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Die Kunst, zu hören
1
Brigitte, ein neunzehnjähriges Mädchen, ging auf der Straße entlang.
Jedes männliche Wesen, vom pubertierenden Jugendlichen bis hin zum sabbernden Greis schaute ihr hinterher und sie wusste das.
Sie war einen Meter neunundsiebzig groß, hatte langes braunes Haar und blaue Augen.
Brigitte war auf dem Weg nach Hause, als sie an einem Spielplatz vorbeikam. Sie sah einen alten Mann, der von kleinen Kindern umgeben war. Der Mann verhielt sich äußerst merkwürdig: Er führte einen eigenartigen kleinen Tanz auf, und klopfte mit einer Hand auf ein Melonenstück, das sich in seiner anderen Hand befand. Die Kinder umringten ihn, jedoch nicht lachend, ihn ärgernd, sondern vollkommen ernst. Es schien so, als ob er sie hypnotisiert hätte.
Der Mann und die Kinder wurden Brigitte gewahr und unterbrachen den mysteriösen Tanz und der Mann hörte auf zu klopfen.
Alle Blicke waren auf Brigitte gerichtet. Sie fühlte sich verpflichtet, etwas zu sagen und blieb stehen. Dann sagte sie:
„Was zur Hölle machen Sie da?“
Der Mann entgegnete:
„Ich zeige den Kindern gerade, wie man Katzen anlockt. Weißt du, Katzen haben ein sehr feines Gehör und wenn man die richtigen Klopfzeichen kennt, können sie nicht wiederstehen und müssen angeschlichen kommen.“
Er warf einen eindeutigen Blick in Brigittes Schoß. „Anscheinend klappt es ...“
Normalerweise hätte Brigitte ihm nun gehörig die Meinung gesagt, aber erstens wollte sie das nicht vor den Kindern und zweitens merkte sie, dass die Worte des Mannes sie überzeugt hatten. Ja, wenn man den richtigen Rhythmus kennt, müssen die Katzen kommen. Wenn man ihn kennt. In diesem Augenblick wollte sie nichts lieber, als den Rhythmus zu kennen.
Nun meldeten sich einige Kinder zu Wort:
„Ich will auch mal ... ich auch ... und ich.“
Der Mann blickte aus gütigen Augen auf sie herab und übergab die Melone einem kleinen Mädchen.
Das wollte schon anfangen zu tanzen und zu klopfen, als der Mann plötzlich einen harten Glanz in seinen Augen hatte und intonierte. Brigitte war sich sicher, dass es dunkler wurde, als er sprach, und dass von irgendwoher unheilkündende Musik erklang:
„Wenn du die Melone fallen lässt ... musst du alles vom Boden auflecken! Und dann wirst du für immer gezeichnet sein und nie wieder Katzen rufen können. Das ist das Risiko, das du eingehen musst, wenn du diese gottgleichen Geschöpfe rufen willst, wenn du Macht über sie bekommen willst. Es ist deine Entscheidung.“
Es hellte wieder auf und die Musik verklang.
Der harte Glanz in des alten Mannes Augen verschwand.
Er wandte sich an Brigitte:
„Und was kann ich für dich tun, schöne Maid?“
„Ich möchte von Ihnen lernen.“
„Dann komm.“
Brigitte war willenlos geworden. Allerdings nicht ganz unfreiwillig. Sie folgte dem Mann durch mehrere Straßen. Sie wollte das Geheimnis kennen, Katzen rufen zu können.
Nach ungefähr fünf Minuten standen sie vor einem Haus, das man durchaus als düster bezeichnen konnte. Der Mann blickte Brigitte an:
„Nach dir, schöne Maid.“
Er schloss die Tür auf und wartete, bis Brigitte durchgeschritten war.
Sie waren nun in seiner Wohnung. Sie saßen am Küchentisch. Der Mann referierte über die uralte Kunst, das Universum durch Töne zu beherrschen.
„Es ist im Grunde ganz einfach. Beim Urknall bildeten sich Schallwellen, die in alle Richtungen ins Weltall schossen. Diese Schallwellen sind so stark, dass man sie sogar im Vakuum des Weltraums wahrnehmen kann. Der größte Teil dieser Wellen bündelte sich und sammelte sich an einer Stelle im Weltall, die seither das Herz des Universums genannt wird. Dieses Herz pulsiert und stößt dabei mächtige Schallwellen aus. Diese Schallwellen mögen für uns mächtig sein, aber im Vergleich zu denen des Urknalls sind sie nicht mehr als ein Furz im Wind.
Nun kann man durch fleißiges Training dahin gelangen, diese Wellen für sich nutzbar zu machen. Katzen damit zu rufen ist eine leichte Übung für einen Meister in diesem Fach, nicht mehr als ein Zeitvertreib. Ein wahrer Könner im Beherrschen dieser Wellen schafft unvergleichlich viel mehr. Es ist zum Beispiel kein Problem, selbst Hunde anzulocken.“
Brigitte kam sich verarscht vor. Hund, Katze, wo ist da der Unterschied?
„Oh, ich weiß, was dir jetzt durch den Kopf geht“, sagte der alte Mann.
„Aber glaube mir, einen Hund anzulocken erfordert äußerste Konzentration. Man sagt zwar, Hunde hätten ein gutes Gehör, aber dieses ist eben bestimmten Grenzen unterworfen. Sagen wir mal 16 Hertz bis 30000 Hertz, aber das weiß ich nicht so genau. Also, Menschen können von 16 bis 20000. Ich gebe den Hunden mal 10000 mehr, okay?“
„Können Sie das nicht nachschauen?“, fragte Brigitte. „Wenn Sie hier schon so einen auf klug machen, können Sie sich doch auch ein bisschen genauer informieren, oder?“
„Lenke jetzt nicht ab“, sagte der Alte und vollführte eine kleine, unscheinbare Handbewegung, worauf Brigitte sofort stille schwieg.
„Jedenfalls, wenn du willst, kann ich aus dir eine Meisterin im Spiel mit den Schallwellen machen. Du hast Talent, ich habe es gleich erkannt, als du merktest, dass ich auf die Melone klopfte. Das hätte nicht jeder erkannt.“
„Warum wollen Sie mich ausbilden?“, fragte Brigitte.
„Ich könnte jetzt natürlich sagen: ‚Habe ich das nicht eben gesagt?’, aber ich merke schon, dass ich dich damit nicht täuschen kann. Außerdem wäre das nicht mehr witzig, weil es schon in „Das Vogelnest“ erwähnt wird.“
„Echt? Wo denn?“
„Weißt du nicht mehr, als der Anrufer sagt, er heißt Mr. Iös, dann fragt der Typ: ‚Wie heißen Sie?’ und dann wieder Mr. Iös: ‚Äh, habe ich das nicht gerade gesagt?’“
„Ach, ja, stimmt. Aber warum wollen Sie mich denn jetzt ausbilden?“
„Wie gesagt, dich kann man nicht täuschen. Also, der Grund, warum ich dich ausbilden will: Ich möchte ... den Kontakt zur Jugend nicht verlieren.“
Draußen blitzte es bei den letzten sechs Worten des Mannes, und Brigitte zuckte zusammen.
„Und warum ich?“
„Wie alt bist du?“
„Neunzehn.“
„Beweisführung abgeschlossen.“
„Ja, und warum ich?“
Der Mann seufzte.
„Schau mal, du hast doch schon einen großen Part in dieser Geschichte, also versuche nicht, gewollt gewollt witzig zu sein. Und schlachte den Witz aus „Das Vogelnest“ nicht aus.“
„Ja, okay, tut mir Leid. Wird nicht mehr vorkommen.“
„Was wird nicht mehr vorkommen? ... Nur ein Scherz.“
„Und was erwartet mich genau während dieser Ausbildung?“
„Du wirst lernen zu hören.“
„Wie bitte? Ich habe Sie gerade nicht verstanden, könnten Sie etwas lauter reden?“
„Ja, witzige Reaktion, ist ja das erste Mal, dass einer meiner neuen Schüler so etwas antwortet, wenn ich ihn einweise.“
„Tut mir Leid.“ Brigitte senkte den Kopf.
„Verdammt, ich bin auch nur ein Mann, und ein alter dazu. Ich kann dir nicht länger böse sein, wenn du so demütig den Kopf senkst und eine Schnute ziehst.
Also, du wirst lernen zu hören. Damit ist natürlich nicht das normale durchschnittliche Hören gemeint, sondern das Wahre Hören, das vor Urzeiten jeder Mensch beherrschte, aber welches sich im Laufe der Zeit verflüchtigt hat und nur noch wenigen Menschen zugänglich ist.“
„Ich bin bereit, Meister. Unterweist mich, bitte.“
Ab diesem Zeitpunkt wartete ein langes und hartes Training auf Brigitte.
Sieben Wochen lang, sieben Tage die Woche, vierundzwanzig Stunden am Tag saß Brigitte, oder Derivarla, was, wie ihr ihr Meister mitgeteilt hatte, ihr wahrer Name war, mit unerschütterlicher Ausdauer meditierend auf einem Teppich auf dem Boden.
Nach Ablauf der Frist kam der alte Mann, Mor Takjo, ins Zimmer und hielt sich den Bauch vor Lachen:
„Du kannst aufhören, Derivarla. Das ganze war nur ein Scherz, dachtest du wirklich, dass man besser hört, wenn man den ganzen Tag nur rumsitzt und meditiert? Ey, sorry, es war so witzig mit anzusehen, wie du dich angestrengt hast. Hahaha. So lange wie du ist noch keiner meiner Schüler darauf reingefallen. Haha. Ey, des gibt’s net! Wie kann man so dumm sein! Ey, tut mir echt Leid, aber du bist doch echt net mehr ganz frisch!“
Derivarla war schockiert:
„Dann war alles nur Lug und Trug, Meister Takjo?“
Das ließ den alten Mann noch mehr auflachen:
„Hahaha. Takjo? Den Namen habe ich mir auch nun ausgedacht, genauso, wie deinen, Derivarla. Derivarla, so ein bescheuerter Name! Hahaha. Der war gut: ‚Meister Takjo’, hoho, wart mal, muss grad lache hier! Haha. Du tust mir echt so Leid, so ein dummes, gutgläubiges Geschöpf habe ich noch nie gesehen! Haha.“
Als der alte Mann diese Worte aussprach, hörte er schlagartig auf zu lachen, denn ihm wurde klar, wer hier der Dumme war, nämlich er selbst (als ob es noch jemand anderes sein könnte, auf den er jetzt kommen würde). Er hatte die ganzen sieben Wochen lang gewusst, dass Brigitte jedem seiner Worte hundertprozentigen Glauben schenkte, und hatte das nicht zu seinem Vorteil genutzt!? Er hätte alles mit ihr anstellen können, alles. Was war er nur für ein Volltrottel. Wen hätte er sonst für seine heimlichen Praktiken einsetzen können? Stattdessen hatte er gutes Geld an Nutten gezahlt, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, dabei hatte er hier eine willige Schülerin, die alles machte. Er hasste sich dafür.
Brigitte war nicht wie erwartet niedergeschlagen gewesen. Nein, sie lächelte.
„Armer alter Mann. Deine Kunst, Katzen anzulocken, selbst Hunde ... welch Verschwendung des unglaublichen Potentials des Herzens des Universums ... In diesen sieben Wochen, oder neunundvierzig Tagen, oder von mir aus auch, äh, neunundvierzig mal vierundzwanzig Stunden, habe ich gelernt, zu hören. Hättest du deine eigene Lehre ernst genommen, wärest du nun ein echter Meister, aber jetzt wird dir das auf immer verwehrt bleiben. Du wirst niemals das Herzschlagen hören ... diesen immerwiederkehrenden Rhythmus des Herzens.
Du kannst einem Leid tun. Auf Wiedersehen, alter Mann.“
Sie ging zur Wohnungstüre. Als sie davor stand, drehte sie sich zu dem vollkommen verblüfften Mann um:
„Ach, ja, noch etwas: Ich habe gelogen. Ich bin einundzwanzig.“