Die Leere danach
für tamara
Das Kind war klein, rot und häßlich. Ein Junge. Ein Sohn, verbesserte sich Elisabeth in Gedanken, mein Sohn. Und blickte ihn an, wie er dalag, klein, rot und häßlich. Sie hob vorsichtig die Hand, um ihn zu berühren, zuckte aber vor der runzligen, schmierigen Haut zurück. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte auf diesen Moment unbeschreiblichen Glücks nach der Geburt gewartet, von dem ihr andere Mütter berichtet hatten. Aber alles, was sie fühlte, war ihr geschundener, müder Körper, in dem die Schmerzen der Geburt langsam ausklangen.
Sie hatte gehofft, es wäre vorbei gewesen. Die Monate voll Depressionen, Übelkeit, schmerzenden Brüsten und plötzlichen Tränenausbrüchen hatten sich schwer auf ihre Seele gelegt wie ein bleiernes Tuch, und sie hatte sehnsüchtig auf ihr Ende gewartet. Und jetzt, da es vorbei war, fühlte sie sich nicht anders. Sie fühlte gar nichts. Da war sie und dort war das Kind. In einem kurzen, verzweifelten Moment wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht einmal einen Namen überlegt hatte, und sie hätte am liebsten aufgeheult. Sie hatte nie weitergedacht als zu diesem Moment, wo sich doch alles in Freude auflösen sollte, und jetzt, da dem nicht so war, fühlte sie sich einsam und verlassen. Wie sollte es denn jetzt weitergehen?
Sie würde wohl noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben, und ihn dann mitnehmen, in ihre kleine Wohnung mit den wenigen Möbeln, ihn in sein Bett legen und sich wieder allein fühlen. Und in ein paar Jahren würde sie ihm die Türe öffnen, wenn er von der Schule nach Hause kam und ihn freundlich fragen, wie sein Tag war. Und Liebe empfinden können, auch wenn er wie sein Vater aussehen würde. Ihn lieben, ihren Sohn.
Elisabeth schloss schaudernd die Augen. Diese Bild war falsch, so könnte ihr Leben nicht sein. Sie konnte doch nicht Mutter spielen, wenn sie nicht Mutter war und niemals sein konnte. Nicht für ihn. Aber ich bin es, verbesserte sie sich in Gedanken, neben mir liegt mein Sohn, und ich habe noch immer keinen Namen für ihn. Mein Gott, er hat nicht einmal einen Namen. Er ist nicht. Er ist genauso wenig er selbst wie ich seine Mutter bin, wie ich Mutter sein könnte.
Es schien ihr, dass sie nichts empfinden konnte außer der andauernden Verzweiflung und der leisen Wut für dieses kleine Geschöpf neben sich. Wut, weil er da war, Wut, weil er ihr Leben zerstörte, Wut, weil er sie zu der Einsicht gebracht hatte, dass sie nicht glücklich war und es nicht werden würde.
„Er kann nichts dafür“, sagte sie sich bewusst. Aber warum wünschten sich alle so verzweifelt Kinder, wenn sie sie nicht bekommen konnten, und warum war sie nun – doch – Mutter geworden, obwohl sie nie gewollt hatte? Weil sie sich keine Abtreibung hatte leisten können? Das war doch nicht fair. Elisabeth schauderte, und dann blickte sie auf das Baby neben sich und hätte am liebsten aufgeschrien, weil es immer noch da war und immer noch hässlich und sie es immer noch nicht mochte. Das Schlimmste aber war, dass sie ihn auch nicht gemocht hätte, wäre er schön gewesen.
Es dauerte Stunden, bis ihr Körper endlich nach dem ihm zustehenden Schlaf verlangte und sie aufhören durfte, darüber nachzudenken, wie es war und wie es sein würde.
Als sie aufwachte, war es dunkel vor ihrem Fenster. Jemand hatte das Kind weggenommen, vermutlich in den Raum mit der Glasscheibe, wo stolze Väter ihre Kleinen bewunderten. Wenn sie nur an Väter dachte, wurde ihr schon schlecht. Ihr Kind würde nie einen Vater haben können. Und auch nie eine richtige Mutter, kam ihr die Erkenntnis. Er würde nicht geliebt werden, nicht von ihr. Niemals.
Sie konnte den Gedanken nicht mehr ertragen, er war ihr zu grausam. Sie wollte nicht grausam sein, sie wollte nicht, dass das Kind ein solches Leben leben sollte. Es war doch nicht seine Schuld. Sie ganz allein würde sein Leben ruinieren, und er würde immer unter darunter leiden. Sie würde ihn ganz langsam zerstören, und eines Tages würde er dieselbe Kälte empfinden wie sie jetzt. Eines Tages, wenn auch er voll Abscheu auf sein Kind blicken würde.
Elisabeth hob vorsichtig die Beine über den Bettrand und ließ sie eine Weile nach unten baumeln, bevor sie sich ganz aufsetzte und mit langsamen Schritten zur Tür wankte. Die Wände begannen sich um sie zu drehen. Sie klammerte sich kurz am Türgriff fest, doch dann war der Schwindel auch schon vorbei. Leise griff sie nach ihrem Bademantel, der über der Stuhllehne neben ihr hing, zog ihn an und betrat dann den Flur des Krankenhauses. An den Wänden hingen Bilder glücklicher Familien mit ihren Kindern. Elisabeth wandte die Augen ab.
Die Schwester erschrak, als Elisabeth plötzlich im Stationszimmer stand.
„Frau Kaspers! Warum haben sie denn nicht nach mir geklingelt“, begann sie, verstummte jedoch schnell wieder. Die Tränen, die Elisabeth die ganze Zeit so heroisch zurückgehalten hatte, liefen ihr nun übers Gesicht. Die Schwester reichte ihr ein Taschentuch, und Elisabeth holte tief Luft, bevor sie sich zögernd hinsetzte und zu reden begann.
Es tat ihr weh, einer Fremden von ihrer Kälte zu erzählen, aber je länger sie sprach, desto wohler fühlte sie sich. Sie hatte sich entschlossen. Ihr Sohn sollte kein Leben führen, so wie sie es tat.
Sie konnte ihm keine Liebe zeigen. Er würde sie bei anderen lernen müssen.
Die Schwester blickte sie traurig an, und Elisabeth spürte unter all ihrer Verzweiflung, dass sie verstanden wurde.
Die Wohnung war ungewohnt leer, als sie eine Woche später nach Hause kam. Ihre Freundin hatte die überflüssigen Kindermöbel bereits entsorgt. Es war seltsam, wieder daheim zu sein, wieder allein zu sein, und sich dabei – fast – wohl zu fühlen.
Ich bin keine Mutter, dachte sie erleichtert, und jetzt klang es richtig. Ich hätte keine Mutter sein können. Aber sie dachte an die beiden, die jetzt Eltern waren, und wie glücklich sie gewesen waren. Dan hatten sie ihn genannt, Dan Samuel – Morgenthal, nicht Kaspers, und es war gut so. Sie hatten ihm einen Namen gegeben, und eine Identität. Sie hatten das getan, was sie nicht gekonnt hatte. Und noch viel mehr. Und sie würden ihm ein Leben geben.
„Wir werden Ihnen von ihm schreiben“, hatte die Frau gesagt. Elisabeth war es fast egal, aber vielleicht war es den beiden wichtig. Vielleicht würde es dem Kind auch einmal wichtig sein. Elisabeth hatte nur eins etwas bedeutet – die Liebe, die sie in dem Gesicht der Fremden erkannt hatte; die Liebe, die sie nicht empfinden konnte; die Liebe, die so wichtig war für das Kind. Sie hatte gesehen, dass es so richtig war.
Elisabeth lehnte ihren Kopf an die Küchenfensterscheibe, schloss die Augen und spürte das angenehm kühle Glas auf ihrer Haut. So fühlt sich ein neuer Anfang an, dachte sie, und fühlte sich schuldig, weil sie beinahe glücklich war.