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Die Lady im Wald
Die Lady im Wald
Drückend lag die Schwüle über dem Land und ließ Mensch und Tier kaum Luft holen.
Langsam wurde es dunkel, und am Himmel zogen sich gewaltige Gewitterwolken zusammen. Lange würde es nicht mehr dauern, und die Natur würde ihren Kräften freien Lauf lassen.
Seit Tagen war es schon so schwül und die Menschen warteten auf den erlösenden Regen, der die wohltuende Kühlung bringen würde.
Aber noch schwieg der Himmel und alles war still. Nur eine Kutsche bahnte sich einsam ihren Weg an weiten grünen Wiesen und sanften Hügeln vorbei, die jetzt, durch die nahende Dunkelheit, in ein tiefes Blau getaucht wurden.
Die Nacht war dabei ihren weiten Mantel über das Land zu legen, um darunter alles zu verbergen.
Wie zwei Irrlichter schaukelten die beiden Petroleumlampen an der Kutsche durch die Finsternis.
Dann fielen die ersten Regentropfen. Große, runde Tropfen die auch auf den Weg fielen, wo sie vom ausgetrockneten Boden gierig aufgesaugt wurden. Wind kam auf, der leicht über die Wiesen strich und das Gras sanft hin und her wog. Dann setzte der Regen richtig ein und es goß, was der Himmel hergab.
Edward Ryan steckte seinen Kopf aus dem Fenster der Kutsche und ließ den Regen gegen sein Gesicht prasseln. Tief holte er Luft und genoß die Kühle, die der Regen mit sich brachte. Dann setzte er sich wieder zurück und trocknete sein Gesicht mit einem Taschentuch.
Auch durch das Fenster wehte jetzt eine leichte Brise und sorgte so allmählich für eine angenehme Temperatur. Still saß der 26jährige da und lauschte dem Regen, der stetig auf das Dach der Kutsche trommelte.
Edward Ryan war ein großer, schlanker Mann mit dunkelbraunem Haar. Er hatte der Großstadt London den Rücken gekehrt, um für eine Woche seinen Onkel und seine Tante zu besuchen.
Vor ein paar Tagen erhielt er von seinem Onkel einen Brief, in dem dieser Edward bat, zu kommen, weil er erkrankt war und seine Geschäfte im Moment nicht selbst erledigen könne. Edward erklärte sich sofort bereit zu kommen, um für seinen Onkel das Wichtigste zu regeln.
Seit seinem zehnten Lebensjahr war Edward bei seinem Onkel und seiner Tante aufgewachsen. Damals verunglückten seine Eltern bei einem Schiffsunglück vor der Küste Englands. Sein Onkel und seine Tante, die selbst nie Kinder bekamen nahmen ihn auf und erzogen ihn mit all ihrer Liebe, wie einen eigenen Sohn.
Edward hatte sie nunmehr seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen und konnte es gar nicht erwarten, sie wieder in die Arme zu nehmen. Er liebte sie, wie seine eigenen Eltern. Viel hatte er ihnen zu verdanken, und sie waren alles, was er noch besaß.
Nach einer Weile fiel Edward sein Kutscher ein, der draußen auf dem Kutschbock saß und bestimmt schon naß bis auf die Knochen sein musste. Erneut lehnte sich Edward aus dem Fenster.
„Ist es noch weit, Sam?“ rief er dem Kutscher entgegen.
„Noch ein ganzes Stück, Sir!“ antwortete der Mann, an dessen breiter Hutkrempe das Wasser wie ein kleiner Wasserfall hinabfloß.
„Nun. Ich denke nur, daß es im Moment da draußen nicht sehr angenehm sein muß!“ sagte Edward, und wischte sich mit der linken Hand den Regen aus den Augen. Der Regen peitschte jetzt auch, vom Wind getrieben, von der Seite her gegen den Zweispänner und verschonte auch den Innenraum nicht. Immer wieder fanden Regentropfen den Weg auch durch das Fenster und Edward spürte, wie seine Hose an den Schenkeln langsam feucht wurde.
„Keine Sorge, Sir! Ein paar Meilen vor uns liegt ein kleiner Ort. Dort können wir Rast machen und das Wetter abwarten!“
„Na gut! Ich möchte nur nicht, daß sie sich da draußen den Tod holen!“
Plötzlich durchzuckte ein greller Blitz den schwarzen Nachthimmel, als wolle er ihn in zwei Hälften schneiden. Für kurze Zeit wurde die Landschaft in ein fahles Licht getaucht, und Bäume und Sträucher wurden aus dem Schutz der Dunkelheit gerissen.
Edward verengte geblendet die Augen und zog seinen Kopf vom Fenster zurück. Dann donnerte es. Erst leise, dann immer mehr anschwellend und schließlich in einem lauten Knall endend.
Edward kannte diese Sommergewitter auf dem englischen Land. Oft hatte er als Kind am Fenster seines Zimmers gesessen und zugesehen, wie sich die Urgewalten der Natur entluden. Auch heute noch mochte er dieses Wetter.
Wieder ein Blitz, wieder ein gewaltiger Donnerschlag. Sam hatte die Pferde gut im Griff. Brav zogen die beiden Stuten den Wagen über den Weg, der sich längst in eine lehmige Schlammbahn verwandelt hatte. Tief drückten die Räder ihre Spuren hinein. Rechts neben dem Weg begann der Wald. Die Laub- kronen der hohen Bäume rauschten im Takt des Windes.
Müdigkeit überfiel plötzlich den Reisenden und Edward begann sogar etwas zu frieren. Er nahm seinen Mantel, der neben ihm auf der Bank lag, und legte ihn sich um. Notfalls hatte er auch eine Decke dabei, die sich in einem Kasten unter seinem Sitz befand. Aber vorerst begnügte er sich mit seinem Mantel. Um sich etwas von der Müdigkeit abzulenken, zündete sich Edward eine Zigarette an. Tief sog er den blauen Dunst in seine Lungen, und blies ihn durch die Nase wieder aus.
Das Gewitter zog langsam weiter und war nun nicht mehr so stark. Nur aus der Ferne war noch schwaches donnern zu hören.
Auch die Blitze hatten nachgelassen und durchzuckten nicht mehr so häufig den Himmel. Nur der Regen fiel immer noch stetig und gab der Natur, was sie brauchte.
Edward Ryan schnippte den Rest seiner Zigarette aus dem Fenster, als er plötzlich ein Geräusch hörte, das bei ihm eine Gänsehaut erzeugte. War das nicht ein Schrei gewesen?
Edward war wieder hellwach. Nichts war mehr von der Müdigkeit zu spüren. Sofort blickte er aus dem Fenster und versuchte, die Dunkelheit mit seinen Augen zu durchbrechen. Angespannt suchte er mit seinen Blicken den Waldrand ab, von wo er den Schrei vernommen hatte.
Aber war das wirklich ein Schrei gewesen? Er dachte an ein Tier, das vielleicht in irgend eine Schlinge eines Jägers geraten war. Aber je mehr er über das Gehörte nachdachte, desto mehr war er überzeugt, den Schrei eines Menschen gehört zu haben.
Nur sehen konnte er in der Dunkelheit nichts. Zwischen den Bäumen war keine Bewegung auszumachen.
„Sam! Halten sie an!“ rief er nach draußen.
Der Kutscher gehorchte, und brachte die Pferde sofort zum Stehen.
„Ist etwas geschehen? Ist mit ihnen alles in Ordnung?“ wollte Sam wissen, und sprang vom Kutschbock. Vor der Tür blieb er stehen und blickte zu seinem Herrn durch das Fenster. Edward konnte das Gesicht des kräftigen Mannes nicht genau erkennen, da der Schein der Petroleumlampen, neben dem Kutschbock, nicht so weit reichte.
„Haben sie den Schrei nicht gehört?“ fragte Edward verwundert. „Sie müssen ihn doch gehört haben. Er war doch laut genug. Haben sie ihn etwa nicht gehört?“
„Welchen Schrei?“ fragte Sam, und strich sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen Oberlippenbart.
„Ja, ich weiß nicht genau... Es hörte sich an, als habe eine Frau geschrien. Von dort, aus dem Wald.“ Edward zeigte in die Richtung.
Der Kutscher drehte sich um und schaute zum Wald hinüber.
„Aus dem Wald?“ sagte er dann. „Ich kann niemanden sehen. Wer soll sich auch bei diesem Wetter, mitten in der Nacht, im Wald aufhalten? Und dann noch eine Frau. Vielleicht war es ein Tier. Ein Hund, oder so.“
„Daran habe ich auch schon gedacht, aber ich bin mir nicht sicher.“
„Wir sollten weiterfahren. Der Weg ist noch weit, und das Wetter wird auch nicht besser.“ drängte der Kutscher.
„Und wenn wirklich ein Mensch in Not ist? Ich könnte mir das nie verzeihen....“ Bevor Edward noch etwas sagen konnte erklang das Geräusch erneut, und diesmal hörte es auch Sam. Ein lauter, langgezogener Schrei einer Frau. Die Männer schauten sofort zum Waldrand. Dann sahen sie die Bewegung zwischen zwei Bäumen. Ein heller, huschender Schatten, der schnell wieder verschwand.
Wieder verdeckten die Bäume die Sicht auf die Gestalt.
„Mein Gott! Was war das?“ presste der Kutscher hervor.
„Keine Ahnung.“ gab Edward zurück, bei dem sich die Nackenhaare aufgestellt hatten.
„Wir sollten sehen, daß wir weiterkommen. Mir ist nicht geheuer bei der Sache.“ forderte Sam ängstlich.
„Nein! Ich werde nachsehen, was da ist.“
„Sie wollen wirklich in den Wald?“ Sam konnte nicht fassen, was er da gehört hatte.
„Ja, ich werde gehen. Vielleicht benötigt jemand unsere Hilfe.“
Edward Ryan nahm seinen Stock mit dem silbernen, runden Knauf, öffnete die Tür und trat in den Regen hinaus. In kürzester Zeit waren seine Haare durchnäßt, und das Wasser lief ihm am Gesicht hinab. Er stellte den Kragen seines Mantels hoch, damit ihm der Regen nicht auch noch ins Genick lief.
„Geben sie mir eine Lampe.“ forderte er seinen Kutscher auf.
Der Mann brachte ihm die Leuchte, deren Schein die Männer in ein unheimliches Licht tauchte. Jetzt, im Licht der Lampe, erkannte Edward die Angst im Gesicht seines Kutschers.
„Überlegen sie es sich noch einmal. Das war bestimmt nur ein verwundetes Tier.“ Noch einmal versuchte Sam seinen Herrn umzustimmen.
„Nein, das war kein Tier. Sie haben es doch selbst gehört. Da hat eine Frau geschrien.“
„Und wenn wir uns irren?“ fragte der Kutscher. „Der Regen, das Gewitter.... Da hört sich vieles an, wie es gar nicht ist. Bitte, bleiben sie hier.“
„Nein. Ich muß wissen, was es war.“
Edward Ryan beobachtete wieder den Waldrand. Nichts war zu sehen. Die Dunkelheit verschluckte alles, und nur schemenhaft nahm er die Umgebung wahr.
„Bleiben sie bei der Kutsche. Wenn etwas ist, rufe ich.“
Dann setzte Edward sich in Bewegung. In der rechten Hand hielt er seinen Stock, während er mit der Leuchte in der Linken, die er jetzt leicht erhoben hielt, versuchte etwas zu erkennen.
Aber der Schein der Lampe reichte nicht sehr weit, und der starke Regen nahm ihm zusätzlich die Sicht. Noch einmal blickte er zurück und sah Sam, der neben der Kutsche stand und ihm nachsah.
Am Wagen brannte noch die zweite Lampe und schaffte es nur mühsam, die Umrisse der Kutsche aus der Finsternis hervorzuheben. Langsam setzte Edward seinen Weg fort. Schritt für Schritt näherte er sich dem Wald. Der Boden war aufgeweicht und rutschig. Tief drückten sich seine Schuhe in den Matsch.
Vor ihm ragten die hohen Bäume auf, und er konnte sie jetzt besser erkennen. Ein kleiner Graben, fast nicht zu sehen, da er mit Gras beinahe zugewachsen war, ließ ihn stoppen. Edward suchte festen Stand, um ihn dann , mit einem großen Schritt, zu übergehen. Fast wäre er noch ausgerutscht, konnte sich aber gerade noch abfangen und behielt das Gleichgewicht. Unter seinen Füßen spürte er nun das nasse Gras. Auch auf ihm musste er vorsichtig gehen, um nicht auszurutschen. Dann hatte er die Baumgrenze erreicht.
Hier wuchsen die Bäume noch nicht so dicht, und Edward blieb stehen. Er hob die Leuchte noch mehr an, um ihren Schein weiter in den Wald hinein zu werfen.
Leichter Nebel trieb aus dem Waldboden, der sich aber gleich wieder verflüchtigte. Von der unheimlichen Gestalt war nichts zu sehen. Edward fühlte, wie sich ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete, und ein leichter Klos steckte in seinem Hals.
Edward Ryan hatte sich nie zu den Mutigsten gezählt, aber feige war er auch nicht. Vielleicht lag es an seiner strengen, englischen Erziehung, daß er immer wusste, was er zu tun hatte. Edward setzte seinen Weg fort und ging tiefer in den Wald hinein. Hier erreichten nur wenige Regentropfen den Boden. Die breiten Kronen der Bäume hielten das Meiste ab. Nur schwach war das Prasseln des Regens hier noch zu hören. Edward drehte sich noch einmal in die Richtung, aus der er gekommen war. Er wollte auf gar keinen Fall die Orientierung verlieren. So suchte er nach Anhaltspunkten, die er sich für seinen späteren Rückweg merken konnte.
Von Sam, und der Kutsche, war nichts mehr zu sehen. Zu tief befand er sich schon im Wald, um sie in der Dunkelheit, und hinter den Bäumen, erkennen zu können.
Edward ging weiter. Immer noch die Petroleumlampe erhoben, schritt er immer tiefer in den Wald hinein. Plötzlich standen auch hier die Bäume nicht mehr ganz so dicht. Er hatte eine Stelle erreicht, die etwas lichter war.
Der Regen nahm wieder etwas zu, aber dennoch nicht so stark, wie zuvor. Vielleicht würde es bald ganz aufhören zu regnen.
Langsam verließ den Mann der Mut, und die Lust, noch weiter zu suchen. Konnte es nicht doch sein, daß er sich geirrt hatte? Doch Sam hatte die Gestalt ebenfalls gesehen. Konnten zwei Männer, die das Selbe sahen, sich so getäuscht haben?
Nein, daran wollte er nicht glauben. Trotzdem fasste er den Entschluß umzukehren, als er plötzlich ein leises Wimmern vernahm.
Still und starr stand er da und lauschte in die Dunkelheit.
Die Gänsehaut machte sich wieder bemerkbar, und Edward traute sich kaum zu atmen.
Wieder hörte er dieses leise Wimmern und Schluchzen, als würde jemand weinen. Die Geräusche waren vor ihm erklungen, wo sich die kleine Lichtung befand. Nur sehen konnte er die weinende Person nicht, da ihm einige Bäume die Sicht versperrten.
Er musste schon weitergehen, wenn er etwas sehen wollte. Der Regen hatte inzwischen ganz aufgehört, und die Wolkendecke riß etwas auf, so das der Vollmond sein Licht etwas auf der Lichtung ausbreiten konnte.
Edward hatte nun eine Stelle erreicht, von wo aus er sie besser einsehen konnte. Trotz des Mondlichtes war alles aber nur schemenhaft zu erkennen. Wieder vernahm er dieses Weinen.
Edward begann zu frieren. Er wusste nicht, ob es an seiner nassen Kleidung lag, oder an der Anspannung, unter der er stand. So leise wie möglich ging er noch einige Schritte nach vorne. Nun verdeckten ihm keine Bäume mehr die Sicht, und er konnte die Lichtung voll einsehen.
Was er dann sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Ein Stück vor ihm saß, auf einem Baumstumpf, eine Frau, die ihm den Rücken zugewandt hatte.
Sie war hell gekleidet und Edward erkannte in ihr die Gestalt, die er und Sam gesehen hatten. An der Frau alleine war eigentlich nichts unheimliches. Nein, es war die Szene an sich, die ihn erschauern ließ.
Da passte alles zusammen. Die morbide Umgebung, das fahle Mondlicht und dann diese Frau, allein im Wald. Die Frau hatte Edward noch nicht bemerkt. Sie saß nur da und weinte leise vor sich hin.
Edward wagte nicht zu rufen, da er sie auf keinen Fall erschrecken wollte. Er fragte sich, was diese Frau um diese Zeit im Wald machte. Langsam ging er auf sie zu. Noch immer bemerkte sie ihn nicht. Sie saß nur da, ihr Gesicht hinter ihren Händen verborgen, und weinte.
Nun stand er direkt hinter ihr. Er hätte nur seine Hand ausstrecken zu brauchen, um sie zu berühren. Edward verzichtete darauf. Dafür sprach er sie leise an:
„Kann ich ihnen helfen? Was ist mit ihnen?“
Die Frau schreckte plötzlich hoch, drehte sich um und ging zwei Schritte zurück. Auch Edward erschrak, von dieser Reaktion überrascht.
Er schätzte die Frau auf höchstens zwanzig Jahre. Sie hatte dunkles, vielleicht schwarzes, Haar. So genau konnte er es bei diesen Lichtverhältnissen nicht bestimmen. Was ihm auffiel war ihre Haut. Sie war hell, fast schon bleich. Wie feines Porzellan kam sie ihm vor. Das Haar fiel schulterlang und umrahmte ihr feines, hübsches Gesicht, aus dem sie Edward mit ängstlichen Augen ansah. Sie trug ein weißes, dünnes Kleid und weiße Schuhe. Um ihre Schultern hatte sie eine Stola aus weißer Spitze gelegt. Das nahm Edward aber nur nebenbei wahr. Er hatte nur Augen für ihr Gesicht, das sehr hübsch, aber auch seltsam war. Er hatte den Eindruck, eine Puppe vor sich zu haben.
„Bitte, tun sie mir nichts.“ drang es ängstlich aus ihrem Mund.
„Nein, nein. Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich werde ihnen nichts tun. Ich möchte ihnen nur helfen.“ versicherte ihr Edward.
„Was machen sie denn hier?“ wollte er dann wissen.
„Ich? Wieso....? Ich habe keine Ahnung, wie ich hier her komme. Ich möchte nach hause.“
„Was heißt das? Wissen sie denn nicht mehr, wie sie in den Wald gekommen sind?“
„Nein, aber ich finde den Weg nicht mehr nach hause. Ich möchte zu meiner Familie zurück.“
Edward Ryan kam das alles sehr seltsam vor. Aber wahrscheinlich stand die junge Frau unter einem Schock.
„Kommen sie. Vor dem Wald wartet meine Kutsche. Ich werde sie nach hause bringen.“
„Das würden sie für mich tun?“
Edward verstand diese Frage nicht.
„Aber natürlich bringe ich sie nach hause. Ich kann sie doch nicht hier im Wald alleine lassen.“
„Ich bin froh, daß sie gekommen sind. Ich hatte furchtbare Angst.“
„Jetzt wird ja alles gut. Kommen sie, geben sie mir ihre Hand. Ich werde sie führen.“ bat er die junge Frau. Während die Frau um den Baumstumpf herumkam, klemmte sich Edward seinen Stock unter den linken Arm, damit er eine Hand frei hatte. Die Frau erreichte den Mann und hakte sich bei ihm unter.
„Mein Gott! Sie sind ja eiskalt.“ bemerkte er. „Wir beeilen uns. In der Kutsche habe ich eine warme Decke.“
„Sie sind sehr freundlich. Man findet so etwas nur noch selten, in der heutigen Zeit.“ erwiderte die junge Frau.
„Ach was. Jeder Mann würde genau das Selbe tun.“
Edward Ryan fühlte sich trotz allem nicht wohl in seiner Haut.
Irgendwie kam er mit den Ereignissen dieser Nacht nicht zurecht. Obwohl sich nun alles aufzuklären schien, spürte er ein gewisses Unbehagen. Und die junge Frau, an seiner Seite, trug nicht unerheblich dazu bei. Zu viel an ihr war rätselhaft. Wie war sie in den Wald gekommen? Was hatte sie überhaupt, mitten in der Nacht, zu suchen, und warum konnte sie sich an nichts mehr erinnern? All diese Fragen gingen Edward durch den Kopf.
Ab und zu sah er die Frau an, die neben ihm ging. Immer wieder blieben seine Blicke am Gesicht der Geheimnisvollen kleben. Sie sah ihn nicht an. Ihren Blick nach vorn gerichtet schritt sie, untergehakt, neben Edward her. So viele Fragen brannten in ihm. Aber erst wollte er mit seinem Schützling die Kutsche erreichen. Vielleicht konnte er dann einige ihrer Geheimnisse lüften.
Edward wunderte sich, sein Ziel schon zu sehen. Nicht mehr weit vor ihm konnte er das Licht der Kutsche erkennen.
„Da, sehen sie. Gleich haben wir es geschafft.“ machte er der jungen Frau Mut.
Sie antwortete nicht. Nur ein sanftes Lächeln huschte über ihre bleichen Lippen. Noch immer hielt sie sich bei Edward fest.
Er spürte die Kälte, die von ihr ausging. Obwohl die Frau stark fror, spürte Edward nicht, daß sie zitterte. Wahrscheinlich nahm ihr der Schock, unter dem sie noch immer litt, sämtliches Gefühl.
Sie spürte wahrscheinlich nicht einmal die Kälte. Edward war froh, den Wald endlich zu verlassen. Sofort kam Sam auf seinen Herrn zu, als er ihn sah.
„Mein Gott, Sir! Sie haben tatsächlich jemanden gefunden!“ staunte der Kutscher.
„Schnell, bringen sie mir die Decke aus dem Wagen!“ rief Edward seinem Kutscher entgegen. Dann half er der Lady über den kleinen Graben, wo Sam sie schon mit der Decke erwartete.
Edward gab ihm die Lampe und seinen Stock. Dann legte er der Frau die Decke um. Sie sah ihn nur an und lächelte.
„Wer ist das , Sir?“ wollte Sam wissen.
„Ich weiß es nicht, Sam. Ich fand sie völlig hilflos im Wald. Wahrscheinlich steht sie unter Schock. Ich weiß nicht, was sie erlebt hat, aber es muß schrecklich gewesen sein.“ erklärte Edward auf dem Weg zur Kutsche. Sam öffnete die Tür und Edward half der Lady beim Einsteigen.
Er ließ sich wieder seinen Stock geben und stieg ebenfalls ein.
„Hier, Sir. Das werden sie jetzt sicherlich brauchen.“ sagte der Kutscher und reichte Edward einen kleinen, silbernen Flachmann.
„Vielen Dank, Sam. Bitte fahren sie so schnell wie möglich weiter.“
Der Kutscher nickte, schloß die Tür und bestieg den Kutschbock. Wenige Sekunden später fuhr die Kutsche an.
„Ich möchte mich noch einmal bei ihnen bedanken, Sir.“ sagte die junge Frau, die Edward, entgegen der Fahrtrichtung, gegenüber saß.
„O, wie unhöflich“, bemerkte Edward. „Ich habe mich ihnen noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Edward Ryan. Ich komme aus London. Verraten sie mir auch ihren Namen?“
„Ich heiße Mary Blanks. Darf ich sie Edward nennen?“
„Aber natürlich. Dann nenne ich sie auch Mary. Einverstanden?“ gab Edward zurück.
Mary nickte und lächelte. Edward kam es so vor, als wäre ein wenig der Anspannung aus ihrem Gesicht gewichen.
„Nun. Können sie sich wirklich an nichts mehr erinnern, Mary?“ wollte er dann wissen.
„Nein, Edward. Ich weiß gar nichts mehr. Nur, daß ich nach hause will. Es war so schrecklich in diesem Wald. So ganz allein.... Können sie mir das glauben?“
„Natürlich glaube ich ihnen das. Aber irgend etwas muß doch geschehen sein.“
„Ja, aber ich kann es ihnen nicht sagen, weil ich mich an nichts mehr erinnern kann.“ beteuerte Mary erneut.
Edward schraubte den Deckel des Flachmanns ab und goß ihn mit der Flüssigkeit daraus voll.
„Darf ich ihnen etwas davon anbieten?“ fragte er seinen Gast.
„Nein, danke. Ich trinke nichts.“
„Gut, aber es hilft gegen die Kälte.“
„Es geht schon wieder. Ich friere nicht mehr.“
Edward akzeptierte es und nahm einen Schluck. Er hatte keine Ahnung, was er da trank, aber es brannte.
Es dauerte nicht lange und eine wohlige Wärme breitete sich in seinem Magen aus. Plötzlich rutschte Mary zum Fenster und sah hinaus.
„Das ist der Weg. Bald kommen wir in mein Dorf. Das ist mein Weg nach hause, zu meiner Familie.“ erklärte sie.
„Wie weit ist es noch bis zu diesem Ort, Sam?“ rief Edward aus dem Fenster.
„Noch zwei, oder drei Meilen, Sir!“ kam die Antwort.
Als Mary Blanks das hörte lehnte sie sich beruhigt zurück.
„Sicherlich wird man sie dort schon erwarten. Haben sie eine große Familie?“ nahm Edward das Gespräch wieder auf.
„Ich lebe dort mit meinen Eltern. Mein Vater ist der Bürgermeister.“
„Ihre Eltern werden sich schon sorgen. Wissen sie denn auch nicht, wie lange sie fort waren?“
„Nein, Edward. Das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Lange, oder nur kurz, das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wichtig ist nur, daß ich nach hause komme. Ich will nur wieder nach hause, zu meiner Familie. Dann wird alles wieder gut.“
Edward Ryan kam alles sehr seltsam vor. Er schaffte es einfach nicht auch nur ein kleines Stück des Rätsels zu lösen, das diese Frau umgab.
Der junge Mann schaute aus dem Fenster. Längst hatten sie den Wald hinter sich gelassen. Das fahle Mondlicht schickte seinen Schein wieder über die offene, hügelige Landschaft. Es war kühl geworden. Vereinzelt zeichneten sich noch Reste der Regenwolken am Himmel ab, und trieben mit dem Wind. Edward war sich sicher, daß es morgen wieder schön werden würde.
Er holte seine Taschenuhr hervor und klappte den Deckel auf. Eigentlich hätte er schon längst bei seiner Tante und seinem Onkel sein wollen.
Wieder fiel sein Blick auf die schöne, rätselhafte Lady. Sie lehnte seitlich neben dem Fenster und war eingeschlafen. Die Anstrengungen der letzten Stunden waren doch etwas zu viel für sie gewesen.
Wie eine Puppe, dachte Edward, dem wieder die feine, blasse, porzellanähnliche Haut auffiel. Ihre, ebenfalls bleichen, zarten Hände lagen auf ihrem Schoß. Das, durch das Fenster fallende, Mondlicht tauchte ihre Gestalt in einen sanften Schein.
Der Weg machte jetzt eine Linksbiegung und Edward konnte in der Ferne schon die Lichter einer Ortschaft erkennen. Er überlegte, ob er Mary wecken sollte. Entschied sich aber dann, sie noch etwas schlafen zu lassen. Die Kutsche holperte über einen größeren Stein, und schüttelte die Insassen etwas durch. Doch Mary wachte davon nicht auf.
Nur die Decke rutschte etwas von ihrer rechten Schulter.
„Schlaf noch etwas, schöne Lady.“ flüsterte Edward, beugte sich vor und deckte Mary wieder zu. Dabei fiel sein Blick auf ihren schlanken, weißen Hals.
Plötzlich erstarrte er. Sah er da nicht dunkle Flecken, auf der sonst so makellosen Haut, wo er vorher noch keine bemerkte?
Oder hatte er vorher nur nicht darauf geachtet? Wieder nahm er die Decke etwas zurück. Nein, es gab keinen Zweifel. Auf ihrem Hals befanden sich blaue Flecken; so viel konnte er bei diesen Lichtverhältnissen erkennen.
Es sah so aus, als habe dort jemand seine Finger um den Hals der Frau gelegt, um sie zu würgen. Edward Ryan fasste nach Mary´s Hand, um sie zu wecken. Schnell zog er sie aber wieder zurück. Ihm kam es so vor, als wären Mary´s Hände noch kälter geworden. Wie bei einer Toten.
Auch die Haut der Frau kam ihm jetzt noch bleicher vor.
Konnte dies möglich sein? Edward wusste nicht mehr, was er denken sollte.
Als er sich etwas gefasst hatte, langte er wieder nach Mary´s Hand und fühlte ihren Puls. Nichts. So sehr er sich auch konzentrierte, er konnte nichts fühlen. Sämtliches Leben war aus dem Körper der jungen Frau gewichen. Edward war sich jetzt eines ganz bewußt. Ihm gegenüber saß eine Tote.
Edward Ryan glaubte, den Verstand zu verlieren. Wieder machte sich eine Gänsehaut bei ihm breit. Vor ihm saß eine tote, junge Frau, die man erwürgt hatte.
Aber wie war das möglich? Noch vor kurzer Zeit hatte er sich doch mit ihr unterhalten. Und Sam hatte sie doch auch lebend gesehen, als Edward sie aus dem Wald führte.
Eines wusste Edward ganz genau, daß er sie nicht getötet hatte.
Für kurze Zeit überlegte er, ob er Sam bitten sollte die Kutsche zu stoppen. Aber was sollte er seinem Kutscher erklären, wo er doch selbst keine Antwort wusste. Edward überlegte hin und her, kam aber zu keinem Schluß.
Der Wagen holperte nun über eine kleine Steinbrücke, die über einen schmalen Bach gebaut worden war. Edward blickte erneut aus dem Fenster. Vor ihnen lag der kleine Ort, den Mary unbedingt erreichen wollte. Plötzlich stoppte Sam die Pferde.
„Sir, bitte kommen sie.“ hörte Edward seinen Kutscher rufen.
Edward öffnete an der linken Seite die Tür und stieg aus. Er schaute nach vorn und bemerkte, daß sie sich schon am Ortseingang befanden.
Und er bemerkte die Männer. Vor der Kutsche hatten sich etwa zehn Männer versammelt und versperrten den Weg. Manche hielten Fackeln in den Händen, andere wiederum Petroleumlampen. Edward ging ein Stück auf die Männer zu, aus deren Mitte sich ein großer, kräftiger Mann mit breitem Hut löste.
Vor Edward blieb er stehen. Der junge Mann sah in das Gesicht des Mannes, das mit einem Vollbart bewachsen war, und er sah in seine fragenden Augen.
„Haben sie meine Tochter nach hause gebracht?“ fragte der Mann schließlich.
Edward wusste nun, wen er vor sich hatte. Es musste Mary´s Vater sein. Nur wusste er nicht, was er antworten sollte. Edward räusperte sich.
Der Bürgermeister wartete seine Antwort nicht ab. Er ließ Edward stehen und ging auf die offene Kutschentür zu. Edward Ryan folgte ihm.
„Es tut mir leid, Sir. Aber ihre Tochter ist tot.“ sprach Edward den Mann von hinten an, der in die offene Kutsche schaute.
„Ich weiß.“ gab er nur monoton zurück.
„Sie wissen es?“ fragte Edward verwundert. „Woher wissen sie... Ich verstehe nichts mehr.“
Edward Ryan merkte, wie ihm schwindelig wurde. Das alles war zu viel für ihn.
„Sie brauchen es nicht zu verstehen.“ sagte Mary´s Vater und drehte sich zu Edward um. „Es ist nur wichtig, daß sie meine Tochter nach hause gebracht haben.“
„Aber, Sir! Ihre Tochter ist tot. Und vor kurzem habe ich noch mit ihr gesprochen. Ich fand sie weinend im Wald....“
„Auch das weiß ich.“ unterbrach ihn der Bürgermeister. „Es ist so, wie immer an diesem Tag. Und das seit fünf Jahren.“
„Bitte, erklären sie mir doch, was hier vorgeht. Ich werde noch wahnsinnig.“ flehte Edward den Mann an.
„Na gut, ich werde ihnen alles erklären.“ willigte der Bürgermeister ein. „Vor fünf Jahren wollte meine Tochter, an einem Nachmittag, ihre Cousine besuchen und verließ unseren Ort. Am Abend wollte sie zurück sein. Leider kam sie nie mehr zurück. Es wurde dunkel, und wir machten uns große Sorgen. Verstehen sie, wir sind nicht reich und unsere Tochter war alles, was wir besaßen. Wir liebten sie über alles, und sie liebte uns. Ich hätte meinen rechten Arm, ja mein Leben für sie gegeben. Aber dann nahm man sie uns. Irgend ein Kerl zog sie in den Wald und erwürgte sie. Er wurde nie gefasst. Ich trommelte ein paar Männer zusammen, und schließlich fanden wir sie. Tot. Vom Mörder fehlte jede Spur. Das war genau an diesem Tag, vor fünf Jahren. Seit diesem Tag versucht die ruhelose Seele meiner Tochter nach hause zu finden, weil sie es wahrscheinlich nicht begreift tot zu sein, da sie mitten in der Blüte aus ihrem Leben gerissen wurde.“
Als der Mann fertig war drehte er sich um, beugte sich in die Kutsche und nahm den Körper seiner Tochter auf den Arm.
Dann drehte er sich und ging auf die Männer zu.
„Was werden sie jetzt machen?“ fragte Edward fassungslos.
„Ich werde sie beerdigen, so wie jedes Jahr an ihrem Todestag.“
ENDE