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Die langweiligste Geschichte der Welt
Irgendwo in der Nachbarschaft jaulte jämmerlich eine Bohrmaschine, als sich Torsten Sundström am Abend, nach einem anstrengenden Arbeitstag, vor den Fernseher hockte. Die bunte Welt auf der flimmernden Mattscheibe suchte krampfhaft nach Superlativen. Die Fernbedienung jagte abgedroschene Sexthemen vor sich her. Um in der inflationären Datenmasse aufzufallen, musste der Mensch mindestens etwas Guinessbuch-Verdächtiges abliefern. Pseudo-Prominente aßen Kakerlaken im Dschungel. Ein verrückter Amerikaner fuhr in einem Ruhrpott-Vergnügungspark mehrere Wochen hintereinander Achterbahn.
„Man kommt sich richtig minderwertig vor unter diesen ganzen Supertypen“, sagte Sundström sarkastisch.
„Ich finde, dass du auch ein Supertyp bist. Also wenn du so vor der Glotze hockst, so als Hausmann, mit der formschönen Jogginghose, deinem alten schlabberigen T-Shirt und die Haare voll auf Krawall geföhnt. Da bleibt kein Frauenauge trocken“, stichelte sein Willi Freund Kronsbein. Er war noch auf ein Bierchen vorbeigezischt und fläzte auf der Couch.
Sundström fiel auch etwas einzigartiges ein, in dieser Welt der Sensationen und Supermänner und Superfrauen. Nämlich die ...
... DIE LANGWEILIGSTE GESCHICHTE DER WELT Die langweiligste Geschichte der Welt trug sich an einem düsteren Frühlingsnachmittag zu. Einer aus der Kategorie, wo man am besten im Bett bleibt. Die Straßen der kleinen Provinzstadt waren wie leergefegt. Der Wind blies kühl von Norden. Tropfen plitschten in kurzen Abständen vom Himmel.
Ein Freund, sie nannten ihn Sandwich, hatte Sundström aus Versehen in seiner Wohnung eingeschlossen. Oder aus Absicht, der Fall wurde nie abschließend geklärt. Sundström schlief lange, die dunklen Gardinen sperrten lange Zeit den Tag aus. Irgendwann wurde es zwielichtig in der hässlichen Studentenwohnung. Der Ärger über die Zwangssituation verfinsterte Sundströms Gesichtszüge aufs Äußerste. Er hatte einen dringenden Termin. Vielleicht würde die Polizei eine Großfahndung einleiten.
Später schaute Sundström lange Zeit aus dem Fenster. Draußen passierte nichts. Er legte ein vollkommen neutralfarbenes Kissen auf die Fensterbank. Ereignislose Ödnis verstopfte den Nachmittag. Sundström döste. Irgendwann strich vorsichtig eine schwarz-weiß-gefleckte Katze durch das Stillleben. Sie sah aus wie die Hauskatze „Pipsi“ in Sundströms Kindheit, die ständig in die Schuhe seiner Mutter vor der Wohnungstür urinierte. Es war die Zeit, als die Schuhe noch vor der Tür warteten und die Wohnungsschlüssel unter den Fußmatten der Neubaublöcke sicher lagerten.
Gegenüber in einem kleinen Modegeschäft wollte kein Kunde etwas kaufen. Am späten Nachmittag kamen endlich zwei alte Damen und interessierten sich für die mickrige Auslage im Schaufenster. Sie schauten eine Weile. Auf einmal beugte sich die eine Dame ruckartig vor, weil ihr ein Schlüsselbund aus der Hand geglitten war. Dabei riss sie mit ihrer Handtasche urplötzlich den Rock nach oben. Der dicke Hintern wurde vollständig freigelegt. Ulalala. Sie schaute sich entgeistert um, ob zufällig jemand ihr Malheur am Fenster mitverfolgt hatte. Dann hob sie die Hand entschuldigend Richtung Sundström: „Sorry“, sagte sie.
„Nö, nich dafür“, murmelte Sundström in seiner Peinlichkeit. Er kam sich vor wie ein Spanner. Eine Floskel, eine schlagfertigere Antwort war durch den Überrumpelungseffekt nach Stunden der Ereignislosigkeit nicht abrufbar. Was sollte diese Geschichte aussagen? Warum war sie passiert? Selbst die langweiligste Geschichte konnte eine Aussage haben.
Am Abend kehrte Sandwich von der Arbeit zurück.
„Sorry“, sagte er. „Was hast du denn den ganzen Tag getrieben. Ist etwas passiert?“, fragte er Sundström.
„Nein nichts“, antwortete er. In diesem Moment wusste er - Auge in Auge mit den Sexthemen im Fernseher, was ihm die Geschichte sagen wollte: Ein Gentleman schweigt über gewisse Dinge.
„Hat dich das überhaupt interessiert“, fragte Sundström seinen Freund Kronsbein, der unter seiner Tagesdecke einen dösigen Eindruck machte.
„Viel mehr würde mich interessieren, ob du auch noch weitererzählen würdest, wenn alle schlafen“, antwortete er.
Konnte Sundström nicht mal mehr dem Fernseh-Programm Konkurrenz machen?
Er schaltete die Glotze ab.