Die Kehrseite
Ich stapfte durch das Nichts aus grauem, kaum zu erkennenden, aber dennoch vorhandenen Wasserdunst, der aus dem, was unter mir lag, emporstieg.
Vor mir, in einer Entfernung, die ich nicht schätzen konnte, lag die Hoffnung und irgendwo hinter mir quollen aus unsichtbaren Tiefen krebsartige Tiere hervor. Sie wären mir nicht aufgefallen, wären sie nicht so zahlreich. Es mussten Hunderte sein. Kleine und Große mit überdimensional großen Scheren vorne weg. Ich fragte mich, wie es möglich sein konnte, dass sie nicht das Gleichgewicht verlören und vorne überkippten. Eine Spur von Mitleid breitete sich in mir aus, mischte sich mit der Spur, die ich hinter mir herzog und wurde zu einem hässlichen Gefühl, dass mir in die Eingeweiden ätzte. Solche Tiere gab es nicht. Sie mussten entweder Trugbilder meiner wilden Fantasie oder Ausgeburten der Hölle sein, wobei ich Letzteres ausschließen konnte, weil ich schon einmal da gewesen bin. Dort gibt es nur ewiges Feuer und ewige Verdammnis, dazu ein arroganter Schnösel, der sich wie der Gehörnte aufführt. Nichts für mich und vor allem nichts für diese Schalentiere. Dafür, dass sie nicht echt waren, bewegten sie sich allerdings äußerst natürlich, anmutig fast und dann dieses klappernde Geräusch beim Zuschnappen ihrer Zangen. Ich schlug Äste mit wilder Wut beiseite, die mir im Weg standen und mich daran zu hindern versuchten, auf die andere Seite zu gelangen. Elisabeth, ein flüchtiger Gedanke. Sie würde dort sein. Sie würde warten, wie versprochen.
Sieh nicht hinter dich, dort wartet nur Lug und Trug!
Dort und neben mir tauchten die ersten Boten auf, Schreckensbilder meiner geknechteten Seele. Ich muss es schaffen. Ihnen darf es nicht gelingen, was ich für die Errettung meiner Geliebten und im Angesicht des Todes dem Herrn des Blutackers versprochen habe. Ihr seid des Todes, hatte er gehöhnt, wenn Ihr glaubt, den Tod überlisten zu können. Ihr seid weniger als der gehauchte Wille eines schwachen Geistes und wollt es dennoch wagen?
Ich spürte, wie der Fetzen, der einmal mein Bein gewesen war, von etwas ruckartig nach hinten gerissen wurde. Sie waren verflucht schnell und ich schrie auf vor Schmerz. Es war zu spät, genauso, wie er es vorhergesagt hatte. Mein Wille war gebrochen. Ich konnte bereits den Luftzug der dunklen Schwingen des Todes am Horizont erkennen. Kälte stieg an mir hoch, gefolgt von Wellen des Schmerzes und der Demut.
Wenn du jetzt aufgibst, wirst du nie wieder das Licht sehen. Gib nicht auf!
Ich hörte ihre Stimme, die zu mir drang. Nur noch wenige Schritte. Und tatsächlich.
Ich konnte ihn sehen, den Spiegel. Ich konnte ihn sehen, wie er dort auf dem Hügel stand und in den düsteren Himmel ragte, gleich einem Zerrbild in einem Gruselkabinett. Während die eine Seite danach trachtet, den menschlichen Geist zu täuschen, vermag es der anderen Seite zu gelingen, das älteste aller menschlichen Geheimnisse zu verbergen. Nun wusste ich, was es bedeutete und noch bevor eine Woge des Schmerzes mich benebelte, hörte ich das schmatzende Geräusch einer sich an meinem verderblichen Kadaver sattsam fressenden Kreatur.
***
Elisabeth erwachte aus dem Reich der Toten. Umgeben von schweigsamen Rosen und duftenden Kerzen erhob sie sich aus ihrem Totenbett. Ihr Gewand war blütenweiß und rein wie ihre Seele. Als sie den Spiegel erblickte, musste sie hineinsehen, musste sehen, ob alles am rechten Fleck war. Außerdem hatte sie einen wilden Traum, einen, bei dem es um ihren Mann gegangen war, der wie Alice im Wunderland durch den Spiegel in eine andere Welt hineingetreten war, um sie zu retten. Aber alles war so verschwommen und unklar, dass sie unsicher war, ob sie das, was sie geträumt hatte, sich nicht eben erst ausgedacht hatte.
Das Spiegelbild war verschwunden, stattdessen zeigte es bloß ein schwarzes Loch. Sie wollte daran herumwischen, als der Schrei ihres Mannes an ihr Ohr drang.
Für einen kurzen Moment flackerte sein Ebenbild im Spiegel auf. Er sah furchtbar aus, die Klamotten zerfetzt, das Gesicht zerfurcht. Aber das Schlimmste war nicht sein Äußeres. Das Schlimmste war der Blick, mit dem er sie ansah. Denn durch den Spiegel konnte er der wahrhaftigen Seele der Menschen gewahr werden. Er sah nicht sie, wie er sie in Erinnerung behalten hatte, sondern so, wie ihre Seele wirklich war, so entsetzlich entstellt und von schleimtriefender Abartigkeit. Als er sie so erblickte und das Bild seiner Erinnerung verwischte, weigerte er sich, den letzten Schritt in die Welt zurück zu wagen. Lieber wollte er von den bösartigen Kreaturen dieser Seite gefressen werden, als in die Arme dieser hässlichen Gestalt zurückkehren zu müssen.