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Die Kishon-Taktik
Die Kishon-Taktik
Einer der widerwärtigsten Auswüchse der allgemeinen, um sich greifenden Amerikanisierung unseres Alltags ist das allseits beliebte Halloween-Fest. Nicht dass ich irgendwas dagegen hätte, aber es tut absolut nicht Not, dem deutschen Minderjährigen eine Tradition einzureden, die er dann konsequent jenen Leuten aufdrängt, die absolut nichts davon wissen wollen. Und so geschah es, dass an jenem 31. Oktober zwei dieser oben angesprochenen Minderjährigen in Piratenverkleidung mit ihren schrillen Schreien meine wohlverdiente Feierabendruhe zerstörten.
„Süßes, sonst gibt’s Saures!“
„Abhaun!“ Mit dieser kurzen und knappen Antwort hielt ich dieses Thema für beendet. Da hatte ich aber die Rechnung ohne die beiden Piraten gemacht. Mit einem erbärmlichen Gejaule fing der eine an, nach seinem Vater zurufen. Dieser hatte sich vorsichtshalber ein Stockwerk tiefer versteckt, um für alle Fälle seinem missratenen Nachwuchs in jeder Notlage beizustehen. Ein vorbildliches Verhalten, allerdings schlecht für mich. Mit geschwinden Schritten war der Mann dann auch schon an meiner Tür. Der böse Blick verriet mir, dass er es wahrscheinlich voll schäbig finde, dass ich den lieben Kleinen die Halloweenfreude mit meinem Spießerverhalten ruiniere, und dass ich mich doch gefälligst nicht so haben solle und jetzt endlich eine paar Süßigkeiten rausrücken solle.
Ich bin gerne Spießer, dachte ich und bereitete mich auf ein Streitgespräch vor. Aber beeindruckt von der schieren Größe des Mannes gab ich widerwillig die Bonbons heraus.
Da der Halloweenbrauch bei uns zwar populär, aber noch nicht zum Massenphänomen geworden war, hoffte ich, dass jetzt die lang ersehnte Ruhe eintreten würde. Falsch gehofft! Keine fünf Minuten später klingelte es und ein Hermann Munster nebst Gattin in Größe S stand vor der Tür.
„Apfel oder Stein!“
„Apfel!“, entgegnete ich, grabschte mir seine Tüte mit den bereits gesammelten Süßigkeiten und warf die Tür zu. Der anschließende Katzenjammer des Gruselpärchens nötigte die genervte Hausgemeinschaft dazu, mich aufzufordern, die ergaunerten Süßigkeiten wieder herauszurücken. Eigentlich hätte ich mir etwas mehr Solidarität erhofft. Aber man kann ja nicht alles haben.
Genervt zog ich mich in meine Bibliothek zurück und las in den Werken des besten Schriftstellers von allen. Doch die Ruhe wurde von der Haustürklingel jäh unterbrochen.
„Süßes, sonst gibt’s Saures!“
Dieses Mal forderten mich Dracula, Frankenstein und ein nicht definierbares Etwas zum Kampf heraus.
„Ich gebe nix und jetzt verpisst Euch!“ Aber die Clique wollte sich einfach nicht abwimmeln lassen.
„Auf ihn mit Gebrüll!“, rief Dracula, der offensichtlich der Anführer der Gruppe war. Sie zückten ein paar Kondome mit einem milchigen Inhalt und warfen die Geschosse auf mich. Als eines dieser Objekte an meinem Kopf zerplatzte, stellte ich mit Ekel fest, dass es sich bei der milchigen Flüssigkeit tatsächlich um Milch handelte, vergorene allerdings. Meine Würgereize nutzten die Angreifer aus, um in meine Wohnung einzudringen und meinen Kühlschrank zu leeren. Und Schwuppdiwupp stand ich vor dem kulinarischen Nichts.
Die halbe Stunde Ruhe, die ich nach diesem Zwischenfall hatte, wiegte mich in trügerischer Sicherheit: Sturmklingeln!
„Mpph oowmm boooeerhhm!“
„Nimm ersma das komische Pappding vom Mund weg bevor du mit mir redest!“
Die Eltern dieses Haufens hatten offensichtlich keine Zeit, kein Geld oder keine Lust, ihren Kindern ein anständiges Kostüm zu kaufen. Jedenfalls war das, was ich dafür hielt absolut erbärmlich.
„Das sind Draculazähne!!!“, plärrte mich dieser Giftzwerg beleidigt an. “Nu rück schon was raus!“
Wie automatisiert ging ich an die Schachtel mit den Süßigkeiten. Keine mehr da! Kühlschrank? Leer!
Einige Sekunden später kam ich mit einer handvoll Konservendosen zurück..
„Häää??? Pilze? Erbsen? Spinnst wohl!“ Dracula und die anderen finsteren Gesellen aus dem Totenreich waren aber wieder einmal nicht zufrieden zustellen. Also stürmten sie die Wohnung und stöberten solange rum, bis sie meinen Marmeladenvorrat entdeckt hatten, welchen ich dann auch prompt los wurde.
Es schien sich herumgesprochen zu haben, dass es bei mir einiges zu holen gab. Die feige Nachbarschaft hatte sich schon Tage vorher mit einem entsprechenden Vorrat an Süßigkeiten eingedeckt. Wie gesagt: Solidarität? Fehlanzeige!
Im Zehnminutentakt klingelte es an der Wohnungstür, und ich musste teilweise unter den bösen Blicken der Elterntiere alles rausrücken, was in irgend einer Weise zu gebrauchen war.
Die Uhr schlug acht und ich saß in einer leeren Wohnung. Alles hatten sie mir genommen, alles außer ein Buch, für welches ich bereit war, mein Leben zu geben: Das beste Buch von allen, vom besten Schriftsteller von allen.
Den Gedanken, dass ich es jetzt geschafft hätte, verwarf ich in dem Moment, als mir die Wohnungsklingel ihren schrillen Schrei direkt ins Ohr stieß. Vor der Tür standen Biene Maja und Willi und hielten zähnefletschend ihre Tüte auf. Gähnende Leere. Offensichtlich hatten die beiden heute nicht viel Glück gehabt.
Noch bevor Biene Maja ihren Mund öffnen konnte, um das erste Wort zu sagen, fuhr ich dazwischen:
„Verpisst Euch! Ich habe nix mehr.“
Gerade wollte ich die Tür schließen, da stellte sich ein Fuß in den Türspalt. Willi postierte sich vor mir und holte zum verbalen Schlag aus.
„Weg da!“ Sprach’s, zückte seinen gewienerten Stachel und stürmte auf mich zu. Mit Mühe konnte ich ihn davon abhalten, die Tür einzurennen.
Die beiden standen einen Moment lang fassungslos da. Mit soviel Gegenwehr hatten sie wohl nicht gerechnet. Die Tatsache, dass es dieses Jahr zu Halloween nichts mit Süßigkeiten war, ließ sie vor Wut überschäumen.
Mit einem Ruck rammte mir Willi seinen Stachel, der zu meinem Entsetzen nicht aus Pappmachee, sondern aus massiven Eichenholz nebst eingearbeitetem Stahlkern bestand, in den Fuß. Biene Maja fletschte ihre Plastikvampirzähne, die ich übrigens für diese Art Kostüm völlig unpassend fand, und biss mir in den Oberschenkel.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht schüttelte ich die beiden ab und schmiss die Tür hinter mir zu. Von draußen hörte ich noch das Gezeter der beiden, während es mir wie Schuppen von den Augen viel: Die Kishon-Taktik. Mit Riesensätzen rannte ich ins Arbeitszimmer und ergriff letzen, mir noch verbliebenen Gegenstand. Das Buch des besten Schriftstellers von allen. Seine Erfahrungen waren in diesem Moment Gold wert.
Die beiden hämmerten gegen meine Tür und schrieen nach dem begehrte Süßkram. Nach dem ich meine Wunden notdürftig verarztet hatte, zog ich mir die blutige Hose aus und zeriss sie in mehrere lange Fetzen. Mit den länglichen Fetzen bewaffnet riss ich die Tür auf, schnappte mir Biene Maja und Willi und zerrte sie in meine Wohnung. Mit schnellen Handgriffen waren die beiden zusammen gebunden und auf den Boden gesetzt. Aber anstatt nach Mama zu rufen, bemerkte Willi trocken, dass eine Klage wegen Missbrauchs Minderjähriger auf mich zu kommen würde, wenn ich die beiden jetzt nicht sofort losbinden und nach Hause gehen lassen würde. Ich pflichtete ihm absolut bei, was ihm aber im Moment gar nichts nützen würde. Schmollend erkannte er seine Niederlage an.
Ich zwängte mich in sein Kostüm, schnappte mir seine Schwester und zog los. Mit meinen einssiebenundfünzig war es kein Problem, mir die Methoden dieser kleinen Halloweenbiester zu Nutze zu machen.
Eine Stunde später hatte ich die Hausgemeinschaft, den Wohnblock und die gesamte Straße abgegrast und meine Wohnungseinrichtung wieder beschafft, ohne erkannt zu werden. Über einige Neuanschaffungen war ich besonders stolz, DVD-Player, Computerspiele und eine Goethe-Büste aus Gips.
Das Geschäft lief dermaßen gut, dass ich Willi und Biene Maja ein Friedensangebot machte und sie mit fünfundzwanzig Prozent am Erlös der Beute beteiligte. Willi schmollte nicht mehr, und die Anzeige wegen Kindesmissbrauchs wollte er auch nicht einreichen. Stattdessen sind wir jetzt als Trio unterwegs und feiern jeden Tag Halloween.
Anmerkungen:
1. Ja, diese Geschichte ist geklaut! Eine Coverversion, wie wir Rock'nRoller es nennen würden.
2. Sorry, dass in dieser Geschichte erneut Biene Maja und Willi vorkommen!