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Die Legende von Bill Tanner
Bill Tanner war ein müder Mensch. Schon immer gewesen. Wenn im Geographie-Unterricht in der siebten Klasse die strenge Miss VandenPort die Nase rümpfte, ihre Nickelbrille hochschob und in die Klasse habichtete, um zu sehen, woher das leise Schnarchen käme, dann sah sie Bill Tanner hinter dem großen Weltatlas von Achtundsiebzig. Er hatte ihn vor sich aufgebaut wie eine spanische Wand. Und er schlief und schlief und schlief. Schlief, als ob es kein Wachen gäbe.
Sein Schnarchen war so rhythmisch, dass Miss VandenPort sich augenblicklich nach ihrem eigenen Bett sehnte, nach ausgiebigem Morgen- oder Mittagsschlaf, vielleicht auch auf einem Schaukelstuhl oder angelehnt an eine Wand.
In der achten Klasse war Bill Tanner bereits so müde, dass um ihn herum eine Zone des Schlafes entstand. Wenn Miss VandenPort nun in die Klasse blickte, hin zu Bill Tanner, dann gähnte die kleine Susi McGovern schon, Paul Lazenby, der rechts von Bill Tanner saß, träumte von Schafen, die ihm dabei zusahen, wie er über Zäune sprang und die ihn zählten, und der dicke Ben Kendover, der hinter Bill Tanner saß, der träumte mit offenen Augen von Miss VandenPort und einem Schoko-Donut. Reihenfolge: egal.
In der neunten Klasse trank Miss VandenPort vor jeder Geographiestunde einen Kaffee. Nach einem Vierteljahr bereits vier. Und kurz vor den großen Ferien jenen Jahres war Miss Vandenport bei achtzehn Tassen Kaffee vor jeder Geographie-Stunde angelangt.
Ihre Haare standen ihr wirr vom Kopfe ab, so als seien sie statisch aufgeladen. Sie kicherte hysterisch, brabbelte in Zungen und ihre Blase entleerte sich unwillkürlich und hörte nicht einmal auf, sich zu entleeren, als der alte Hutch Stevenson vor ihr stand und sie fragte, woher die Pfütze vor der Kaffeemaschine denn käme.
In der zehnten Klasse hatte Bill Tanner keinen Geographie-Unterricht mehr. Aber er war immer noch müde.
Wenn er auf dem Nachhauseweg von der Schule war, sich die Mainstreet hinunterschleppte, hörten die Schaufensterscheiben zu seiner Linken und Rechten auf zu glitzern. Sie stumpften ab und gähnten ihn an, noch während er an ihnen vorbeischlurfte. Wasser, das aus einem Hydranten sprudelte und auf Kinder regnete, an einem Hundstag, versiegte, blubberte nur noch müde vor sich hin, während Bill Tanner es mit einem ruhigen Blick bedachte. Und ein Vogel, der singend seine Kreise zog, stürzte auf den heißen Asphalt wie ein Brathähnchen, nur weil Bill Tanner ihn angesehen hatte.
Ja, man kann mit Fug und Recht behaupten: Bill Tanner war der müdeste Mensch der Welt.
Und er war erst in der zehnten Klasse.
Im folgenden Jahr war Bill Tanner so müde, dass sein Vater zwei Wochen lang nicht im Stahlwerk erschien und danach telefonisch erfuhr, er brauche dort nie wieder zu erscheinen. Die Nachbarskatze, ein hässliches Ding mit Buckel und neun Leben, wälzte sich trächtig in ihrem eigenen Kot umher. Für ein Jahr oder länger, zu müde, um zu gebären. Und Bill Tanners eigene Schwester saß auf dem Klo mit heruntergelassenem Schlüpfer und war eingeschlummert. Und wachte nimmermehr auf.
Im Jahr darauf schloss der Friseursalon auf der Mainstreet, keine Kinder spielten mehr auf den Straßen und Miss VandenPort verhungerte in ihrer Zelle, weil niemand mehr die Tür aufschloß, um nach ihr zu sehen und ihr Haar zu kämmen und ihr zu erzählen, dass es eine neue Hauptstadt gäbe, irgendwo in der Welt.
Im Jahr darauf wuchs kein Grashalm mehr in den Vorgärten der Stadt. Und die Sonne, Helios selbst, verharrte gähnend im Zenit. Blickte in wachen Momenten nach unten, in das Auge des Sturms, auf eine tote Katze. Sie lag dort, den Bauch zum Zerreißen gespannt von ungeborenen einundachtzig Leben. Und Helios blinzelte, schaute weiter, das Skelett einer Frau auf der Kloschüssel, und im Zimmer nebenan: Bill Tanner. Der dort lag in seinem warmen, weichen Bettchen und Bill Tanner gähnte so herzzerreißend, dass der Sonne, Helios selbst, …