- Beitritt
- 02.09.2015
- Beiträge
- 1.788
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 37
Die Kommune
Janine klappte ihr Notebook zu. Für ihren letzten Artikel hatte sie hundert Bonuspunkte erhalten. Auch, wenn sie diese Woche davon leben konnte, verdiente sie zu wenig, um etwas anlegen zu können. Seufzend strich Janine sich über den Bauch. Sie war deutlich zu spüren, die kleine Wölbung. Eine Träne lief ihr über die Wangen. Sie hätte so gerne einen Jungen gehabt. Doch die Geschlechtsauswahl musste ganz am Anfang der Schwangerschaft erfolgen und war zudem sehr teuer. Sie konnte, so sehr sie sich auch bemühte, nicht mit den Optimierten mithalten. Die meisten Bonuspunkte gab es einfach für gute und effiziente Arbeit.
Janine griff wieder nach ihrem Notebook und rief die »Babystyle« auf. Sie las die Titel durch. »Catwoman returns« oder »Pippi geht an Bord«. Auf den Bildern waren Eltern mit ihren Babys zu sehen und Animationen von dem älteren »Ich« der Kinder. Bei den jungen Familien standen eindeutig die optischen Trends im Vordergrund, nachdem besondere Begabungen in MINT, Sprachen, Musik und Sport längst Routineeingriffe waren.
»Keck wie Pippi Langstrumpf« oder »Tough wie Catwoman«. Diese Entscheidung müsste sie für ihre Tochter fällen, doch ihre Bonuspunkte würden gerade für eine MINT-Begabung reichen. Es musste etwas geschehen. Sie brauchte einfach mehr Jobs. Janine suchte nach der letzten Message von »Future-Pic«, einem bekannten eJournal, für welches sie gelegentlich Artikel im Sommerloch veröffentlicht hatte. Freie Mitarbeiter wie sie wurden häufig für sogenannte »Außenreportagen« engagiert. Der Auftrag war mit bis zu dreihundert Bonuspunkten ausgeschrieben. Das war richtig viel und dieses Mal war es ein Artikel, mit dem sie Aufmerksamkeit bekommen könnte – und Folgeaufträge!
Es war ein sonniger Morgen. Die Nebelschwaden zogen über die Felder, als Janine mit dem geliehenen eCar zu der abgelegenen Siedlung von Toni Huber fuhr. Es hatte zwei Wochen gedauert, bis der Sektenführer einem Interview zugestimmt hatte. Nach ihren Recherchen würde das Treffen auf dem Hof der Höhepunkt für ihren Artikel werden. Janine wollte mit diesem Projekt etwas bewegen. Für die Zukunft ihrer Tochter und für alle Familien, die in der gleichen Situation waren wie sie.
Von den Einwohnern des nahegelegenen Ortes hatte sie erfahren, dass der »Huber-Hof« seit zwei Jahrhunderten existierte. Zunächst wurde Milchwirtschaft betrieben und dann hatte der Großvater Kevin auf ökologische Landwirtschaft gesetzt. In den letzten Jahren hatten sich hier unter der Schirmherrschaft des Toni Huber immer mehr Optimierungsgegner angesiedelt. Sie lebten abgeschottet auf Selbstversorgerbasis. Die Kinder wurden nicht einmal gegen Erbkrankheiten optimiert und nahmen nicht am eUnterricht teil. Die meisten der jungen Dorfbewohner, mit denen sie in den letzten Tagen gesprochen hatte, schüttelten den Kopf über die Kommune. Unverantwortlich sei dieses Modell, die sollten bloß unter sich bleiben und ihre Irrlehren nicht weiterverbreiten. Lediglich ein paar ältere Leute hatten Verständnis für die altertümliche Lebensweise auf dem Hof gezeigt. Würde ihre Mutter noch leben, dachte Janine, sie hätte sich ebenfalls solidarisch verhalten.
»Bitte langsamer«, sagte Janine. Der Huber-Hof war in keiner Navigationsdatei hinterlegt, aber es konnte nicht mehr weit sein. Janine ließ ihren Blick suchend über Straße und Felder gleiten und dann sah sie das Holzschild an dem Feldweg rechter Hand. »Kommune Huber« stand dort mit Kinderschrift rot aufgepinselt. Der Weg sah schlammig aus. Janine entschied, ihr eCar am Straßenrand zu parken und die letzen Meter zu Fuß zu gehen. Sie hatte keine Lust, die Reinigung mit wertvollen Bonuspunkten bezahlen zu müssen. Sie war ohnehin schon wieder im Minus.
Das letzte Stück des Feldwegs führte durch einen Wald. Schließlich tauchten die Häuser des Hofes auf. Sie waren allesamt aus Holz und in bunten Farben gestrichen. Es herrschte großer Trubel auf dem Hofgelände. Vor dem Eingangstor rannten vier Kinder in Zickzackkurven, blieben aber abrupt stehen, als Janine sich näherte. Ein Junge mit dunkler Haut und krausem Haar tuschelte einem kleinen blonden Mädchen mit abstehenden Zöpfen etwas ins Ohr. So ungefähr würde Janine sich ihre Pippi vorstellen, nur mit roten Haaren und den typischen Sommersprossen. Dieses Mädchen könnte so viel hübscher sein, hätte man sie nur ein wenig optimiert. Janine passierte nachdenklich das Tor. Was sollte sie von diesem Hof halten? Es war unruhig hier. Überall sah sie Menschen bei der Arbeit, beim Schwatzen oder sonstigem Zeitvertreib. Ein paar Kinder spielten Fangen oder hingen auf Holzbänken ab. So sah also die Bildung des Nachwuchses aus.
»Sie müssen die Reporterin sein, nicht wahr? Frau Drechsler?«
Janine zuckte kurz zusammen. Vor ihr stand ein Hüne mit schulterlangen Locken, einem manierlich gestutzten Vollbart und großen, dunklen Augen.
»Huber, mein Name!« Die Stimme des Bauern war ein tiefer Bassbariton.
Janine erstarrte kurz, bevor sie nach der entgegenstreckten Hand griff. Der Händedruck war kräftig, ein bisschen zu kräftig für Janines Geschmack. Ihr begegneten selten Männer, die größer waren als sie selbst. Die ganzen Luke Skywalkers, Sherlock Holmes und Freddy Krügers ihrer Generation waren nicht gerade Riesen. Janine schauderte es ein wenig bei dem Gedanken, dieser Bauer könnte ihr nachts im Wald begegnen.
»Na, dann kommen Sie einmal mit und schauen Sie, wie krank und gebrechlich hier alle sind.« Der Hüne ging mit großen Schritten in die Richtung eines gelb gestrichenen Hauses.
Verdutzt brachte Janine nur ein leises »In Ordnung.« über die Lippen und folgte ihrem Gastgeber verwirrt, während sie erst im Gehen die Ironie seiner Anmerkung begriff. Die Menschen hier sahen keineswegs gebrechlich aus. Das musste sie zugeben.
Auf einem Baum kletterten Kinder herum, zwei Frauen tratschten in einer Ecke, einige Männer begutachteten einen Traktor und ein paar Jugendliche kicherten auf einer Bank herum, während sie ihr verstohlene Blicke zuwarfen. Janine war aber trotzdem verstört von den vielen Gesichtern, von denen kaum eines dem anderen glich. Nur gelegentlich sah sie, dass wie aus einer Laune der Natur heraus, ein Kind der Mutter oder zwei Kinder einander ähnlich sahen. Was taten diese Menschen ihren Kindern an? Dagegen müsste man doch einschreiten! Wie sollten diese Kinder sich denn einmal fühlen? Sie wurden doch benachteiligt. Eigentlich war es längst an der Zeit, dass nicht nur die Optimierungen gegen Erbkrankheiten finanziert würden, sondern es auch irgendeine Form der Unterstützung für alle weiteren Behandlungen geben sollte.
»Wir gehen ins Haus«, sagte der Huber.
Janine nickte wortlos, während sie das alte Hofgebäude betraten und schließlich durch einen langen Flur gingen. Der Bauer öffnete die Tür zu einer gemütlichen Stube mit einer Eckbank und einem grünen Kachelofen. Janine setzte sich mit ihrer Tasche auf die gepolsterte Bank.
Toni Huber ging derweilen vor dem Ofen leicht in die Hocke und schob ein Holzscheit nach. »Ganz schön kalt heute«, grummelte er in seinen Bart.
»Es wird Herbst.« Janine grinste verlegen. Das war jetzt nicht gerade der beste Einstieg für ein Interview. »Sie haben es nett hier«, sagte sie schließlich, um überhaupt etwas zu sagen.
Toni Huber schlug die Klappe des Kachelofens zu und setzte sich auf einen Stuhl zu Janine an den Tisch. Für einen Moment herrschte eine peinliche Stille, wie sie sich so gegenüber saßen.
»So, Sie wollten etwas fragen«, sagte der Bauer und kratzte sich am Bart.
»Ähm, ja.« Janine suchte in ihrer Tasche nach ihrem Notebook. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Sie leben hier?«, fragte sie während sie ihren Rechner aufklappte und auf die Sprachaufnahme drückte.
Toni Huber grinste. »Ja!« Mit verschränkten Armen lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und sah sie aufmerksam, aber auch belustigt an.
»Jaaa«, wiederholte Janine und tat so, als wolle sie etwas Wichtiges notieren, obwohl sie nichts anderes tat, als ein paar Programme zu schließen. »Ihre, Ihre Kinder. Sie optimieren sie nicht?« Janine blickte von ihrem Notebook auf und sah ihr Gegenüber flüchtig an. »Warum?«
»Warum sollten wir?«
»Ähm, nun ja. Wegen der Krankheiten und sie sollen ja einmal am Wirtschaftsleben teilnehmen, erfolgreich sein. Und nicht krank werden, ich meine, zu früh krank werden.«
»Und als Optimierte werden sie nicht krank?«
»Ähm, ja doch. Aber nicht so oft und nicht an Erbkrankheiten und den Rest kann man ja impfen und äh, so eine kleine Erkältung …«
»Wissen Sie, wir leben hier seit Generationen auf diesem Hof. Mein Bruder ist mit fünfzehn gestorben. Vom Scheunendach gefallen. Ein Ziegel war locker. Da hätte keine Optimierung der Welt geholfen. Mein Großvater ist Hundertfünf geworden. Die letzten zwei Jahre lag er im Bett, war aber noch völlig bei Verstand. Ein helles Köpfchen war er. Bis zuletzt.« Bei diesen Worten tippte sich Toni Huber an den Kopf.
Janine nickte eifrig. »Ja, da haben Sie natürlich recht. Von einem Dach fallen kann jeder. Aber man kann durch die Optimierungen ja so viel vermeiden. Herz-Kreislauferkrankungen, bestimmte Krebsarten und Farbenblindheit. Ich bin keine Fachfrau, aber laut diverser Gutachten würde eine lückenlose Gesundheitsoptimierung dafür sorgen, dass solche genetisch bedingten Krankheiten in spätestens hundert Jahren ausgerottet sein würden.«
Janine rutschte etwas nervös auf der Eckbank hin und her. Dieser Hüne verunsicherte sie.
»Unsere Kinder wachsen gesund auf. Sind kaum krank. Spielen draußen auf den Feldern. Ihre Gutachten! Das ist alles nur das Geschreibsel irgendwelcher Optimierer, die damit ihr Geld … Verzeihung, ihre Bonuspunkte verdienen.«
»Das mag natürlich sein, dass mit den Optimierungen auch Bonuspunkte verdient werden, aber es geht ja trotzdem um die Gesundheit der Bevölkerung und überhaupt. Kinder bekommen Talente …«
»Unsere Kinder finden ihre Talente von ganz alleine. Die Pina zum Beispiel! Fünf ist das Mädel und malt wie Picasso!«
»Picasso.« Janine zog die Augenbraue hoch. Malte nicht jedes Kind wie Picasso?
»Verstehen Sie was von Kunst?«
»Nein«, räumte Janine ein.
»Haben Ihnen Ihre Eltern das Talent nicht mitgegeben? Werfen Sie Ihnen das vor?«
»Meine Eltern haben mir gar kein Talent mitgegeben. Sie waren der Ansicht, dass die von der Krankenkasse bezahlte Optimierung gegen Erbkrankheiten völlig reichen würde. Das werfe ich ihnen tatsächlich vor.«
»Und Sie haben keine eigenen Talente?« Der Bauer rückte mit seinem Stuhl näher an den Tisch heran.
Automatisch drückte sich Janine weiter in die Ecke rein. »Ähm, ich, ich weiß nicht. Da ist nichts, in dem ich besonders gut bin.« Musste dieser Huber solche Fragen stellen? Janine erinnerte sich an ihre Schulzeit vor Einführung des eUnterrichts und das Gelächter ihrer Mitschüler, wenn sie wieder einmal etwas nicht verstanden hatte.
»Wirklich nicht? Nichts was Sie gerne machen und Ihnen fast immer gelingt?« Der Bauer sah Janine nun mit großen Augen an.
»Florentiner«, rutschte es Janine heraus, bevor sie wirklich über die Frage nachgedacht hatte.
»Ah, Florentiner. Das ist ein sehr schönes Talent. Eines, das satt macht.«
»Nun, ja. Aber damit kann ich ja nichts anfangen. Ich bin ja keine Konditorin. Und die anderen Sachen werden auch nicht so gut. Mir fehlen zudem die Bonuspunkte ...« Janine fühlte sich zunehmend unwohl bei dem Gespräch. Wer stellte hier eigentlich die Fragen?
Es herrschte auf einmal wieder eine unangenehme Stille im Raum. Dabei hatte sie sich sehr gut vorbereitet, doch dieser Huber-Bauer mit seiner Art war einfach unmöglich. So ganz anders, als ein normaler Mann ihrer Generation. Beängstigend. Auf einmal fragte sich Janine, ob sie auf ihre Mitschüler auch so unheimlich gewirkt hatte mit ihren blonden Haaren und ihrer Körpergröße.
»Und, wann ist es bei Ihnen so weit?«, fragte der Bauer.
Janine zuckte zusammen. »Wann, wann, was so weit?«, stotterte sie und zog ihren Pullover weiter runter.
»Na, ja. Man sieht es ja schon.« Toni Huber grinste breit.
Er machte sich einen Spaß daraus, sie in eine peinliche Situation zu bringen.
»Es ist noch sechs Monate hin bis zur Geburt meiner Tochter.« Janine versuchte, ihre Professionalität wiederzugewinnen und nahm eine gerade Haltung vor dem Notebook ein.
»Aha, und?« Hubers Blick war eindringlich.
»Und?«
»Und werden Sie Ihr Kind optimieren?« Die Stimme des Bauern wurde ungeduldig. In seinen Augen stand deutlich ein »Der-muss-man-alles-aus-der-Nase-ziehen« geschrieben.
»Ja, ich denke schon. Auf jeden Fall werde ich die Leistungen annehmen, die die Krankenkasse zahlt. Und vielleicht kann ich mir eine Begabung leisten. Ich dachte an MINT, das wird immer gebraucht und ist auch nicht so teuer.«
»Aha, und glauben Sie nicht, dass Ihr Kind keine eigenen Talente entwickeln würde?«
»Eigene Talente? Welche sollen das denn sein?« Janine rückte ihren blonden Zopf zurecht. Rote Haare, sie sollte rote Haare haben.
»Na ja, z.B. Florentiner backen.« Der Huber Bauer zeigte weiße Pferdezähne.
»Florentiner backen?« Dieses Gespräch nahm eine Wendung, die Janine nicht gefiel.
»Ja, Florentiner backen. Das könnten Sie ihr beibringen. Und, wenn es mit den Florentinern nicht so klappt, dann vielleicht mit Pfannkuchen oder Linzer Torte. Na, irgendetwas halt. Vielleicht ist sie auch eine gute Reiterin oder möglicherweise eine gute Mathematikerin. Ganz von selbst.«
Janine schwieg für einen Moment. Schließlich fasste sie sich wieder. Sie müsste wieder die Herrin über das Gespräch werden. »Nun gut, dann sagen wir einmal, sie wäre eine gute Mathematikerin. Was würde das ihr bringen, wenn sie keinen Arbeitstag durchstehen könnte? In den Büros heutzutage sind vierzehn Stunden ohne jede Pause die Norm und wenn es geht, dann vielleicht sogar ein bisschen mehr.«
»Und warum möchten Sie, dass Ihre Tochter eines Tages vierzehn Stunden am Stück arbeitet? Sie möchte vielleicht auch noch andere Dinge tun. Möglicherweise hat sie zwei Talente. Vielleicht ist sie eine tolle Mathematikerin und trotzdem eine gute Reiterin und sie will vielleicht am Nachmittag mit ihrem Pferd ausreiten.«
Janine wurde langsam wütend von dieser hemdsärmeligen Argumentation. »Wenn sie keine Festanstellung kriegt, wird sie sich so ein Pferd überhaupt nicht leisten können!«
»Hmmm.« Der Huber-Bauer kratzte sich am Kopf. »Hätten Sie gerne ein Pferd?«
»Nein«, sagte Janine. »Ich bin noch nie geritten. Mir liegt nichts an Pferden.«
»Und deshalb soll Ihrer Tochter auch nichts an Pferden liegen?«
»Nein.« Janine wurde ein wenig lauter.
»Und arbeiten Sie vierzehn Stunden am Tag?«
»Das geht Sie eigentlich gar nichts an. Aber, nein. Meine Eltern haben darauf verzichtet, die notwendigen Optimierungen auch in dieser Hinsicht vorzunehmen.«
»Und jetzt sind Sie unglücklich?«
»Es könnte mir besser gehen. Ich verdiene keine Bonuspunkte, weil ich dem Arbeitsalltag nicht standhalte und die Verlage schicken mich deswegen auf solche Außenreportagen. Am Ende weiß ich nicht einmal, ob sie mir einen Artikel abkaufen oder nicht.«
»Und deswegen macht Ihnen die Arbeit keinen Spaß?!« Der Huber stand auf, um noch einen weiteren Holzscheit in den Kachelofen zu werfen.
Spaß! Als ob es darauf ankäme! Dieser Bauer lebte vollkommen an der Realität vorbei. »Ich möchte, dass meine Tochter glücklich wird«, sagte sie.
»Meinen Sie denn, dass die Kinder hier auf meinem Hof so unglücklich aussehen?«
Janine dachte an die Jungen und Mädchen, die ihr begegnet waren. Sie hatten ausgelassen gewirkt. Aber sie verschwendeten wertvolle Zeit! Und zudem erschien ihr das hier alles fast zu idyllisch. Wer sagte denn, dass dieser Bauer nicht etwas vor ihr versteckte? Schließlich hatte sie bislang kaum etwas von dem Hof gesehen. Möglicherweise waren das dort draußen seine »Vorzeigekinder«. »Ich denke, dass die Optimierung gut ist«, sagte Janine, »und zwar nicht nur in gesundheitlicher Hinsicht. Mit gezielt ausgesuchten Talenten, einem großen Durchhaltevermögen verbessern sich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt erheblich. Die Stellen im höheren Bonusbereich sind jetzt schon faktisch Optis vorbehalten. Wie wird das erst in zehn oder zwanzig Jahren sein?«
»Sie meinen also, dass Ihre Tochter glücklicher wird, wenn sie vierzehn Stunden bis zum 85. Lebensjahr arbeiten kann?« Der Bauer grummelte sich noch etwas in den Bart, das Janine nicht verstand.
»Sie wäre keine Außenseiterin und …« Janine suchte nach den Worten. »Meinen Sie denn nicht, dass es nicht wenigstens gut wäre, Kinder gegen Krankheiten zu optimieren? Ich meine, Sie wissen doch gar nicht, woran die sterben werden.« Vielleicht wäre es sinnvoller, mit dem Bauern über die wirklich essentiellen Themen zu sprechen. Denn auch Janine musste zugeben, dass das Aussuchen des Geschlechts und des Aussehens schöne Möglichkeiten waren, aber für das Überleben nicht dringend notwendig.
Der Bauer räusperte sich. »Wir werden alle alt, krank und sterben. Das passiert so, wie es die Natur eingerichtet hat. Da muss man nicht rumoptimieren. Die meisten ach so bedrohlichen Krankheiten, überstehen die Leute hier ganz gut.«
»Aber, aber …«
»Wie sieht denn euer optimierte Alltag aus? Ihr arbeitet, arbeitet und arbeitet bis ihr 85 seid. Wenn ihr das überhaupt durchhaltet. Sehen Sie sich doch an! Sie wissen, dass Sie das nicht schaffen werden und sind deswegen verbittert. So verbittert, dass Sie Ihrer Tochter das antun wollen, was Ihre Eltern glücklicherweise unterlassen haben! Was bringen denn den Optis die fünf von den Krankenkassen geschenkten Jahre bis zum eingestellten Tod? Das hört sich so viel an, aber die Menschen sind alt. Sie haben fünf freie Jahre und sind dann alt. Da hilft keine Optimierung, gegen das Altern.«
»Aber …«
»So soll die Menschheit der Zukunft aussehen. Perfekt, effektiv und optimiert. Und den Sozialkassen möglichst nicht zur Last fallen. Wir in der Kommune! Bei uns gibt es noch Mitmenschlichkeit, wir helfen einander, hier geht es nicht um Bonuspunkte!« Der Huber Bauer schlug mit seiner Faust so laut auf den Tisch, dass Janine erschrocken zusammenzuckte.
»Aber krank werden …« Janine merkte, wie ihr heiß wurde. Der Huber-Bauer hatte einen puterroten Kopf.
»Wir versuchen, diejenigen, die krank sind, zu heilen. Mit natürlichen Mitteln und vielleicht auch manchmal mit altmodischen Methoden. Wir haben hier ein paar Leute, die Wissen haben, das längst in Vergessenheit geraten ist, sogar einen kleinen Operationsraum haben wir. Ich frage mich, was soll denn einmal passieren, wenn es nicht mehr möglich ist, Menschen zu optimieren? Durch eine Naturkatastrophe oder einen Krieg! Wenn die Optitale zerstört werden, wenn es keinen Arzt mehr gibt, der weiß, wie man zum Beispiel einen Herzkatheter legt? Wie soll es den Menschen dann gehen? Wir wissen überhaupt gar nicht, welche Langzeitwirkungen dieses Optimieren hat! Was es aus unserer Menschheit macht!« Toni Huber schüttelte den Kopf.
Janine sah den Mann mit großen Augen an. Solch einen Wutausbruch hatte sie zuletzt bei ihrem Vater erlebt. »Und was wollen Sie?«, fragte sie. »Dass das Optimieren abgeschafft wird?«
Der Bauer lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Nein, nein, nein.« Er schüttelte den Kopf. »Man kann es eh nicht aufhalten, dass die Menschheit in ihr Verderben läuft. Sich selbst auslöscht. Sie sind doch das beste Beispiel! So wie Sie ticken doch mittlerweile die meisten. Selbst die Leute aus dem Dorf. Das Einzige, was ich will, ist, dass man uns in Ruhe lässt. Dass wir so leben können, wie wir leben wollen. Es muss nämlich jedem seine Entscheidung bleiben, ob er sich und seine Kinder optimieren will. Schreiben Sie das! Schreiben Sie ruhig, wir wären harmlose Verrückte, die man in Ruhe lassen soll!«
Janine schwieg. Dieser Bauer war völlig irre und vielleicht sogar gefährlich.
»Das Leben hier draußen lohnt sich!« Toni Huber war wieder ruhiger. »Haben Sie es nicht gemerkt? Die Luft? Die Sonne, wie sie herbstlich auf die Felder scheint? Ich frage Sie noch einmal, was wünschen Sie sich für Ihr Kind?«
Janine packte ihr Notebook zurück in die Tasche. »Ich wünsche mir, dass meine Tochter ein gutes Leben hat. Ein Leben, das mir verwehrt geblieben ist.«
»Sie möchten also Ihr Kind optimieren, um wiedergutzumachen, was Ihre Eltern Ihrer Meinung nach bei Ihnen falsch gemacht haben?«
Janine zog den Reißverschluss ihrer Tasche zu, während sie aufstand. »Ich möchte nur das Beste für mein Kind. Da können Sie sich sicher sein!«
»Und, wenn alle Menschen optimiert sind? Nach den Maßstäben, die gerade dem allgemeinen Gutdünken entsprechen? Wenn alle Menschen ohne zu murren, ihrer Aufgabe folgen, vierzehn Stunden am Tag, vielleicht sogar fünfzehn? Was ist dann mit dem freien Willen? Haben Sie darüber schon nachgedacht? Wenn es keine Entscheidungsfreiheit mehr gibt? Wenn unsere Demokratie zur Diktatur der Mehrheit über die Minderheit wird? Was dann?«
Janine schwieg und streckte dem Bauern wortlos die Hand entgegen. Dieser rührte sich nicht. Schließlich drehte Janine sich um. »Bemühen Sie sich nicht«, sagte sie. »Ich finde schon alleine zurück.« Eilig verließ sie den Hof.
Natürlich dachte sie darüber nach, was dieser Huber gesagt hatte. Aber hatten Eltern überhaupt das Recht, zu entscheiden, ihre Kinder nicht zu optimieren? Müsste der Staat nicht dafür sorgen, dass alle Kinder optimiert werden? Wie sollten kränkelnde Menschen, die nicht auf einen üblichen Arbeitstag optimiert waren, in dieser Gesellschaft überleben? Konnte sich diese Gesellschaft überhaupt noch solche Optimierungsgegner leisten? Und plötzlich wusste Janine, was sie tun müsste, um die Bonuspunkte für ihre Pippi zu verdienen.
Zurück in der Stadt, begann Janine ihren Artikel zu schreiben:
Pippilotta saß hinter ihrem Notebook und beobachtete die Lage. Sie war als Tochter von Janine Drechsler zur strategischen Einsatzleiterin ernannt worden. Ihre Mutter, die viel zu früh verstorben war, hatte über Jahre hinweg auf die Missstände bei Optimierungsgegnern aufmerksam gemacht. Mit ihren Artikeln setzte sie sich für eine flächendeckende Behandlung von Ungeborenen ein und wurde schließlich Vorsitzende der ProOpti-Partei, die mittlerweile die stärkste Kraft in der Regierungskoalition war. Seitdem waren Gesundheitsoptimierungen bis zum dritten Lebensjahr verpflichtend durchzuführen, zudem wurden Begabungsoptimierungen bezuschusst und zinsgünstige Kredite für kosmetische Eingriffe gewährt. Die ProOptis hatten in der Politik viel Gutes bewegt. Aber immer noch gab es wenige Menschen, die aus Unwissen oder falscher Nostalgie nicht verstanden, wie wichtig die Optimierung ihrer Kinder war.
An diesem Tag würde der Huber-Hof gestürmt werden, um diese letzten Optimierungsgegner festzunehmen und die Kinder und Jugendlichen einer Zwangsoptimierung zuzuführen. Die Einsatzkräfte waren bereits vor Ort und warteten nur auf ihr »Go«! Pippilottas Finger kreiste über der roten Taste.
Es würde alles plangemäß verlaufen. Das tat es dank ihrer Begabungen immer, wenn sie etwas in die Hand nahm. Die neuen Technologien der letzten Jahre hatten es endlich ermöglicht, Menschen noch bis zum 20. Lebensjahr nachzuoptimieren. Es lebten derzeit etwa fünfzehn Kinder und Jugendliche auf dem Hof. So genau wusste das keiner. Pippilotta hatte schon einen Plan erstellt. Es wurden gerade eTeachers benötigt und ein paar IT-Experten wären gut. Damit die neu Optimierten sich voll und ganz ihrer neuen Bestimmung widmen könnten, würden alle anderen Talente und Neigungen unterdrückt. Die Erwachsenen sollten einem Gericht vorgeführt werden. Ihnen drohten Strafverfahren wegen Körperverletzung durch Unterlassen und vielleicht sogar dem einen oder anderen wegen versuchter Tötung vor dem 90. Lebensjahr. Pippilotta lehnte sich zufrieden zurück. Sie würde beenden, was ihre Mutter angefangen hatte und mit dem Huber-Hof auch die letzten Optimierungsgegner eliminieren. Dann endlich würden diese armen Geschöpfe nützliche Glieder dieser Gesellschaft werden. Sie drückte die rote Taste. Go!