren auch noch irgendwelche Speisereste in den Winkeln und Ausbuchtungen ihres Kauwerkzeugs versteckt! Am peinlichsten war Martha M. aber, daß die Kollegin mit der Nase ihrem Mund zu nahe kommen und von ihrem Atem den Geruch wahrnehmen würde.
Der Aufforderung der Kollegin nicht Folge zu leisten, hatte Martha M. auch wieder nicht den Mut und während also all diese Befürchtungen gleichzeitig auf sie hereinstürzten, öffnete sie schon ihren Mund, sog aber, solange sie konnte, unhörbar Luft ein, um die Begutachterin sowenig wie möglich mit ihrer Atemluft zu konfrontieren. "Die wird sich jetzt was Schönes denken, aber natürlich zeigt sie es nicht!" dachte Martha M. während die Schrille feststellte, daß Martha M.s Hals keinerlei Zeichen von Rötung aufwies. "Du wirst schon sehen, in ein paar Tagen bist du wieder völlig in Ordnung. Das sind jetzt noch die Nachwirkungen", beruhigte sie Martha M. Tatsächlich ließ sich die Schrille nichts anmerken, daß ihr die Expedition in Martha M.s Rachen unangenehm gewesen wäre oder daß ihr davor geekelt hätte.
"Daß es in ein paar Tagen gut sein wird, höre ich nun schon seit Wochen", erwiderte Martha M. ungläubig. Hinzufügend meinte sie noch: "Mir hat schon der Arzt bei meinem ersten Besuch gesagt, daß ich bald gesund, sein werde. Aber das ist etwas Hartnäckiges. Wer weiß, was es wirklich ist. Eine normale Erkältung kann es nicht sein. Wahrscheinlich ist es überhaupt keine Erkältung." "Ach, was soll es denn sonst sein?" fragte die Kollegin mit der schrillen Stimme, die aber in diesem Moment gar nicht so schrill klang. "Du hast ja selbst gesagt, daß es schon viel besser ist", unterstrich sie noch ihre tröstend gemeinte Frage. "Was heißt schon ´besser´, es ist anders. Das Gefühl im Hals hat sich verändert. Es ist als wäre er ganz wund." Martha M. mochte den Optimismus ihrer Arbeitsgefährtin nicht teilen. Die Schrille jedoch wollte von ihrem zuversichtlichen Standpunkt nicht abrücken: "Ich habe doch überhaupt nichts gesehen. Dein Hals sieht ganz normal aus, es kann schon nicht so schlimm sein." "Eben, das ist es ja", sagte Martha M., "man sieht fast nichts und trotzdem sind die Beschwerden da." Martha M.s Kollegin sah ein, daß es ihr offensichtlich doch noch nicht so gut ging, wie es den Anschein hatte, und sie beendete daher das Gespräch, mit ein paar aufmunternden Antiresignationsfloskeln.
Martha M.s Gedanken kreisten manchmal häufiger, manchmal seltener um ihre Erkrankung. Sie glaubte nun endgültig nicht mehr daran, daß es sich um eine Erkältung handelte. Aber was konnte es sein? Ihre Hoffnung richtete sich nun auf den Facharzt, den sie bald konsultieren würde. Auch die Tatsache, daß die Beschwerden nicht mehr so unangenehm waren, stimmte sie manchmal zuversichtlicher.
Der Frühling war mittlerweile in vollster Blüte und Martha M. genoß die warme Sonne. Am Wochenende unternahm sie wieder einen ihrer ausgedehnten Spaziergänge. Bei diesem Wetter mußte es einem ganz einfach besser gehen! Martha M. fühlte sich wohl und in der ergrünenden Natur empfand sie zeitweise sogar ein fast euphorisches Gefühl. Sie sog die Freundlichkeit der sie begegnenden Menschen ein und teilte mit ihnen die Freude am sich ausbreitenden jungen Leben. Die Krankheit verschwand hinter knospenden Bäumen und Büschen, im Lachen spielender Kinder und in der Melodie schwatzender Vogelpärchen. Zu Hause trat sie jedoch wieder aus den stumm, ins Zimmer starrenden Kästen und Schränken hervor. Der Spaziergang hatte sie ermuntert, aber abends war sie wieder mit ihren Halsbeschwerden allein.
Einige Tage später war Martha M. abermals bei ihrem Arzt. Er freute sich, daß sich ihre Beschwerden offensichtlich gebessert hatten, da sie seine Patientin anscheinend weniger beeinträchtigten als noch in der Vorwoche. Dessenungeachtet mußte er sie einem Spezialisten überweisen, da Martha M. über ein dumpfes Gefühl in ihrem Hals klagte, für das er keine Erklärung fand, vor allem aber, weil ihn Martha M. an sein Versprechen erinnerte, sie im Falle, daß sie noch nicht gesund sei, zu einem Facharzt zu schicken. Er schrieb den Überweisungsschein und empfahl ihr einen Laryngologen, der sogar einen Lehrstuhl an der Universität hatte. Sie müsse bei ihm zwar mit einer mehrwöchigen Wartezeit rechnen, dafür sei er aber ein sehr genauer und. gewissenhafter Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten. Er kenne jedenfalls keinen besseren, versicherte ihr der Doktor.
Martha M. überlegte nun, ob sie sich tatsächlich für diesen Mediziner entscheiden sollte, wobei sie sehr lange bis zur Untersuchung zu warten hätte, oder ob sie zu einem anderen, vielleicht weniger erfahrenen Arzt gehen sollte, bei dem sie jedoch schon für einen der nächsten Tage einen Termin zugewiesen bekäme. Nach längerem Überlegen - Martha M. ist nie sehr entschlußfreudig gewesen - entschied sie sich dafür, in der Ordination des Universitätsprofessors anzurufen, um sich zu erkundigen, wann der nächste Termin frei sei. Im Stillen hoffte sie, daß vielleicht doch schon bald eine Gelegenheit für eine Untersuchung bestünde; es könnte ja zum Beispiel ein anderer Patient ausgefallen sein. Sie wählte die Nummer des Professors und Martha M. fragte die weibliche Stimme am anderen Ende der Telefonleitung, wann der nächste freie Untersuchungstermin sei. Die Stimme nannte ihr einen Zeitpunkt in cirka drei Wochen. Martha M. zögerte; einerseits sind drei Wochen eine lange Zeit, wenn man an einer Erkrankung leidet, andererseits hatte sie sich eigentlich einen noch späteren Termin erwartet. Die Stimme fragte freundlich, ob sie Martha M. für diesen Termin vormerken dürfe. Martha M. konnte jene nicht länger warten lassen, sie fühlte, daß sie sich schnell entscheiden müsse. Schweißperlen quollen auf ihrer Stirn hervor und, obwohl sie lieber abgelehnt hätte, sagte sie doch zu. Sie wollte die Stimme aus der Ordination des Professors nicht enttäuschen, insbesondere sie diese doch mit ihrem Telefonat belästigt hatte. Außerdem, mit welcher Begründung hätte sie jetzt ablehnen sollen? Sie konnte doch nicht plötzlich sagen, ihre Krankheit sei gar nicht so schlimm - das wäre unglaubwürdig! Wozu hätte sie dann angerufen? Zu sagen, sie gehe lieber zu einem anderen Arzt, wäre ihr peinlich gewesen, sie wollte die Stimme aus des Professors Ordination doch nicht vor den Kopf stoßen?
Nachdem sie den Telefonhörer aufgelegt hatte, ärgerte sich Martha M., daß sie den Termin angenommen hatte. Sie war erzürnt, weil sie nun drei Wochen mit ihren Beschwerden würde warten müssen, noch viel mehr aber ärgerte sie sich darüber, daß sie nicht den Mut aufgebracht hatte, dies der Stimme am Apparat mitzuteilen und ihr zu sagen, daß sie in diesem Fall auf die Untersuchung beim Professor verzichte. Doch Martha M. war ihr Verhalten nicht neu. Sie konnte sich nie überwinden, jemandem eine Absage zu erteilen. Auch ihre Verärgerung darüber war nichts Besonderes. Sie folgte stets, wenn sich Martha M. von jemand anderem überreden ließ, oder besser gesagt, wenn sie sich von ihrer eigenen Feigheit hinreißen ließ, eine Entscheidung zu treffen, die sie gar nicht wollte.
In den Wochen bis zur Untersuchung beim Facharzt änderte sich am Zustand Martha M.s nicht viel. Das dumpfe Empfinden im Hals blieb, nahm aber die Form eines leichten Druckgefühls an. Martha M. erwartete fast sehnlich den Tag, an dem sie den Professor aufsuchen würde, von dem sie sich endlich eine Heilung ihres zwar nicht sehr schmerzhaften, aber doch äußerst lästigen Leidens erhoffte.
Martha M. betrat den Warteraum der Ordination des Laryngologen, der von seiner Einrichtung gar nicht an den Warteraum eines Arztes erinnerte. Die hohen Wände des Zimmers waren mit Tapeten aus einem kräftigen Papier bedeckt, die den Eindruck erweckten, als würden sie schon viele Jahre hier kleben. Die Sessel waren mit einem gemusterten Stoff überzogen, dem anzusehen war, daß darauf schon zahlreiche Patienten unruhig auf ihre Untersuchung gewartet hatten. Dem Stil zufolge schätzte Martha M., daß die Sessel, der Tisch und das restliche Mobiliar, das sich im Warteraum befand, aus der Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts stammten. Dies würde auch zum gesamten Haus, in dem sich die Ordination befand, passen, welches auch zu dieser Zeit errichtet worden sein dürfte. Die dicken Vorhänge vor den Fenstern und vor der Tür zum Untersuchungszimmer, alle in einem verblaßten Kardinalrot und bis zum Boden herabhängend, vermittelten einen etwas stickigen Eindruck, der jedoch zu der angenehm kühlen Luft des Raumes im Widerspruch stand.
In dem großen Zimmer verloren sich einige Patienten, durchwegs ältere Leute, die stumm, zumeist in Zeitschriften blätternd, auf ihre Untersuchung warteten. Obwohl Martha M. etwas nervös war, behagte ihr die Atmosphäre in dieser Räumlichkeit. Nach einigen Minuten des Schweigens nahm auch sie ein Journal zur Hand und sah sich die vielen Fotografien an. Bilder von fremden Landschaften, Städten und Menschen wechselten sich mit ganzseitigen Inseraten für pharmazeutische Produkte ab. Diese Werbungen hatten zwar primär den Zweck, die Ärzte, an die sich das Journal wandte, zur Anwendung und Verordnung des gerade dargestellten Medikaments zu überreden, bewirkten aber gleichzeitig bei den Patienten - die Zeitschrift war ja in zweiter Linie dazu gedacht, in den Wartezimmern der ärztlichen Ordinationen aufgelegt zu werden - das Gefühl, sich in der Obhut eines gutinformierten und somit kompetenten Mediziners zu befinden. Patienten, die sich die Werbeeinschaltungen genauer ansahen, konnten dann auch gleich ihren Arzt auf dieses oder jenes Medikament hin ansprechen, was ebenfalls den Verkaufszahlen der einzelnen pharmazeutischen Produkte nicht gerade abträglich sein sollte.
Martha M. interessierte sich jedoch nicht für die Inserate, sie begann vielmehr einen Bericht über ein fernes Land im Himalaya zu lesen. Allerdings war sie zu nervös, um sich richtig konzentrieren zu können, und so hatte sie, obwohl sie Wort für Wort las, zum Schluß nicht die geringste Ahnung vom Inhalt des eben gelesenen Textes. Sie war zu gespannt, was die Untersuchung ergeben würde. Martha M. betrachtete die äußerst farbenfrohen Bilder, die neben dem Text zu sehen waren, und erinnerte sich, wie sie selbst in ihren Träumen weite Reisen in fremdartige Länder unternommen hatte, in Wirklichkeit aber kaum jemals über die Grenzen ihres Heimatlandes hinausgekommen ist.
Martha M. wurde aufgerufen. Sie verschwand hinter dem Vorhang, der die Tür zum Ordinationszimmer verdeckte. Der Professor begrüßte seine Patientin in einer nicht unsympathischen Art, die jedoch eine gewisse kühle Distanziertheit ausstrahlte. Die Erscheinung und die Weise, wie er mit ihr umging, erinnerte sie vom ersten Augenblick an an ihren Hausarzt, der sie hierher geschickt hatte, aber auch an einige andere Mediziner, die sie in früheren Jahren aufgesucht hatte. "Auch wenn ich nicht wüßte, wer er ist, unter hundert Menschen hätte ich ihn sofort als Arzt erkannt", dachte sich Martha M. Die meisten Arzte hatten das gleiche Aussehen: sie waren mittleren Alters, grau meliert mit einem exakten Haarschnitt, glatt rasiert, hatten einen dezent gebräunten Teint, sie waren groß, wirkten sportiv und kräftig, aber nicht zu kräftig, sie strahlten Ruhe aus und verbreiteten den Schein von Kompetenz. Das hohe Ordinationszimmer des Professors, das fast zur Gänze weiß möbliert war, erweckte eher den Eindruck eines wissenschaftlichen Labors als den eines Untersuchungszimmers. Martha M. fiel die scharfe Kinnkante des Professors auf, der ein ernster und souveräner Mensch zu sein schien. Er wirkte in seinem Arbeitsraum noch ärztlicher als ihr Hausarzt.
Er erkundigte sich nach ihrer Erkrankung und forderte sie auf, den Verlauf genau zu schildern. Martha M. folgte dieser Aufforderung mehr, als dem Mediziner lieb war, denn sie schilderte ihm alles bis ins kleinste Detail, sie berichtete von ihrem Hausarzt und von den erfolglos angewendeten Medikamenten. Der Professor bot ihr nun einen drehbaren Sessel, der mit einem weißen lederähnlichen Kunststoff bezogen war, an und befahl ihr, den Mund weit zu öffnen. Daraufhin leuchtete er mit einem grellen Licht in ihren Rachen und stocherte in ihm mit seinem blinkenden Metallwerkzeug herum. Der Arzt sprach etwas von einer "harmlosen Halsentzündung". Ihre Verneinung auf seine Frage, ob sie unter Heiserkeit, Husten oder Fieber gelitten hätte, bestätigte seine Ansicht, daß es sich nur um eine unbedeutende Schleimhautreizung handelte. Er nahm einen Bausch zur Hand, tauchte ihn in eine braune Flüssigkeit und erklärte seiner Patientin, daß er sie nun auspinseln würde, was einen Moment ein starkes Brennen in ihrem Hals hervorrufen würde. Er betupfte damit die erröteten Halsschleimhäute, was auch das angekündigte Brennen bewirkte. Anschließend erklärte er ihr, daß sie noch zwei Mal im Abstand von je zwei Tagen zu ihm kommen müsse, um nochmals ausgepinselt zu werden. Außerdem verschrieb ihr der Mediziner Nasentropfen.
Der Geruch nach chemischer Reinheit des Ordinationszimmers, der weiße Mantel des Arztes, vor allem aber die Art, wie er sprach, der prägnant-wohlwollende Tonfall in seiner Stimme, lösten bei Martha M. ein euphorisches Gefühl der Gewißheit über den Erfolg der Behandlung und das baldige Ende ihrer Krankheit aus. Ja, ihr erschien die Krankheit selbst plötzlich als Kleinigkeit und eigentlich müßte sie sich schämen, daß sie diesen Wissenschafter, der doch viel Wichtigeres zu tun hatte, damit belästigte. Dieses Gefühl hielt auch noch nach Verlassen der ärztlichen Ordination an, flaute dann langsam ab, um sich schließlich nach einiger Zeit in Zweifel über die Fähigkeit des Arztes, die Krankheit bezwingen zu können, umzuwandeln. Innerhalb einer Stunde schlug der freudige Gipfel der Euphorie in die Tiefe der Depression um, die sich erst am nächsten Tag zu einem Zustand klareren Betrachtens ihrer Situation entwickelte.
Martha M. befolgte den Rat ihres Arztes und am dritten Behandlungstag meinte er, daß die Rötung schon fast zur Gänze verschwunden sei, daß sie die Nasentropfen aber weiterhin verwenden solle. Zur Kontrolle möge sie wieder in circa zehn Tagen bei ihm erscheinen.
Die Behandlung schien Wirkung zu zeigen. Das Brennen im Hals verschwand gänzlich. Allerdings hatte sie den Eindruck, daß der dumpfe Druck dafür stärker wurde. Wenige Tage nach dem letzten Besuch beim Professor saß Martha M. abends bei Tisch und machte sich daran, ihr Abendessen zu verzehren. Wie gewöhnlich hatte sie sich Brote zubereitet, die sie an diesem Abend mit etwas Schinken belegte. Dazu wollte sie ein Glas Milch trinken. Da sie kalte Flüssigkeiten mied, um nicht ihre Halsentzündung aufs neue zu reizen, wärmte sie die Milch am Herd.
Sie spürte deutlich einen Druck im Hals. Nachdenklich schob sie ein Stück Brot in den Mund, biß ab, kaute und wollte es auch schon hinunterschlucken. Doch es ging nicht! Das Brot rutschte nicht durch ihren Schlund. Martha M. setzte nochmals zum Schlucken an, aber das Brot wollte nicht hinuntergleiten. Sie schluckte noch ein drittes, ein viertes Mal, immer kräftiger, fast versuchte sie schon das Brot hinunterzupressen. Der Schrecken fuhr ihr durch alle Glieder, in Panik sprang
sie auf, riß das Glas mit der Milch an sich, füllte sich den Mund mit der molligen weißen Flüssigkeit und schluckte kräftig - einmal, zweimal. "Ahh“, endlich war der Bissen unten! Die Angst noch in ihren Gliedern, setzte sich Martha M. wieder auf ihren Sessel und beruhigte sich langsam. Sie spürte Wärme von ihrem Magen aufsteigen, die sich im Halsbereich fast zu einem Hitzen verdichtete und sich über den ganzen Körper ausbreitete. Nach einigen Minuten erholte sie sich von dem Schrecken. "Was war denn das?" fragte sie sich, aufs höchste beunruhigt. "Hoffentlich kommt das nicht wieder!" Nach einigem Zögern nahm sie wieder einen Bissen Brot, diesmal zur Sicherheit einen sehr kleinen, und konzentrierte sich nun genau auf den Schluckakt. Würde es jetzt wieder nicht klappen? Und wirklich! Der Bissen blieb abermals stecken. Diesmal schon darauf vorbereitet, geriet sie nicht so in Panik, sondern nahm einen Schluck Milch und ihr Körper beförderte das zerkaute Brot in den Magen. "Das gibt es doch nicht - ich werde doch noch schlucken können!" sprach sich Martha M. Mut zu und biß wieder ein größeres Stück ab, nachdem sie einige Zeit mit dem Essen innegehalten hatte. Sie kaute lange daran, um es gut mit Speichel zu vermischen und es dadurch schlüpfriger zu machen. Während sie zum Schluckakt ansetzte, versuchte sie sich innerlich zu beruhigen. Doch der Bissen blieb wieder stecken. Er schien ihr die Speiseröhre zu verstopfen. Er ging nicht hinunter, aber auch nicht zurück. Martha M. versuchte ihn zu erbrechen. Sie sprang auf und lief zur Abwasch. Es ging nicht! Noch panischer als zuerst, gelang es ihr diesmal nicht, den Bissen mit Milch hinunterzuspülen. Schon hatte sie den Eindruck, ersticken zu müssen und wollte zur Nachbarin laufen. Ihr Würgen war nur noch ein verkümmerter Versuch, das Stückchen Brot aus dem Hals zu bekommen - in den Magen oder heraus, das war ihr egal. Kopflos lief sie schon zur Wohnungstür, wollte aufsperren und. auf den Gang laufen, rannte plötzlich zur Abwasch zurück, drehte den Hahn auf, hielt den Mund darunter und schlürfte Wasser in sich hinein. Sie schluckte und schluckte - der Bissen war unten!
Sie lehnte sich an den Rand, der Kredenz, atmete tief und schnell und starrte gedankenlos auf die weißlichgelbe Wand. Als sie sich wieder etwas gefaßt hatte, war ihr ganz nach Weinen zumute. Jetzt konnte sie nicht einmal mehr schlucken! "Die einfachste Sache der Welt, und ich kann nicht einmal mehr das!" redete sie sich ein. Sie wollte Tränen herauspressen, doch es mißglückte. Sie legte ihre Hände über das Gesicht, konnte aber ihre Gedanken nicht recht in eine bestimmte Richtung lenken. Sie spürte plötzlich, daß sie auch künftig nicht mehr würde schlucken können.
Als Martha M. wieder bei ihrem Tisch saß, wußte sie nicht recht, ob sie es wagen sollte, wieder weiterzuessen oder ob sie sich nur mit der Milch begnügen sollte. Da dies das Problem aber nur hinausschieben würde - schließlich müsse sie wieder einmal feste Nahrung zu sich nehmen - entschloß sie sich dazu, kleinste Stücke abzubeißen und gleich mit etwas Flüssigkeit hinunterzuspülen. Dies funktionierte auch einigermaßen. Nachdem sie die Speise fest zerkaut hatte, nahm sie Milch in den Mund und würgte die damit verflüssigte Nahrung in den Magen. Sie mußte zwar bei manchem Bissen mehrmals schlucken, doch konnte sie auf diese Weise ihr Nachtmahl langsam verzehren.
Einige Zeit, nachdem sie ihr Abendessen beendet hatte, spürte Martha M. noch immer etwas im Hals. Es war, als steckte noch ein Stück darin. Sie schluckte immer wieder, doch es löste sich nicht. Auch Wasser, das sie, bald schluckweise, bald in größeren Mengen trank, half nichts. Weder stellte sich Atemnot ein noch tat es ihr weh, aber es beunruhigte sie, daß offensichtlich ein Stück Brot im Hals steckengeblieben war und nicht in die bäuchlings gelegenen Verdauungsorgane rutschen wollte. In diesem Zustand legte sich Martha M. ins Bett.
Die Nacht konnte sie kaum schlafen, das Stück im Hals stieg ihr ständig ins Bewußtsein. Am Morgen stand sie wie gerädert, mit dem Druckgefühl im Rachen, auf. Sie hoffte, mit dem Frühstück den vom Vorabend noch im Hals befindlichen Speiserest hinunterschlucken zu können, doch konnte sie die Frühmahlzeit selbst kaum hinabwürgen. Einmal befiel sie fast wieder Panik, die sie jedoch schnell mit etwas Tee hinunterspülte. Sie konnte das Frühstück nur so langsam zu sich nehmen, daß sie die Hälfte stehen lassen mußte, um rechtzeitig zum Bus zu kommen!
Wie wird das nur im Büro sein, wenn sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen, wie üblich, die gemeinsamen Mahlzeiten zu sich nehmen würde? Sie kann doch nicht sagen, sie könne nicht mehr schlucken! "Nein, das ginge nicht, die würden mich glatt für verrückt halten", dachte Martha M. "Ich kann heute nicht essen gehen; ich werde sagen, ich habe keinen Hunger - oder, ich fühle mich vom Magen her nicht wohl", überlegte sie.
Das tat sie dann auch. Ihre Kolleginnen bemitleideten sie, daß sie zu ihren Halsbeschwerden nun auch noch Magenverstimmung hätte. In einer kurzen Arbeitspause nahm Martha M. ein kleines Gabelfrühstück zu sich, das sie bissenweise mit Kaffee hinunterspülte. Eine gerade anwesende Mitarbeiterin wunderte sich zwar etwas, daß Martha M. - ansonsten keine große Kaffeefreundin - gerade an jenem Tag, an dem ihr vom Magen übel war, besonders viel Kaffee zu sich nahm, aber weiters fiel Martha M.s Eßverhalten niemandem auf. Glücklicherweise war sie vorsichtig genug, sodaß sie keine so starken Schluckstörungen wie am Vortag provozierte und folglich nicht vor ihren Kolleginnen in Panik geriet.
Wieder zu Hause, kochte sich Martha M., mittlerweile schon ziemlich hungrig, Suppe und Erdäpfel, die sie mit Butter und Salz zu sich nehmen wollte. Sie hoffte, daß sie die Erdäpfel leichter schlucken könne. Obwohl sie zu jedem Bissen einen Schluck Tee trank, steckten die Erdäpfel immer wieder im Hals. Schließlich zerdrückte sie diese mit einer Gabel und aß sie langsam auf.
Als Martha M. wieder satt war, konnte sie erstmals über ihre neue Krankheit lachen. Gleichzeitig fiel ihr auf, daß das Fremdkörpergefühl im Hals, das sie jetzt dauernd begleitete, möglicherweise eben nur ein Gefühl sei, und daß in Wirklichkeit gar nichts steckte. Eigentlich war es unlogisch anzunehmen, daß eine Speise so lang im Hals verharren könne, ohne sich mit der Zeit aufzulösen. Doch als sie wieder zur Probe etwas Festes schlucken wollte, war ihr klar: da steckt etwas im Hals! Möglicherweise hatte sie etwas Hartes verschluckt, das nun nicht durch ihren engen Schlund hindurch konnte!
Am folgenden Morgen merkte sie beim Frühstück, daß sich nichts geändert hatte. Obwohl sie extra einen weichen Striezel besorgt hatte, konnte sie diesen nur mit größter Mühe schlucken, indem sie den Schluckakt sehr bewußt vollführte. Sie tauchte nun den Striezel stückchenweise in den warmen Kaffee, um ihn aufzuweichen und dadurch schluckbarer zu machen. Obwohl ihr vor der gatschigen Masse grauste, zwang sie diese hinunter. Richtig feste Nahrung zu sich zu nehmen, schien ihr fast unmöglich. Aus diesem Grund lehnte sie dann auch im Büro die Aufforderung der Arbeitskollegen, mit ihnen essen zu gehen, ab und versuchte heimlich, weiche Nahrung zu sich zu nehmen. Verzweifelt wendete sie sofort nach Dienstschluß ihre Schritte in Richtung Ordination des Professors, wo sie von der Ordinationsgehilfin etwas erstaunt empfangen wurde, da Martha M. einige Tage vor dem geplanten Termin erschien. Die Dame wollte sie auch darauf aufmerksam machen, doch Martha M. ersuchte darum, noch am selben Tag vom Professor untersucht zu werden, da es sich um eine dringende Angelegenheit handelte. In wenigen Worten schilderte sie auch der Ordinationsgehilfin, was in der Zwischenzeit vorgefallen war. Dabei schob sie der Dame ein kleines Päckchen zu, das sie hastig auf dem Weg zum Professor besorgt hatte. Das in weißes Papier eingewickelte und mit einem gelben Band verschnürte Päckchen enthielt Konfekte, von denen Martha M. hoffte, daß dies der Ordinationsgehilfin eine kleine Freude bereiten würde. Oder, daß sie zumindest so tue, als würde es ihr Freude bereiten. Denn dann müsse sie wohl oder übel Martha M.s Wunsch, noch am selben Tag zu einer Untersuchung vorgelassen zu werden, nachkommen. Auch für den Professor selbst wollte sie etwas mitnehmen, doch konnte sie in ihrer Hast nichts Geeignetes finden. Zu Martha M.s Erleichterung wurde das Päckchen mit Dank angenommen und auch der baldige Untersuchungstermin war organisiert. Sie mußte gar nicht lange warten, und Martha M. wurde vom Professor aufgerufen.
Nachdem der Arzt Martha M.s Schilderung ihrer neuen Beschwerden angehört hatte, begann er sie wieder genau zu untersuchen. Er versicherte ihr, daß im Hals nichts stecke, daß auch sonst keine Auffälligkeiten festzustellen seien und daß das Gefühl nur eine Einbildung sei. Martha M. wollte heftig widersprechen, ihr Leiden als "Einbildung" bezeichnen zu lassen, da sie doch ganz deutlich etwas im Hals spürte und beim Schlucken schon fast erstickt wäre. Der Professor erklärte ihr darauf lächelnd, daß er ihr sehr wohl glaube, daß sie die genannten Empfindungen auch wirklich verspüre, doch seien sie psychisch bedingt. In der Medizinersprache bezeichne man das Gefühl, daß sich ein Fremdkörper im Hals befinde, ohne auch nur das Geringste nachweisen zu können, als "Globusgefühl". Er versprach, ihr ein Beruhigungsmittel zu verschreiben, auf das die Beschwerden mit der Zeit wieder verschwinden würden.
Martha M. verließ, ungläubig über die Erklärung des Professors, dessen Ordination und besorgte sich das Medikament. Sie las den Beipackzettel, wo nur etwas über "nervöse Erregungszustände" und über "Schlafstörungen" geschrieben stand. Als sie ein Dragee schlucken wollte, gelang ihr dies nicht. Daran hatte der Arzt natürlich nicht gedacht: Martha M. konnte doch das Medikament, das angeblich die Schluckstörungen beseitigen sollte, nicht schlucken! Erst nach zahlreichen Versuchen, als das Dragee schon vom Speichel ziemlich aufgelöst und zerbröselt war, verschwand es endgültig in ihrem Schlund. Dabei stand auf dem Beipackzettel ausdrücklich, daß die Dragees im Ganzen geschluckt und keinesfalls aufgelöst oder zerkaut werden sollten.
Irgendwie gelang es Martha M. in den folgenden Tagen, das Medikament, zumindest nach einigen Versuchen, zu schlucken. Die Dragees verfehlten insofern nicht ihre Wirkung, als Martha M. auf ihre Einnahme hin erfreulich gut schlief, dafür aber auch bei Tag ziemlich benommen war. Das Fremdkörpergefühl blieb gleich, die Schluckbeschwerden wurden
vielleicht etwas besser, insbesondere sie Martha M. nun ohne Panik hinnehmen konnte. Ebenso wie sie sich ursprünglich an das Brennen im. Hals gewöhnt hatte, gewöhnte sie sich nun an ihre neuen Erscheinungen. Sie aß sogar wieder im Büro, nahm jedoch kleine Bissen, kaute sie unaufhörlich und verbrauchte große Mengen an Getränken. Ihre Bürokollegen bemerkten nun ihr etwas eigenartiges Eßverhalten ebenso wie ihre gedämpfte Stimmung. Martha M. berichtete von ihren neuen Problemen, doch bagatellisierte sie deren Ausmaß und vermied, allzuviele Worte darüber zu verlieren.
Da das Globusgefühl, wie der Professor es genannt hatte, nicht verschwand und die Dragees offensichtlich nicht die gewünschte Wirkung erzielten - was Martha M. von Anfang an erwartet hatte -, suchte sie ihn wieder auf.
Es folgten wieder die üblichen Untersuchungen. Doch diesmal wurde der Professor etwas stutzig. Er begann mit seinen Händen an Martha M.s Hals zu kneten und drückte einige Male seinen Daumen fest gegen ihren Kehlkopf. Er fragte sie, ob sie dabei irgendeine auffallende Schmerzempfindung hätte, und Martha M. verneinte. Sie bemerkte die nachdenkliche Miene des Arztes und fragte beunruhigt, ob er etwas Auffallendes bemerkt hätte. Er setzte jedoch wieder seine freundlich-souveräne Maske auf und meinte beschwichtigend, daß er etwas bemerkt hätte, was zwar harmlos sei, was man aber genauer untersuchen müsse. Er hatte ein knötchenartiges Gebilde entdeckt, das er jedoch ohne Röntgen und Tomographie nicht genauer identifizieren könne. Als Martha M. den Professor so sprechen hörte, merkte sie, wie ihr Blut vom Kopf in die unteren Körperregionen drängte und sie selbst im Boden zu versinken schien. Der Schock über diese Worte saß so tief, daß sie keinen Ton hervorbrachte. Nun schien sich zu bestätigen, was schon seit Wochen in ihrem Kopf kreiste, was sie aber nie wagte, in ihr Bewußtsein vordringen zu lassen! Der Professor erriet an ihrer Blässe, was in Martha M. vorging, und beantwortete ihre nicht gestellte Frage. "Es ist bestimmt nichts Bösartiges", sagte er, ohne selbst von seiner Aussage überzeugt zu sein. "Wir müssen aber die Untersuchungen durchführen lassen, um uns zu vergewissern und um die nächsten Behandlungsschritte einleiten zu können. Sie brauchen sich ganz bestimmt keine Sorgen zu machen!" Martha M. hatte sich vom ersten Schreck erfangen und nun schossen ihr tausend Gedanken und Fragen durch den Kopf. Die beruhigenden Worte des Arztes hatten sie noch mehr verängstigt. Der Professor würde dies allen sagen, dachte sie. Sie verkehrte sogar die Worte des Arztes, sodaß sie sich, plötzlich, gewiß war, krebskrank zu sein und nur noch kurze Zeit zu leben zu haben. Sie fragte zögernd, ob es sich nicht doch um eine ernste Sache handelte, aber der Professor verneinte, formulierte seine Antwort aber so, daß keine Möglichkeit als völlig ausgeschlossen betrachtet werden konnte. Er verwies auf die Untersuchungen und meinte, daß man nachher weiterreden könne.
Als Martha M. die Ordination verließ, kam es ihr vor, als wäre es eine Ewigkeit her, daß sie diese betreten hätte. Tatsächlich hatte sich in wenigen Minuten soviel in ihrem Innerstem abgespielt, daß ihr diese Zeit unendlich lang vorkommen mußte. Fast war es ihr, als sei sie ein anderer Mensch. Sie fühlte sich schon nicht mehr ganz in dieser Welt, und als sie durch die Straßen ging, schienen sich diese von ihr zu verabschieden.
Krebs war die Krankheit, vor der Martha M. die meiste Angst hatte. Es hörte sich für sie wie ein Todesurteil an. Der Schock über die Nachricht des Arztes hatte sich in eine Lähmung umgewandelt. Martha M. fühlte nichts und als sie wieder zu Hause war, tat sie auch nichts. Sie führte nur nutzlose Handlungen durch, deren sie sich jedoch gar nicht richtig bewußt wurde. Obwohl es keineswegs kalt war, fröstelte sie. Sie verabsäumte es, sich noch an diesem Tag für die Röntgenuntersuchung anzumelden, wenngleich ihr der Professor nahegelegt hatte, es sobald wie möglich zu tun. Ihre Gedanken kreisten ausschließlich um ihre Krankheit und darum, wie es mit ihr weitergehen würde. Hie und da fiel ihr ein, daß es doch noch gar nicht feststehe, ob es überhaupt Krebs sei, und für einige Augenblicke fühlte sie sich beruhigt, ja sogar freudig. Martha M. führte immer wieder ihre Hand, an den Hals und drückte mit den Fingern dagegen. Tatsächlich glaubte sie einige Male, das Knötchen, das der Professor entdeckt hatte, zu spüren.
Als sie am nächsten Tag auf ihre Arbeitsstelle kam, wirkte sie deprimierter denn je. Ihre Kolleginnen erkundigten sich nach dem Grund ihrer Mißstimmung und Martha M. erzählte ihnen in Tränen, was sie am Vortag erfahren hatte. Früher hätte sie sich geniert, vor ihren Kollegen zu weinen und sie hätte ihre Tränen zurückgehalten, so gut sie konnte, doch an diesem Tag war ihr dies alles egal. Ihre Arbeitsgefährten zeigten so viel Mitgefühlt, wie es sich Martha M. nie erwartet hätte. Sogar der Alte kam zu ihr, tröstete sie und sprach ihr Zuversicht zu. Er ermunterte sie, sich gleich zur Röntgenuntersuchung anzumelden. Martha M. leistete Folge und sie erhielt einen Termin für den kommenden Tag.
Das Arbeitsklima war in Martha M.s Abteilung an diesem Tag gedrückt. Wenn sie nicht anwesend war, teilten die Kolleginnen und Kollegen leise sprechend ihre Besorgnis über Martha M.s Zukunft, wenn sie sich mit ihr unterhielten, versuchten sie, eine zuversichtliche Miene aufzusetzen und mit gekünstelter Heiterkeit aufmunternd auf sie zu wirken. Martha M. bemerkte den vorgetäuschten Optimismus ihrer Arbeitsgefährten, der sie nicht störte, ihr aber in dieser Situation auch nicht half, denn ihre Gedanken flossen von der Vergangenheit in die Zukunft und wieder zurück in die Vergangenheit und sie blieben nur selten in der Gegenwart haften. Sie malte sich aus, wie es mit ihr weitergehen würde, wie sie langsam schwächer würde, wie all ihre Kräfte nachlassen würden und wie sie schließlich dahinsiechen und sterben würde. Nur hie und da blitzte ein Funken Hoffnung auf. Ihr fiel ihr bisheriges Leben ein, ihre Kindheit, ihre Jugend, wie sie ihre strenge, aber um sie stets besorgte Mutter die vielen Jahre bis zu deren Tod gepflegt hatte, und ihr Leben kam ihr plötzlich sinnlos und leer vor.
Nachdem die Röntgenuntersuchung und die Tomographie beendet waren, wurde ihr mitgeteilt, daß sie sich die Befunde am darauffolgenden Tag abholen könne. Martha M. bangte den folgenden Abend, und die ganze Nacht dem Ergebnis der Untersuchungen entgegen. Ihre Gedanken kreisten um ein Blatt Papier, das in wenigen Worten das Urteil über Leben und Tod beinhalten würde.
Der Gedanke, daß selbst ein bösartiges Geschwür keineswegs ihr baldiges Ende bedeuten müßte, kam ihr gar nicht. Zu sehr war in ihren Vorstellungen Krebs gleichbedeutend mit Sterben. Jedesmal, wenn sie mit ihren Fingern das Knötchen am Hals fühlte, schwanden fast alle ihre Hoffnungen. Ein Gewächs, das sich in so kurzer Zeit heranbildete, mußte ein schlechtes Zeichen sein, vermutete sie. Sie drückte dabei mit den Fingerkuppen etwa im Bereich des etwas hervortretenden Halsknorpels gegen das Knötchen, das deutlich zu spüren war, bemerkte dabei aber, daß dieses nicht ganz rund, war, sondern nach unten zu einen Fortsatz hatte, der zum Ende hin schmäler zu werden schien. Sie spürte dies nur ganz zart, wenn sie genau hinfühlte. Diese Unförmigkeit des Knötchens verunsicherte Martha M. noch mehr, sodaß sie sich in ihrer Überzeugung, Krebs zu haben, bestätigt sah. Versuche, sich abzulenken, scheiterten kläglich. Immer wieder betastete sie ihren Hals, obwohl sie vermutete, daß dies das Gewächs reizen und den Zustand dadurch noch verschlimmern könnte. Jedesmal, wenn sie mit der Hand darüberfuhr, nahm sie sich daher vor, dies nicht mehr zu tun, zumindest für einige Zeit darauf zu verzichten. Doch die Angst, eventuell neue Erhärtungen unter der Haut zu entdecken, aber vielleicht auch die nicht geglaubte Hoffnung, daß das Knötchen plötzlich verschwunden sein könnte, verleiteten sie bald wieder dazu, aufs neue mit den Fingern tastend nachzuprüfen.
Der Morgen dämmerte heran. Daß Martha M. nicht geschlafen hatte, merkte sie kaum. Sie war munterer als sonst, über ihre Besorgnisse vergaß sie die Müdigkeit. Zeitiger als gewöhnlich stand sie auf. Ihre innere Unruhe war Ausdruck eines Gefühls, das ihr sagte, daß dieser Tag ihr Leben von Grund auf verändern würde.
Martha M. besorgte sich die Befunde. Eine Schwester überreichte ihr ein großes verschlossenes Kuvert, in dem ihre Befunde verborgen waren. Sie versuchte am Gesicht der Schwester eine Regung abzulesen, die auf die Mitteilung, die das Kuvert beinhaltete, schließen lies. Doch die Krankenschwester, die den Inhalt vielleicht gar nicht kannte, zeigte nur ihr Alltagsgesicht, das keine Rückschlüsse irgendwelcher Art zuließ.
Nachdem sie das Kuvert entgegengenommen hatte, überlegte sie, ob sie es öffnen solle. Schließlich war eine für sie lebensbestimmende Mitteilung darin eingeschlossen! Doch die Aufschrift "Nur vom Arzt zu öffnen" hielt sie davon ab. Während sie zum Professor eilte, überlegte sie, ob er ihr die ganze Wahrheit, die im Kuvert verschlossen lag, mitteilen würde. Nein, das Rätseln und die Unsicherheit würden weitergehen! Martha M. öffnete ihre Handtasche, entnahm ihr eine kleine Nagelfeile und verschwand in einem Haustor. Schon setzte sie das Manikürwerkzeug an den Umschlag des Kuverts, als ihr wieder die Worte "Nur vom Arzt zu öffnen" ins Auge sprangen. "Was würde der Professor denken, wenn ich mich über dieses Verbot hinwegsetzte?" grübelte sie. "Er würde wohl glauben, daß ich kein Vertrauen in ihn hätte! Nein, es ist eine ärztliche Anordnung, daß der Befund nicht vom Patienten geöffnet werden darf, der Professor würde sich hintergangen fühlen", dachte sie, während sie die Nagelfeile wieder in ihrer Tasche verschwinden ließ. "Ich werde ihn aber dezidiert fragen, was der Befund ergeben hat, und ihn ersuchen, mir diesen auch auszuhändigen, damit ich ihn zumindest lesen kann, nachdem ihn der Professor gesehen hat", nahm sie sich sehr bestimmt vor.
In der Ordination des Arztes angelangt, nahm ihr die dort anwesende Ordinationsgehilfin gleich nach der Begrüßung das Kuvert mit den Röntgen- und Tomographiebefunden ab. Die Zeit schien Martha M. während des Wartens nicht zu vergehen, bis ihr Name aufgerufen wurde. Sie reichte dem Professor ihre kalte, schweißbefeuchtete Hand und nahm auf dem ihr nun mittlerweile gut bekannten Untersuchungssessel Platz. An der Wand steckten bereits in einem extra für Röntgenbilder angebrachten beleuchteten Schirm die Aufnahmen von ihrem Hals. Der Professor hatte also das Kuvert geöffnet und wußte bereits Bescheid! Martha M.s fragenden Blick ignorierend, forderte er sie wieder auf, den Mund zu öffnen, um sich untersuchen zu lassen. Die Patientin gehorchte und wagte noch immer nicht, selbst als der Arzt ihren Hals aufs genaueste abtastete, nach der Diagnose zu fragen. Der Professor machte einen sichtlich zufriedenen Eindruck, murmelte immer wieder ein rätselhaftes "Ahm, mhm" und ging zum Schirm mit den Röntgenaufnahmen. Endlich wagte es Martha M. zaghaft nach ihrer Erkrankung zu fragen. Der Arzt beachtete dies anfangs jedoch nicht, sondern nahm die Tomographie-Aufnahmen in die Hand und blickte lange darauf. Einige optimistisch klingende Brummlaute des Professors besänftigten Martha M.s Unruhe etwas, machten sie jedoch noch neugieriger. Der Arzt drehte eine der Tomographie-Aufnahmen nach links, nach rechts, neigte dabei jeweils den Kopf auf die Seite, warf abermals einen kurzen Blick auf die an der Wand hängenden Röntgenbilder, ergriff schließlich das dem Kuvert beigefügte Blatt Papier, auf dem die Diagnose des Röntgenarztes geschrieben stand, las einige Augenblicke darin, legte den Zettel beiseite und sagte, seiner Patientin zugewandt: "Sie bekommen ein Baby!" Martha M. blickte verdutzt drein. "Ein Baby?" antwortete sie ungläubig fragend. Sie wußte nicht recht, wie und was der Professor damit meinte. Sollte es ein Scherz oder eine scherzhaft gemeinte Umschreibung für irgend eine Krankheit sein? "Ja, ja, es stimmt, Sie bekommen ein Baby", versicherte er ihr nochmals mit bestimmtem Tonfall, während er dabei aber fast fröhlich lächelte. Martha M. glaubte noch immer nicht richtig zu hören. "Hier muß wohl eine Verwechslung vorliegen", dachte sie. Woher sollte sie plötzlich ein Baby bekommen? Sie hatte doch ihr Leben lang noch nie etwas mit einem Mann gehabt! Außerdem, was sollten ihre Halsbeschwerden mit einem Baby zu tun haben? Der Arzt schien Martha M.s Gedanken erraten zu haben, und noch bevor sie etwas erwidern konnte, sagte er: "Es liegt bei Ihnen eine Kehlkopfschwangerschaft vor. In Ihrem Kehlkopf hat sich ein Embryo eingenistet. Er ist sowohl im Röntgen als auch in der Tomographie bereits deutlich zu erkennen." Er deutete dabei auf die Bilder und forderte Martha M. mit seinen Blicken auf, sich diese doch genauer anzusehen. Doch Martha M. war zu verwirrt, um von ihrem Sessel aufstehen zu können.
Sie wußte auch nicht, was sie fühlen sollte. All Ihre Ängste und Sorgen über ihre Krankheit und ihre Zukunft waren wie verflogen. Ja, es war ihr, als lägen sie schon lange zurück und als könne sie sich nur noch dunkel an all die Aufregungen erinnern, die sie noch Minuten zuvor ausgestanden hatte. Sie vergaß auch regelrecht darauf, sich zu freuen, daß sie offensichtlich keinen Krebs, nicht einmal ein gutartiges Geschwür, hatte. Glücklich darüber zu sein, daß sie nun ein Kind bekäme, war ihr aber zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch nicht möglich. Sie wußte vielmehr mit der eben erfahrenen Mitteilung nichts anzufangen.
Nachdem sie sich wieder einigermaßen gefaßt hatte, betrachtete sie die Röntgenbilder und Tomographien von der Nähe. Der Professor erklärte ihr genau, was darauf zu erkennen war. Tatsächlich trat deutlich die Form eines Embryos im Bereich ihres Halses hervor. Der Embryo füllte einen Teil des Halses aus und drückte dabei auf die Speiseröhre. Dies erklärte auch ihre Schluckbeschwerden. Der Arzt zerstreute aber sogleich ihre Bedenken, daß das Kind noch weiter in ihren Hals hineinwachsen und somit ihre Beschwerden vergrößern würde. Er meinte, der Embryo würde nur mehr nach außen wachsen, sodaß er ihre Schluckfunktion nicht noch mehr beeinträchtigen würde. Allerdings hoffe er, daß die Luftröhre nicht durch den mit der Zeit größer werdenden Embryo eingeengt werde. Sollten tatsächlich Atembeschwerden auftreten, möge sie sich sofort ins Spital begeben. Auch im Falle irgendwelcher anderer Komplikationen, könne sich Martha M. jederzeit an ihn wenden. Er versprach ihr, sie während der gesamten Schwangerschaft zu betreuen und empfahl ihr gleichzeitig, sich regelmäßig im Spital untersuchen zu lassen. Dabei bot er ihr gleich seine Klinik an. Martha M. willigte ein. Der Professor gab ihr noch etliche Ratschläge für die kommende Zeit. Martha M. stellte einige nebensächliche Fragen - für gewichtigere Dinge fehlten ihr zur Zeit die klaren Gedanken - und der Arzt verabschiedete sich von ihr, nicht ohne ihr noch freudig zu ihrem Kind, das etwa in einem halben Jahr das Licht der Welt erblicken würde, zu gratulieren.
Daß gerade sie ein Kind bekommen würde! Martha M. konnte es noch gar nicht fassen. Oft hatte sie sich ein Kind gewünscht- aber ohne Mann!? Ein Verhältnis ist sie nie eingegangen, denn ihre Mutter hatte ihr eindringlich eingeredet, daß man sich mit Männern am besten nicht einlassen sollte. Martha M. fürchtete daher, daß ihre Mutter niemals eine Beziehung ihrer einzigen Tochter zu einem Mann akzeptieren würde.
Nach Ende ihrer Ausbildungszeit erkrankte ihre Mutter, die schon seit vielen Jahren alleinstehend war, sodaß Martha M. sie pflegen mußte. Ihre Mutter wurde zunehmend kränker, pflegebedürftiger und noch herrschsüchtiger als früher, wodurch Martha M.s Freizeit völlig in der Versorgung der Mutter aufging. Neben Beruf und Betreuung der Mutter ergab sich somit überhaupt nicht die Frage nach einem männlichen Gefährten für Martha M. Und als die Mutter starb, verlief ihr Leben schon in so eingespielten Bahnen, daß Martha M. die Möglichkeit, eine Beziehung einzugehen, erst gar nicht in Erwägung ziehen wollte.
Besonders wenn sie alleine war, und das kam ziemlich häufig vor, wünschte sich Martha M. einen Mann, spürte aber im selben Moment eine innere Abneigung, fast einen Ekel davor. Nur der Gedanke an die Nähe zu einem Mann erfüllte sie mit einer für sie nicht erklärbaren Unruhe, wobei sie sich von dieser Vorstellung gleichzeitig angezogen und abgestoßen fühlte. Da aber die Angst größer war als das Begehren, ließ Martha M. jede Gelegenheit verstreichen, engere Bekanntschaften mit dem anderen Geschlecht zu schließen.
Und nun würde sie Mutter werden! Wie würde sie ihren Kolleginnen und Kollegen klarmachen können, daß sie ein Baby in sich trage? Vor allem aber, wie würde sie ihnen erklären, daß sie selbst nicht wisse, woher das Kind kam? Das würde ihr doch niemand glauben! "Was werden sich all die Bekannten nur denken?" grübelte Martha M. Sie dachte sich allerlei Geschichten aus, die sie den Leuten erzählen würde, aber sie erschienen ihr nicht glaubwürdig genug. Schließlich entschloß sie sich, allen Mitmenschen kurzerhand die Wahrheit zu berichten. Sie hatte doch nichts zu verbergen! "Mögen sich die anderen doch denken, was sie wollen!" dachte Martha M. und spürte plötzlich eine Kraft in sich aufsteigen, die ihr die Gewißheit verschaffte, in Zukunft den Mut zu haben, für sich und ihr Kind einstehen zu können.
Gleich in der Früh fragten alle im. Büro Martha M., was die Untersuchung ergeben hätte. "Stellt Euch vor, es ist ein Baby, ich bekomme ein Kind", gab sie für die anderen völlig unerwartet zur Antwort. "Was hat die Halsuntersuchung mit einem Baby zu tun?" wollte der Abteilungsleiter wissen. "Ich bin kehlkopfschwanger", antwortete die Befragte, "in meinem Hals wächst ein Kind heran." "Du bekommst ein Kind?" wunderte sich die Kollegin mit der schrillen Stimme. Auf Martha M.s Bestätigung traute sich anfangs niemand die Frage, die allen auf der Zunge lag, wer nämlich der Vater sei, auszusprechen. Noch weniger wagte es jemand, die Verwunderung, daß Martha M. offensichtlich ein Verhältnis zu einem Mann eingegangen war, auszudrücken. Statt dessen erhielt sie Gratulationen von einer Gruppe von Menschen, die trotz ihres freudigen Mitgefühls ihr Erstaunen zu verbergen suchten.
Martha M. mußte nun genau schildern, was sie tags zuvor beim Arzt erfahren hatte. Nach einigem Zögern und Herumreden stellte endlich jemand die Frage nach dem Vater. Am Vortag hätte sie diese Frage noch in Verlegenheit gebracht, doch nun antwortete sie ohne zu zaudern: "Es gibt keinen Vater, es ist ausschließlich mein Kind." Die Bestimmtheit und der Stolz, die bei diesen Worten in ihrer Stimme lagen, veranlaßten die anwesenden Personen, keine weiteren Fragen zu stellen oder gar ironische Bemerkungen anzubringen. Stattdessen teilten sie die Freude über den neuen Erdenbürger mit seiner Mutter.
Martha M. war stolz, daß sie im Büro so offen herausgesagt hatte, wie es um sie stand. Sie war auch etwas überrascht, daß alle diese Neuigkeit akzeptierten und sich sogar mit ihr freuten. Martha M. hatte erwartet, daß bald ein Gerede über sie entstehen würde, da sie aus Erfahrung wußte, daß die Zungen der Kolleginnen und Kollegen sehr spitz sein konnten. Stattdessen zeigten sie sich ihr gegenüber sehr offen, sie boten ihr Hilfe an, und insbesondere die Kolleginnen, die selber Kinder hatten, tauschten mit ihr ihre Schwangerschaftserfahrungen aus und gaben Martha M. zahlreiche Ratschläge.
Inzwischen wuchs das Kind in ihrem Kehlkopf heran. Jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen betastete Martha M. ihren Hals und fühlte, wie das Leben darin zu reifen begann. Der Embryo war mittlerweile so groß, daß bereits am Hals eine kleine Ausbuchtung erkennbar war. Was für ein herrliches Gefühl, zu spüren, wie sich im eigenen Körper ein neues Wesen entwickelte! Martha M. stand nun jeden Tag sehr zeitig in der Früh auf, war aber im Gegensatz zu früher munter und bester Laune. Das Wissen, für ein lebendiges Geschöpf die alleinige Verantwortung zu tragen, erzeugte in ihr ein Macht- und Überlegenheitsgefühl, das, gepaart mit der Vorfreude, in einigen Monaten das Kind in der Hand wiegen und versorgen zu können, Energien in ihr hervorrief, die Müdigkeit erst gar nicht aufkommen ließen.
Die werdende Mutter suchte, wie mit dem Professor vereinbart, regelmäßig das Spital auf, wo sie kontrollweise untersucht wurde. Während der langen Wartezeiten vor und zwischen den Untersuchungen kam Martha M. mit anderen Patienten ins Gespräch. "Sowas hab´ ich auch einmal gehabt", behauptete eine alte Frau, die Martha M.s geschwollenen Hals für einen Kropf hielt. "Ich habe eine Kehlkopfschwangerschaft, ich bekomme ein Kind", erwiderte Martha M. freundlich. "Ach so, Sie bekommen ein Kind?" fragte die Patientin mit skeptischem Blick. Sie wußte nicht, wie sie diese Bemerkung Martha M.s einschätzen sollte. Doch Martha M. berichtete genauer von ihrer Schwangerschaft, und im Laufe des Gesprächs schien die alte Patientin Vertrauen zu Martha M. gewonnen zu haben. Sie begann interessiert Fragen zu stellen und Ratschläge zu erteilen. Ratschläge konnte Martha M. aber schon keine mehr hören! Anfangs war sie für Hinweise, vor allem für die, die sie von ihren Kolleginnen erhielt, sehr dankbar, doch mit der Zeit wuchsen sie ihr über den Kopf. Denn zuviele Mitmenschen, vor allem Frauen, die selber Mütter waren, haben ihr schon Tips gegeben, was sie alles tun und unterlassen solle, sodaß sich Martha M. bald nur noch nach dem, was sie für gut hielt, richtete.
Die Alte begann alsbald von ihrem Sohn zu berichten und während ihr Tränen in die Augen traten, erzählte sie Martha M., daß er gestorben sei. Obwohl er nun schon lange tot sei, könne sie den Verlust noch immer nicht überwinden. Plötzlich wurde Martha M. jedoch zur Untersuchung aufgerufen, und das Gespräch endete abrupt.
Die Ärzte, allen voran der Professor, zeigten wie immer großes Interesse an ihr und sie freuten sich, ihr mitteilen zu dürfen, daß das Kind weiterhin gesund heranreife und daß auch mit ihr alles in Ordnung sei. Die Schwangere bestätigte dies, da auch sie über keine nennenswerten Probleme klagen konnte.
Während der Untersuchung vergaß Martha M. die Patientin, mit der sie eben sehr angeregt geredet hatte, aber als sie das Untersuchungszimmer verließ, fiel ihr wieder deren Erzählung ein. Was würde sie einst mit ihrem Kind erleben? Welche Nöte und welche Bedrängnisse würden einmal bei ihrem Kind auftauchen, würde es gesund sein, was könnte ihm alles zustoßen? Nachdenklich verließ sie das Spital, aber bald verloren sich die Gedanken im regen Treiben des Straßenverkehrs.
Martha M.s Halsumfang nahm von Tag zu Tag mehr zu und unwissende Leute mögen es, wie damals die Alte im Spital, für einen Kropf gehalten haben. Er schien die Blicke der Menschen auf der Straße, im Bus und überall, wo sie sich in der Öffentlichkeit zeigte, anzuziehen. Zwar richteten sich die Blicke nicht direkt auf sie, sondern nur schielend aus den Augenwinkeln, und sie zogen sich auch sogleich zurück, wenn sie von Martha M. erwidert wurden. Wo sie sich befand, stand Martha M. in einem von niemandem bestimmten Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie wollte anfangs ihre kropfartige Ausstülpung mit einem Halstuch dezent verdecken, doch in der heißesten Jahreszeit kam sie dadurch noch mehr ins Schwitzen. Später, als die Temperaturen erträglicher wurden, war ihr Hals "bereits so angeschwollen, daß auch ein Tuch die Ausbuchtung nicht mehr vollständig verdecken konnte, stattdessen aber die Aufmerksamkeit der Passanten erst recht auf Martha M.s Hals lenkte.
Der Hals begann immer mehr zu spannen, da sich die Haut weiter und weiter dehnte. Das Gewicht des Embryos zog kräftig nach unten, sodaß sich Martha M. abmühen mußte, die Körperhaltung aufrecht zu wahren. Auf die Seite konnte sie den Kopf schon länger nicht mehr drehen; wenn sie daher nach links oder rechts sehen wollte, mußte sie den gesamten Oberkörper in die gewünschte Richtung wenden.
Der Hunger wurde immer größer und da der Schluckakt weiterhin sehr beschwerlich war und die mühevolle Nahrungsaufnahme sehr viel Zeit beanspruchte, konnte sie ihren Appetit nicht mehr stillen. Sie konnte feste Nahrung weiterhin nur mit großem Aufwand an Konzentration und Schluckkraft hinunterwürgen, hatte sich aber schon so daran gewöhnt, daß es ihr kaum mehr auffiel. Da sie die Ursache für die Schluckbeschwerden kannte, geriet sie auch nicht mehr in Panik, wenn ein Speisestück den Weg durch den Schlund nicht gleich beim ersten oder zweiten Anlauf nehmen wollte. Außerdem hatte sie mittlerweile eine Schlucktechnik entwickelt, die ihr den Akt des Nahrung-in-den-Magen-Beförderns trotz der Engstelle im Hals zumeist besser gelingen ließ als zum Zeitpunkt des ersten Auftretens der Schluckbeschwerden vor einigen Monaten.
Der Herbst hatte die meisten Bäume schon kahlgefegt, während Martha M. durch die sanft-hügelige Parklandschaft flanierte. Die Beule am Hals zog und spannte, sodaß jede Bewegung zu einem Akt der Anstrengung anwuchs. Martha M. spürte die Geburt ihres Kindes mit Riesenschritten näherrücken. Der Professor hatte ihr auch vorausgesagt, daß sie mit einer Frühgeburt zu rechnen habe. Daher hatte sie schon alle Vorbereitungen dafür getroffen, um nicht von einer vorzeitigen Niederkunft überrascht zu werden.
Das Leben wurde durch das sackartige Gewächs am Hals zunehmend mühevoller. Es wucherte bereits so stark, daß sie den Kopf nicht mehr nach unten neigen konnte. Wollte sie etwa Schuhe anziehen, so setzte sie sich auf einen Sessel, spreizte die Beine, beugte den Oberkörper nach vorne und streife die Fußbekleidung erhobenen Hauptes - der Blick auf die Schuhe war ihr durch die Ausbuchtung am Hals verstellt - über die Füße. Der Kehlkopfsack war so schwer, daß sie dauernd den Eindruck hatte, er würde ihren Kopf auf den Boden ziehen wollen. Nachts konnte sie nur noch auf dem Rücken schlafen. Drehte sie sich im Bett auf die Seite, so nahm die Hautspannung auf dem der Zimmerdecke zugewandten Teil des Halses zu und Martha M. mußte sich wieder auf den Rücken legen. Auch die Tätigkeit im Büro machte ihr zunehmend zu schaffen. Außerdem wanderten ihre Gedanken immer häufiger zum Kind und zur nahenden Geburt, worunter die Konzentration auf die Arbeit zusätzlich litt. Martha M. entschloß sich daher, nicht mehr ins Büro zu kommen und die letzten Tage vor der Ankunft des Kindes zu Hause zu verbringen. Bei der Verabschiedung wünschten ihr die Arbeitsgefährten und der Chef viel Glück und sie sprachen die üblichen Floskeln, die einer kurz vor der Geburt Stehenden entgegengebracht werden, auf. Martha M. spürte aber auch die innige Anteilnahme an ihrem freudigen Schicksal, die ihr etliche ihrer Kolleginnen fühlen ließen.
Wenige Tage danach begannen im Hals plötzlich krampfartige Schmerzen einzusetzen. Gleichzeitig wurden die Schluckbeschwerden so massiv, daß sie nicht einmal ein Getränk zu sich nehmen konnte. Da die Schmerzen immer mehr zunahmen, trat Schweiß in großen Mengen aus ihren Poren, wodurch das Bedürfnis nach Flüssigkeit rapid zunahm. Aber es war unmöglich, etwas zu trinken! Die Krämpfe im Hals wuchsen zu einer Kolik an und Martha M. glaubte, ersticken zu müssen. Vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten mußte sie nach Luft ringen und es gelang ihr dabei nicht einmal, zum Telefon zu greifen oder auf den Gang zulaufen und die Nachbarin um Hilfe zu bitten. Auch schreien konnte sie nicht, da die eingeatmete Luft gerade reichte, um nicht ersticken zu müssen. Trotz der Panik, die sie erfaßte, waren die Schmerzen so stark, daß sie völlig handlungsunfähig war. Sie lag auf dem Bett und wand sich von einer Seite auf die andere, mal kniete sie nieder, mal lag sie auf dem Rücken, dann wieder auf dem. Bauch. Sie drehte sich von links nach rechts und vor den Augen begann es schwarz zu werden. Hie und da sah sie kleine grelle Pünktchen in ihrem Zimmer aufblitzen.
So plötzlich, wie die Kolik begonnen hatte, hörte sie auch auf. Martha M. lag auf dem Rücken und genoß die in ihr aufsteigende Erleichterung. Aber ihre Müdigkeit erlaubte es ihr nicht einmal, den Arm zu heben, geschweige denn, aufzustehen und ein Glas Wasser, nach dem ihr so dürstete, zu trinken. Ihre Kleidung war so schweißdurchtränkt, daß sie diese hätte auswinden können. Hätte sie nicht der brennende Durst an die eben erlittene Anstrengung erinnert, wäre Martha M. wahrscheinlich in tiefen Schlaf verfallen. Doch der trockene Mund und das dringende Bedürfnis nach Flüssigkeit gemahnten Martha M., während sie döste, an ihre Existenz, sodaß sie sich nicht vollständig vom Wachsein lösen konnte.
Langsam kehrten wieder Kräfte in ihren Körper zurück. Martha M. öffnete die Augen und war sich bewußt, daß sich der Anfall wiederholen könnte, ja sich sogar mit ziemlicher Sicherheit wiederholen würde. Allerdings war ihr sehr entspannt zumute und sie lag noch einige Minuten ruhig in ihrem Bett, während die langsam vom Schweiß trocknenden Kleider an ihrem Körper kleben blieben. Endlich erhob sie sich und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Sie hatte im Moment nach nichts Sehnsucht außer nach kaltem, frischem Wasser.
Martha M. überlegte nun, ob sie den Professor verständigen sollte. Er hatte ihr angetragen, sich bei ihm zu melden, sobald irgendwelche Komplikationen eintreten würden. Der Abend war angebrochen und Martha M. wußte nicht, ob sie es wagen sollte, den Professor zu stören. Vielleicht hätte sie nun für längere Zeit Ruhe und es wäre völlig unnötig, ihn zu benachrichtigen. Andererseits wäre es besser, gleich beim Professor anzurufen als zu einer noch späteren Stunde. Also entschloß sie sich, zum Telefonhörer zu greifen und die Nummer des Arztes zu wählen.
Der Professor schien über den Anruf fast erfreut zu sein und er forderte Martha M. auf, sofort die Rettung zu verständigen und ins Spital zu fahren. Er bot sich sogar an, selbst den Krankentransport zu bestellen, Martha M. versicherte ihm aber, es selbst tun zu wollen. Er versprach ihr, auch schnellstens im Spital zu erscheinen. Martha M. schien die Reaktion des Professors überstürzt - sie hatte nicht gerechnet, daß nun alles so schnell gehen müsse, doch wollte sie nicht dem Arzt widersprechen. Möglicherweise hatte sie die Situation unterschätzt! Über die Hast des Professors fast erschrocken, begann sich Nervosität in ihr auszubreiten. Hatte sie sich eben wieder einigermaßen erholt, begann ihr plötzlich kalt zu werden und während sie abermals zum Telefonhörer griff, um den Rettungstransport anzufordern, schienen ihre Hände zu zittern.
Martha M. hatte zuvor schon alles für den Fall einer schnellen Einweisung ins Spital vorbereitet, aber nun ging es ihr zu schnell. Sie hatte kaum die nötige Ruhe, um die vorbereiteten Sachen zusammenzupacken und die Nachbarin zu verständigen. Möglicherweise war es die Aufregung, die nun wieder das krampfartige Gefühl im Hals hochkommen ließ. Ihr schien, als seien die Rettungsleute mit dem Flugzeug gekommen. Sie überlegte, ob sie in der Wohnung das Nötigste in Ordnung gebracht hätte und schon begleiteten sie die Männer zum Rettungsauto.
Ein würgender Druck im Hals machte es ihr kaum möglich, die Fragen des Sanitäters zu beantworten. Da sie nach Luft schnappte, mußte sie sich im Rettungsfahrzeug auf die Bahre legen und mit zwei dünnen Schläuchen wurde ihr Sauerstoff in die Nase geblasen. Allerdings schien das nicht zu helfen, denn die Atemnot weitete sich trotz des Sauerstoffs zu einem Erstickungsanfall aus. "Tief atmen", rief ihr der Sanitäter zu, während er ihr die Schläuchchen mit den Fingern in die Nase drückte. Martha M. wollte sich aufsetzen, da sie instinktiv das Gefühl hatte, daß ihr das "Vorbeugen des Oberkörpers Erleichterung in ihrer Atemnot schaffen würde, doch der Sanitäter preßte sie auf die Bahre. "Bleiben Sie ruhig liegen und atmen Sie tief", forderte er sie auf. Martha M. wäre wohl wieder in Panik geraten, hätte sie nicht gewußt, daß sie jeden Augenblick im Spital sein müßten. Dort erhoffte sie sich spontane Erleichterung, da sie - gerade in den kritischsten Augenblicken - fast irrationale Erwartungen an die Kunst der Ärzte hatte.
Im Spital angekommen schienen die Beschwerden wie von selbst nachzulassen. Die Gewißheit, nun in fachgerechten Händen zu sein, beruhigte Martha M. Um sie herum begann ein reges Treiben. Frauen und Männer in weißen Mänteln umschwirrten sie, sprachen immer wieder kurz ein paar besänftigende Worte auf sie ein, während sie, noch immer auf der Bahre, in einem der zahlreichen Gänge des Spitalsgebäudes lag. Zu ihrer Verwunderung war auch schon der Professor anwesend. Er begrüßte sie beinahe überschwenglich - so gelöst hatte sie ihn noch nie gesehen - und ordnete an, sie sogleich in ihr Krankenzimmer zu bringen. Dort wurde sie an einige Apparate angeschlossen, wobei der Professor selbst alle Anordnungen an sämtliche anwesende weißbemäntelte Personen erteilte. Martha M. kannte die meisten von ihnen schon von den früheren Untersuchungen her. Während der Professor mit Martha M. sprechen wollte, steigerten sich die Krämpfe und daraus das Würgen und die Atemnot so stark, daß sie unfähig war zu antworten. Wie schon ein, zwei Stunden zuvor, begann sie sich wieder zu winden und der Schweiß rann über ihren ganzen Körper. Der Arzt ließ ihr eine Spritze verabreichen und meinte, daß dies die Wehen bald erleichtern würde. Martha M. kniete nun im Bett, die Hände vorne aufgestützt, und mußte reflexartig würgen und fast im selben Moment auch nach Luft schnappen. Der Professor sprach ihr zu, die nun eingenommene kniende Körperhaltung beizubehalten, versuchte aber ihre völlig unkoordinierten Würge- und Atemreflexe einigermaßen unter Kontrolle zu bringen, indem er langsam und rhythmisch "einatmen - und ausatmen, einatmen - und wieder ausatmen" vorsagte. Martha M., deren Körper einen schweren Kampf auszustehen hatte, hörte diese Worte wie in weiter Ferne, versuchte ihnen aber Folge zu leisten, was ihr aber nur sehr mangelhaft gelang. Es genügte allerdings, um ihre Atemnot etwas zu beruhigen, wodurch sich auch die Spannung, die ihren ganzen Körper ergriffen hatte, ein wenig zu lösen begann. Nach einigen Minuten ließen die Wehen wieder nach und Martha M. warf sich erschöpft aufs Bett. Eine Schwester gab ihr zu trinken und Martha M. merkte, wie jemand eine Nadel in ihren Arm stach und wie aus einer großen Glasflasche, die über ihrem Bett hing, eine gelbliche Flüssigkeit in ihre Venen drang. Bald darauf breitete sich Entspanntheit über ihren Körper, die in einem tiefen, festen Schlaf aufging.
Ein stechender Kolikschmerz riß Martha M. empor. Die Wehen setzten wieder ein! Im nächsten Augenblick war Martha M. wieder auf den Knien. Eine der beiden Frauen, die bereits im Zimmer waren, als sie aufwachte, holte nun zusätzliche Hilfe herbei. Erst jetzt merkte Martha M., daß es draußen schon dämmerig geworden war. Erstickungsgefühl und Halskrampf steigerten sich ins Unermeßliche, sodaß sie glaubte, sterben zu müssen. Ein Rudel Weißbemäntelter stürzte ins Zimmer, unter ihnen der Professor. Martha M. war der Ohnmacht nahe. "Einatmen - und ruhig ausatmen, einatmen - ausatmen, ..." war fast schreiend die Stimme des Professors zu hören. Seine Patientin spürte ein Stechen und Brennen im Hals, das aber noch von der Intensität der Krämpfe überboten wurde. Laut hörbar war ihr kurzes und tiefes Atmen. Ein Schwall von Blut stürzte aus ihrem Hals. In ihrem Kampf merkte Martha M. nur beiläufig, wie sich das Rot über ihr Bett ausbreitete. Bei jedem Ausatmen spritzte es nun aus ihrem weit geöffneten Mund. Das Würgen wurde heftiger. Sie merkte, wie ein großes warmes Objekt ihren Rachen auszufüllen begann. Ihr Atem wurde kürzer, es trat nun wieder weniger Blut hervor. Plötzlich hörte sie zahlreiche Stimmen um sich herum rufen. Jetzt erst wurde sie darauf aufmerksam, daß ihr drei oder vier Augenpaare in den Rachen starrten. "Hier ist es, jetzt pressen!" hörte sie und die Finger zweier gummibehandschuhter Hände schoben sich in ihren Mund.
Ihr Rachen war verschlossen. Martha M. bekam keine Luft. Jetzt hieß es schnell handeln! Eine männliche Stimme kreischte: "Würgen, würgen!" Mit den letzten Kräften preßte sie das große Etwas durch ihren Schlund. Sie riß ihren Mund immer weiter auf, daß es schmerzte. Die fremden Hände drückten die Kiefer noch weiter auseinander - es krachte und knirschte in ihren Kiefergelenken. Der Schmerz war rasend, doch in ihrem Erstickungskampf war sie kaum imstande, ihn zu beachten. Die Finger in ihrem Rachen umklammerten den Kopf des Kindes. Der zu den Fingern gehörende Mensch dachte, sich selbst besänftigend: "Wir haben es, gleich ist es so weit!" Die Konzentration im Raum stieg so hoch an, daß niemand die plötzlich eingetretene Stille merkte. Zwei flossenähnliche Gebilde mit krallenartigen Fingernägelchen schoben sich durch Martha M.s Mundöffnung und drückten den kleinen Körper ein Stück aus ihrem Rachen. Der Professor zog nun an den seltsamen Händchen, und während Martha M.s Augen aus den Höhlen zu quellen drohten, glitt das schleimig-glitschige Wesen durch ihren Mund in die Hände des Arztes. Dieser hielt alsbald den nackten blutbedeckten Körper hoch.
Ein rätselndes Staunen, das Freude und Schreck gleichzeitig auszudrücken schien, erfüllte den Raum. Plötzlich rief aus dem unverständlichen Stimmengewirr heraus eine Stimme: "Ein Maulwurf!" Im nächsten Augenblick tönten immer häufiger die Worte "ein Maulwurf" durch das Krankenhauszimmer, während einige Hände hörbar zusammenklatschten. Auch der Professor, der das kleine Bündel mit den eigenartig schaufelförmigen Händchen in die Höhe hielt, nickte und bestätigte mit leiser, knarrender Stimme: "Ein Maulwurf!" Seine Patientin hatte einem Riesenmaulwurf, der etwa die Größe eines neugeborenen Menschenkindes besaß, das Leben geschenkt.
Währenddessen holte Martha M. viele Male tief Atem. Sie konnte in diesem Moment die Bedeutsamkeit jenes Ereignisses noch nicht ermessen. Den Erstickungskampf hatte sie gewonnen, aber ihre Lungen hatten noch schwer zu arbeiten.
Langsam fiel Martha M. auf den Polster. Je mehr sich ihr Atem, beruhigte, desto klarer wurde ihr, daß sie den Augenblick, auf den sie seit Monaten erwartungsvoll hingelebt hatte, nun gleich in ihren Armen halten würde. Sie beobachtete, wie jemand mit unsicher-fragendem Lächeln auf den Lippen ein winziges blutverschmiertes Häufchen Leben hochhielt und sanft in ihre Hände gleiten ließ. Martha M. erkannte, daß sie einen riesigen Maulwurf zur Welt gebracht hatte, doch sie war zu erschöpft und zugleich erleichtert, die anstrengende Geburt hinter sich zu haben, um sich über ihre seltsame Nachkommenschaft zu wundern. Sie schloß zufrieden die Augen - schließlich war es ihr Maulwurf, ihr, ganz allein ihr Maulwurf, den sie liebevoll umfassend in ihren Armen wog -, und niemand im Raum ahnte, daß Martha M. stumm in sich hineinlachte, als sie daran denken mußte, daß die Kehlkopfausbuchtung, die sie so lange mit sich herumgetragen hatte, ein Maulwurfshügel war.
Sie merkte in diesem Moment nicht einmal, wie ihr nach der Oralgeburt die Kiefer schmerzten und beim Ausatmen Blut und schleimige Brocken aus ihrem Mund traten. Martha M.s Welt rekelte sich zart auf ihrer Brust.