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Die Löwin
Das weite Land unter ihm ist still wie noch nie.
Er betrachtet ein paar Geier, die auf einem alten, ausgedorrten Baum hocken und geduldig auf Futter warten. Ihre krummen Schnäbel und das ausgefranzte Gefieder jagen ihm einen Schauer über den Rücken. Sie hocken wie erstarrt auf den dicken Ästen, sie warten. Darauf, dass ein nächstes Tier der Trockenzeit zum Opfer fällt. Er dreht sich auf den Rücken und wird von der erbarmungslosen Sonne geblendet, sodass er seine Augen schließt. Vor ihm erscheinen Bilder von Windböen, grünen Wiesen und vom Himmel kommenden Wasserfällen. So müsste es jetzt sein, wie es alle Jahre lang gewesen ist. Aber es ist nicht so; was längst hätte kommen müssen, bleibt aus.
Er erhebt sich und trottet langsam zur Wasserstelle. Sie wird kleiner, das hat er seit Tagen beobachtet. Und es macht ihm Angst, auch wenn er es nie zeigen würde.
Er betrachtet sein Spiegelbild im klaren Wasser. Es geht ihm schlecht. Doch nicht nur aufgrund seines Durstes.
Einer seiner Söhne ist am Vortag umgekommen. Das Kleine war zu schwach. Als er an die Stelle geht, an dem der tote Körper gelegen hat, sieht er nur noch ein blutverkrustetes Stück Fleisch, verdreckt, das Fell aufgerissen, Knochen stehen hervor.
Es tut mir Leid, Rhena.
Die Fliegen surren um die Ohren des Jungtieres und schwirren bereits um seinen eigenen Kopf. Verärgert schüttelt er die Mähne aus, um sie zu verscheuchen. Dann verschwindet er mit großen Sätzen - jagt durch das hohe Gras der Savanne, bis er nicht mehr zu sehen ist.
Die Bäume ziehen an ihr vorbei wie in einem Film. Filme. Was waren das noch mal ?
Erinnere Dich.
Und sie erinnert sich, sie sieht alles vor sich.
Ihre Beine laufen schneller, auch wenn sie keine Kraft mehr hat. Ihre Sehnsucht treibt sie weiter, fünf Jahre waren eine lange Zeit, fünf Jahre lang hat sie ihr Dasein gefristet. Wie wird sie aussehen? Was werden alle sagen, wenn sie wieder da sein wird, wie aus dem nichts?
Die Fragen schießen ihr durch den Kopf und verhallen, ohne dass sie eine Antwort findet. Die Antwort ist nahe, das weiß sie. Und sie spürt es. Sie spürt die Magie, die sie umgibt. Fast wie am ersten Tag, nur dass ihre Angst nun zu Freude geworden ist.
Schließlich, als die Sonne schon sehr tief gesunken ist und die letzten Strahlen ihr goldenes Fell glänzen lassen, verlangsamen sich ihre Schritte. Erschöpft bleibt neben einigen kleinen Bäumen stehen. Hier fühlt sie sich geschützt. Kraftlos lässt sie sich auf den Boden fallen, der noch warm ist vom Tag. Ihr Blick ruht auf dem Horizont. Er ist glutrot und wunderschön.
Der Mond schimmert bereits am Himmel, und alle bereiten sich auf den Einbruch der Nacht vor. Er hat nichts, worauf er sich noch vorbereiten kann. Er wird allein sein.
Warum? Warum bist du einfach gegangen?
Bevor er sich auf die alte, rissige Steinplatte legt, geht er hinüber zu seinen Kindern.
Fröhlich springen die drei jungen Löwen um ihn herum, knurren spielerisch und beißen ihm spielerisch ins Fell. Er lächelt sanft, doch dann dreht er sich um und geht. In seinem Lächeln liegt ein tiefer Schmerz.
Sie rührt sich nicht.
Ich muss es tun.
Sie starrt den Mond an. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass sie es allein tut.
Vergebt mir.
Bitte.
Am nächsten Tag ist es später Nachmittag, als sie ihr Ziel erreicht. Sie steht an einem steilen Abhang und sieht es. Ihr Dorf. Ihre Heimat. Als sie es erblickt, ist es, als würde eine große Last einfach von ihr abfallen.
Es ist weit weg, aber es ist so still um sie herum, dass sie das Lachen der spielenden Kinder hören kann. Es ist eine andere Welt, in die sie da blickt. Ein Dorf, ein Wald, eine schmale Zufahrtsstraße. In der Ferne noch einige Häuser. Noch ist sie getrennt von dieser Welt, durch einen Körper, der ihr nicht gehört. Aber sie wird ihn ablegen und mit ihm alle Vergangenheit. Um wieder zu leben.
Er liegt da. Tut nichts. Neben ihm seine Schwester, die jedoch reichlich Distanz von ihm hält. Und dafür ist er ihr dankbar.
Er schaut die Kleinen an.
Wie kannst du deine Babys zurücklassen?
Es ist in Ordnung, wenn du mir wehtust, aber warum ihnen?
Als eine seiner Töchter zu ihm kommt und ein kleines, beinahe liebvolles Fauchen von sich gibt, steht er auf, dreht sich um und geht zu den anderen Tieren.
Die Kleine läuft ihm verwirrt hinterher, aber er beachtet sie nicht.
Er muss allein sein.
Es dämmert bereits, als sie beginnt, von oben herab den Abhang zu prüfen und die sichersten Stellen für ihren Weg ins Tal zu suchen. Sie muss den richtigen Moment abwarten, wenn sie zu früh entdeckt wird, ist ihr Schicksal besiegelt. Sie haben Waffen, und sie verwenden sie. Sie hat schon mal erlebt, wie ein Löwe erschossen wurde, weil er sich dem Dorf näherte.
Ihre Mutter.
Wo war Mama immer um diese Zeit?
Sie weiß es nicht. Das Kindergeschrei hat sich gelegt, mit der Dämmerung kehrt Ruhe ins Dorf ein. Leise und geduckt schleicht sie den Abhang hinunter, sucht Schutz hinter Felsen und im teils hüfthohen Gras. Damals ist es fast so groß gewesen wie sie selber, doch sie ist auch immer recht schmächtig gewesen. Zwölf ist sie gewesen. Zwölf Jahre alt, als man sie von den Eltern trennte.
Ihre Mutter muss sie sehen, sonst war alles umsonst. Sie muss sie ansehen, damit es passieren kann. Ihr Herz klopft, als sie das Haus ihrer Eltern erkennt und den alten Esel davor. Er bemerkt sie nicht. Sie schleicht einmal ums Haus, langsam, immer darauf bedacht, keinen falschen Schritt zu machen. Sie ist dankbar für das Gebüsch, dass um jedes der Häuser im Dorf wuchert. Ohne es wäre sie längst entdeckt worden. Ein Blick durchs Fenster.
Papa. Papa, ich bin hier!
Sie wäre gern ins Haus gelaufen, aber sie darf nicht. Muss warten. Wo ist ihre Mutter?
Sie hört Stimmen und bleibt stehen, reglos und ohne zu atmen. Eine alte Frau mit einem kleinen Jungen geht vorbei, ohne das Tier zu bemerken, das da keine fünf Meter von ihnen entfernt ist.
Sie wirft einen Blick durch das nächste Fenster. Es ist ihr Zimmer gewesen, und ihre Eltern haben es nicht verändert. So, als würden sie noch immer auf die Rückkehr ihrer einzigen Tochter warten. Beim Anblick ihres Zimmers, den Fotos und selbst gemalten Bildern an der Wand und dem schmalen, dunklen Bett kommen plötzlich sämtliche Erinnerungen in ihr hoch. Wie in Trance starrt sie durch die schmutzige Glasscheibe, doch der Ruf eines Vogels reißt sie aus ihren Gedanken. Eilig schleicht sie zum nächsten Fenster. Es ist die Küche, die sie nun sieht. Und mittendrin ihre Mutter, sie sitzt am Tisch, den Kopf hält sie in den Händen vergraben. Das Herz der Löwin schlägt noch schneller. Sie ist nun so nahe am Ziel wie noch nie.
Es ist soweit.
Sie schleicht zurück zur Tür, prüft, ob auch niemand auf der Straße ist, atmet einmal tief durch.
Nicht mehr warten, sonst ist es zu spät.
Sie wirft sich gegen die Tür. Einmal. Zweimal. Nun geht sie zur Seite und presst sich an die Hauswand, um nicht gesehen zu werden. Sie hört das Knarren der Tür. Ein Mann kommt heraus.
Sie setzt zum Sprung an, drückt sich vom Boden weg und stürzt sich auf ihn. Es dauert keine Sekunde, bis der Mann schreiend und um sich schlagend am Boden liegt. Während fünf Jahre in Gestalt einer Raubkatze hat sie alles gelernt, was man zum Jagen und überleben braucht.
Doch sie beachtet ihn kaum, stürzt nur hastig an ihm vorbei in die Wohnung, ihre Mutter kommt ihr aufgeregt aus der Küche gerannt. Als sie das riesige Raubtier sieht, beginnt auch sie, panisch zu schreien und läuft zurück in die Küche, wo sie mit einem Knall die Tür hinter sich zuschlägt.
Mama, ich bin Rhena!
Die Löwin spürt einen Schlag auf den Rücken und fährt herum. Ihr Vater. Sie weicht knurrend zurück; er hält eine Mistkabel in der Hand, mit der er ihr auf den Rücken geschlagen hat und nun blind auf sie einsticht.
Hör auf, Papa, hör auf!
Bitte! Ich bin doch deine Tochter!
Es dauert lange. Doch sie schafft es, ihn nochmals zu Boden zu reißen und rennt zur Küchentür. Wirft sich dagegen, einmal, zweimal, dreimal. Ihre Schulter schmerzt, der Vater hat sich aufgerappelt und stürzt auf sie zu. Da springt die Tür auf, sie stürmt in die Küche. Noch ein Schlag von hinten, diesmal so stark, dass sie taumelt und zu Boden sinkt. Da sieht sie ihn über sich. Die Mistkabel. Er holt aus, sticht zu. Sie schaut ihre Mutter an, die wimmernd in der Ecke hockt, ein Baby im Arm. Dann schließt sie die Augen.
Sie wird nicht zurückkommen.
Es passiert nichts. Gar nichts. Sie öffnet die Augen. Ihr Vater steht vor ihr, die Mistgabel liegt am Boden. Er starrt sie an wie einen Geist. Ihre Mutter ebenso.
„Rhena.“, flüstert der Vater ehrfürchtig, dann schreit er ihren Namen so laut, dass ihn das ganze Dorf hören muss, „Rhena!“
Sie rappelt sich hoch und stürzt ihm in die Arme, er drückt sie so fest an sich, dass sie kaum noch Luft bekommt. Tränen rinnen ihr über die dunklen Wangen, ihr Körper bebt.
Sie ist daheim!
Als sie aufsieht, blickt sie ihre Mutter an.
„Mein Kind.“, ruft sie tonlos und wirft sich in ihre Arme. In die Arme ihrer siebzehnjährigen Tochter. „Du lebst, mein Kind, du lebst!“
„Ja, Mama. Ich lebe.“, flüstert Rhena schluchzend und hält ihre Mutter nur noch fest.
Er liegt da. Die Sonne ist wieder da, brennt auf ihn hinab, als wolle sie ihn endgültig in die Knie zwingen. Er ist erschöpft, hat nicht einmal Kraft, mit dem wandernden Schatten den Ort zu wechseln.
Wie lange soll das so weiter gehen?
Es ist eine Woche vergangen. Rhena steht in ihrem Zimmer am Spiegel. Ihr langes, schwarzes Haar glänzt im Licht, das durch das kleine Fenster fällt. Ihre dunkle Haut und die schwarzen Augen sind wunderhübsch. Das ist sie also. Das ist es, was sie immer gewollt hat.
Ich werde gehen.
Mit einem Seitenblick auf die Kleinen trottet er an seinem Rudel vorbei, als habe er sie nie gekannt. Seine Schwester läuft ihm nach, sieht ihm bittend in die Augen. Doch er dreht sich um und geht weiter. Langsam, es gibt keinen Grund zur Eile. Kein Ziel, dass er noch erreichen will.
Seine Schwester hält ihn nicht zurück. Er dreht sich nicht nochmal um, nicht nach ihr, nicht nach den Kindern, die ihn nicht bemerken. Vielleicht kommt er zurück, wenn er einen Grund dafür gefunden hat.
In der Küche schreit ihr Bruder und sie hört die Stimme des Vaters, der beruhigend auf das Baby einredet. Und ihr ist klar, dass sie ihr Vater ihr fremd geworden ist. Auch wenn sie ihn noch immer liebt.
Tag und Nacht. Er bemerkt es kaum noch, wie sie vorbeiziehen. Er verspürt nichts, keinen Hunger, keinen Durst. Er geht im Kreis, doch das macht ihm nichts aus.
„Es tut mir so Leid!“ Sie hat Tränen in den Augen, als sie das sagt. Aber es ist ihre Entscheidung, ihre allein. Und keiner hält sie zurück.
Er steht an der Stelle, an der er sie das letzte Mal gesehen hat. Es ist Mitternacht, über ihm kreist ein großer, dunkler Vogel.
Ein kleiner Schatten in der Ferne.
Er sieht genauer hin.
Er hat nie an Geister geglaubt, nie.
Rhena.