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Die Keulung
Das Telefon klingelt. Herr Breuer nimmt den Hörer ab.
„Hallo.“
„Otmar Weber, Ordnungsamt der Gemeinde Bernach. Sind Sie Herr Breuer?“
„Ja.“
„Gegen Sie liegt eine Anzeige vor. Ihre Hühner laufen draußen frei herum. Sie sollten doch wissen, dass das nicht mehr erlaubt ist! Wollen Sie uns alle in Gefahr bringen?“
„Hm … Wer ist in Gefahr?“
„Jetzt stellen Sie sich nicht so an. Seit Wochen verbreitet Geflügel lebensgefährliche Viren. Eine Vogelgrippe! Solche Viren können sogar Menschen umbringen. Das kommt ständig in den Nachrichten.“
„Ich schaue nicht fern. Zeitungen habe ich nicht.“
„Also, dann erfahren Sie es jetzt von mir. Sie müssen Ihre Hühner einsperren, bis wir Entwarnung geben.“
„Wo denn einsperren?“
„Weiß ich doch nicht. Im Stall, in ihrem Haus oder im Keller.“
„Warum soll das helfen?“
„Ihre Hühner dürfen nicht mit anderen Vögeln in Kontakt kommen.“
„Was für Vögel?“
„Solche, die eben draußen rumfliegen. Potentiell können die alle ihre Hühner anstecken.“
„So. Na dann …“
„Ich warne Sie. Nehmen Sie die Anzeige und die Sachlage ernst. Zwingen Sie mich nicht, die Polizei einzuschalten.“
„Schon gut. Dann bleiben die Hühner morgen mal im Stall.“
„Nicht nur morgen. Solange bis wir Bescheid geben, dass die Gefahr vorüber ist. Und seien Sie froh, dass Sie Ihre Hühner noch behalten dürfen. Im Kreis Bleiberg hat man nämlich sämtliches Geflügel gekeult.“
„Gekeult? Man will meine Hühner mit Keulen schlagen?“
„Sie ungebildeter Zeitgenosse! Keulen ist das vorsorgliche Töten von Tieren, um die Weiterverbreitung von Tierseuchen zu verhindern.“
„Kann man Menschen auch keulen?“
„Stellen Sie sich doch nicht so blöd. Es ist ernst.“
„Das sagten Sie bereits.“
Herr Webers durchdringende Stimme hat Frau Breuer das Gespräch mithören lassen. Sie schreit: „Menschen hat man auch mal gekeult, weiß ich von meinem Großvater.“
„Ich bin eine Amtsperson. Ich kann Verfügungen ausstellen“, brüllt Herr Weber.
„Ja, Sie scheinen gerne zu verfügen und zu keulen“, sagt Herr Breuer.
„Wir kommen morgen um zehn Uhr bei Ihnen vorbei. Laufen die Hühner frei herum, werden Sie bestraft. Auf Widerhören.“ Herr Weber legt auf.
„Da haben sich sicher unsere Nachbarn beschwert“, sagt Herr Breuer zu seiner Frau.
„Die Gutburgs, ja der Mann hat seit einem halben Jahr nichts mehr zu tun“, meint sie.
„Ich werde mal rüber schauen.“ Herr Breuer geht in den Garten und läuft auf einem Kiesweg zwischen Flieder und Haselnusssträuchern, unter denen seine Hühner scharren, an die Grundstücksgrenze. Auf der anderen Seite wächst nur kurzes Gras, wie ein Teppich, eine Verlängerung des Wohnzimmers.
Frau Gutburg kommt gleich zur Terrassentür heraus, als hätte sie Herrn Breuer beobachtet.
„Guten Tag, ich hatte gerade einen Anruf“, beginnt Herr Breuer. „Haben Sie sich bei der Gemeinde über unsere Hühner beschwert?“
„Ja, das war mein Mann. So eine verantwortungslose Familie wie Sie gehört eingesperrt und die Hühner gekeult. Wissen Sie, wir wollen gesund weiterleben.“ Frau Gutburgs dichtgeschminkte Augen blinzeln.
„Dazu essen Sie sicher Eier, Hähnchen und Hühnersuppe.“
„Jetzt werden Sie mal nicht gleich frech. Oder ich ziehe meinen Anwalt hinzu.“
„Beruhigen Sie sich. Das wird nur teuer.“
„Ha, da sind wir versichert. Ich sage Ihnen gleich, wir zahlen gar nichts!“
Frau Gutburg blickt böse in den Garten der Breuers. An den Brennnesseln fressen Raupen des Tagpfauenauges.
„Sieht ja wüst aus bei Ihnen; ein richtiger Sauladen … ähm … Hühnerladen.“ Frau Gutburg rümpft die Nase.
„Sagen Sie das auch Ihrem Anwalt?“
„Erst mal meinem Mann, guten Tag.“ Frau Gutburg bricht einen Holunderzweig ab, der aus Familie Breuers Garten herüberragt.
Am nächsten Vormittag um elf Uhr bekommt Frau Breuer einen Anruf.
„Hier Weber, Ordnungsamt, wir können heute wegen den Hühnern nicht vorbeikommen. Wir sind zu beschäftigt, mit neuen Vorschriften. Ich teile Ihnen aber mit, dass ab morgen in unserem Landkreis eine Sperrzone eingerichtet wird. Das gesamte Geflügel wird gekeult. Tut mir leid.“
„Aber …“ Frau Breuer ist sprachlos.
„Ein toter Schwan wurde in unserem Landkreis gefunden. Auf Wiederhören.“ Herr Weber legt auf. Frau Breuer kann nicht mehr sagen, dass Schwäne nicht ewig leben.
Dr. Verdandi, der ein privates Labor zum Nachweis von Viren eingerichtet hat, ist beschäftigt. Benachbarte Hühnerzüchter haben Stuhl- und Speichelproben ihrer Hühner zu ihm gebracht.
„Ich kann an allen Hühnern nichts Besonderes finden. Sie sind gesund“, erklärt Dr. Verdandi.
„Helfen Sie uns“, bittet ihn Frau Breuer. „Unsere Hühner sind unterwegs ins Keulungslager. Es sind wertvolle Rassehühner. Es gibt nur noch wenige von ihnen.“
„Meine ersten Daten habe ich vor zwei Wochen an die oberen Behörden geleitet. Alle Tiere, die ich untersucht habe, waren negativ.“
„Aber der Schwan, der war doch positiv, oder?“
„Ich weiß es nicht, in dem Labor, in dem der Schwan untersucht wurde, sind alle Vögel positiv, und sogar Katzen.“
„Um Himmels willen! Helfen Sie uns und unseren Tieren! Wird Herr Weber unsere Katze holen lassen?“
„Ich tue, was ich kann. Aber man will das Geflügel aus den Dörfern entfernen. Vielleicht besitzen Politiker Aktien von Eier- und Fleischfabriken; oder man will den Fleischpreis oben halten. Soweit ich weiß, sind Katzen da nicht von Interesse.“
„Das muss doch in die Presse.“
„Ja, klar. Aber die Leute dort meinten, ich sei ein Scharlatan.“
Mit Gesichtsmasken, Handschuhen und Schutzanzügen wie bei der Dekontamination radioaktiver Verunreinigungen nähern sich die beiden Keuler dem Geflügel.
„Zuerst die Truthühner, Herr Dondo. Das sind die Gefährlichsten.“
„Dududhühner pladd machen, hihi.“
„Truthühner!“
„Dududhühner, hihi. Aber natürlich Herr Cross.“
Herr Dondo schnappt ein Truthuhn aus der eng eingepferchten Herde und drückt es mit dem Kopf voraus in einen Trichter, der so an der Wand befestigt ist, dass der dünne Teil, aus dem jetzt der Kopf des Truthuhns herausschaut, nach unten gerichtet ist, und schlägt mit einem Knüppel auf den Kopf. Es knackst, als bräche der Schädelknochen. Aus den Kehllappen des wackelnden Kopfes tropft ein wenig Blut.
„Hihi, das war doch gut?“
„Ja, aber schneide noch die Kehle durch, damit das Tier wirklich tot ist“, befiehlt Herr Cross.
Blut spritzt nach allen Seiten. Herr Cross nimmt die Leiche und wirft sie in einen Ofen, während Herr Dondo bereits das nächste Truthuhn fängt. Und so geht es der Reihe nach: zuerst die Truthühner, dann die Enten, dann die Gänse und zuletzt die Hühner; den ganzen Tag.
Am Abend zündet Herr Dondo den Ofen an. Gelbe und rote Flammen kriechen an den Federn hoch.
„Wirf Benzin rein“, befiehlt Herr Cross.
„Hihi“. Die Flammen schießen hoch. „Hexenfeuer, hihi“, jubelt Herr Dondo unter dunklen Rauchwolken und tanzt.
Es stinkt bereits weit über das Gelände nach verbrannten Federn und verkohltem Fleisch, als Herrn Cross‘ Handy klingelt und der Amtstierarzt der zweitobersten Seuchenbehörde, Herr Dr. Sarkan, nach dem Fortgang unterrichtet werden möchte.
„Alles bestens gelaufen“, sagt Herr Cross, „Herr Dondo ist der qualifizierteste Mitarbeiter, den ich mir vorstellen kann.“
„Ja, wir wissen das, er wird bald befördert“, antwortet Herr Dr. Sarkan, „leider ist sein Zwillingsbruder in Südamerika verschollen.“
„Schade, den könnten wir auch gut gebrauchen“, bedauert Herr Cross. „Sehr traurig, dass uns gerade die besten Talente abhanden kommen.“
„Egal. Bald gibt es in diesem Land kein freilaufendes Geflügel mehr. Die Anschaffung der Anlage für elektrische Betäubung mit automatischem Schneidewerkzeug ist genehmigt“, meint Herr Dr. Sarkan.
„Ich bin froh, dann werden wir nicht an dieser elenden Grippe sterben. In Asien verrecken ja dauernd alte Leute daran.“
„Ja, absolut erschreckend, aber wir haben die tödliche Seuche im Griff. Ich werde unseren Erfolg noch heute an die Presse weitergeben. Sie werden zukünftig die neue Tötungsmaschine bedienen und Herr Dondo kommt in die Verwaltung.“ Herr Dr. Sarkan verabschiedet sich.
„Seit drei Jahren fliegen todkranke Zugvögel von Ost nach West, fallen bei ihrer Landung vor Schwäche tot um und infizieren andere Vögel, die sich in der Nähe aufhalten, mit dem für Menschen tödlichen Virus.“ Dr. Sarkan blickt ernst in die Kamera.
„Das ist sicher ein wichtiger Punkt?“, sagt der Moderator der Talkshow ‚Wissenschaft - leicht erklärt‘.
„Zugvögel fliegen von Nord nach Süd. Nach meinen Beobachtungen hat sich daran nichts geändert“, antwortet Dr. Verdandi, der andere Teilnehmer.
„Sie können doch von hier aus nichts beobachten. Wir bekommen die Daten direkt aus Asien übermittelt. Der Richtungswechsel der Vogelflüge ist die Folge der Klimaerwärmung in Europa“, schimpft Dr. Sarkan. „Zudem führen wir Tests auf molekularer Ebene durch und die waren alle positiv. Was sagen Sie dazu, Herr Dr. Verdandi?“
„Die Tests sind sehr sensitiv. Ihre Labore sind mit Virus-DNA kontaminiert, weil Sie darin schon lange mit Geflügelviren arbeiten. Daher ist jede Probe in Ihrem Labor positiv. In meinem Labor habe ich nachts UV-Lampen brennen und tausche die Pipetten öfters aus. Die Negativ- und die Positivkontrollen stimmen bei mir. Das Geflügel in Bernach ist nicht Virus-infiziert!“
„Wollen Sie behaupten wir würden nicht richtig arbeiten? Positiv bleibt positiv!“
„Ja, und ihre Negativkontrollen sind auch positiv, glaube ich.“
„Wir sparen uns die Negativkontrollen. Das ist viel zu teuer. Kontrollversuche machen nur Arbeit. Solch einen Blödsinn brauchen wir nicht.“ Dr. Sarkan macht eine Faust und versucht zu lächeln.
„Lassen Sie uns von vorne beginnen“, bittet Dr. Verdandi.
„Nein. Uns bleibt keine Zeit. Wollen Sie für den Tod tausender Menschen verantwortlich sein?“
„Bei uns ist noch kein Mensch an diesem Virus gestorben.“
„Sie verantwortungsloser Kollege, erst gestern habe ich im Krankenhaus das schlimme Husten gehört!“, schreit Dr. Sarkan.
„Husten hat verschiedene Ursachen“, sagt Dr. Verdandi.
Der Moderator kratzt sich währenddessen in den Haaren, dann auf der Nase und schliesslich streichelt er seinen Bart, bevor er die Diskussion unterbricht.
„Die Sendezeit ist abgelaufen, wir werden mit Spannung beobachten, was mit unserem Geflügel passieren wird.“
Familie Breuer und den anderen Geflügelzüchtern kann Dr. Verdandi nicht helfen. Es gelten nur vom Gericht anerkannte Gutachten. Und Dr. Verdandi sei eben kein vom Gericht bestellter Gutachter. Es ginge alles seinen richtigen Gang. Das Land müsse rein und sauber gehalten werden. Zum Schutze des Volkes seien alle gefährlichen Vögel getötet und die Leichen korrekt beseitigt worden.
In den Dörfern krähen keine Hähne und gackern keine Hühner. Dr. Sarkan, Herr Cross und Herr Dondo sind stolz auf ihre Taten. Dr. Verdandis Labore wurden geschlossen.
Frau Gutburg kocht Eier zum Frühstück. Herr Gutburg blickt aus dem Fenster in den Nachbargarten.
„Schön, dass es da drüben mal ordentlich aussieht. Dieser dreckige, kleine Hühnerstall ist weg“, sagt er zu seiner Frau.
„Komische Leute sind das, die Breuers“, antwortet Frau Gutburg, „dass die so vernarrt waren in Hühner?“
„Ja, was die produzierten, kaufen wir billig im Supermarkt.“ Herr Gutburg blickt auf die Eier, dann wieder nach draußen. Seine Augen betrachten zufrieden die gelben Ränder seines Grundstücks, wo er Pflanzenschutzmittel gespritzt hat. Plötzlich erstarren seine Gesichtsmuskeln.
„Aber … was machen die Breuers denn jetzt“, schreit Herr Gutburg. „Was ist denn das für ein Lärm?“
Frau Gutburg rennt zum Fenster. „Ein Kran!“, schreit sie, „warum kommt denn da ein Autokran?“ Beide schauen und beobachten, wie Herr Breuer den Kranfahrer in sein Grundstück einwinkt.
„Da ist ja noch ein riesiger Sattelschlepper!“, schreit Frau Gutburg. „Was passiert denn da drüben?“
Herr Gutburg kann es nicht fassen: „Die heben Fertiggaragen in Breuers Garten! Nein! Dort wo der Hühnerstall und die Volieren waren, sollen Garagen hinkommen!“
„Dann können wir ja nicht mehr weit sehen. Wir können nichts mehr im Dorf beobachten.“ Frau Gutberg blickt entsetzt.
„Sechs Garagen“, flucht Herr Gutburg. „Und dann noch der Motorenlärm!“
„Ruf sofort unseren Anwalt an“, bittet Frau Gutburg.