Die Legende von Lord Elron dem Drachen
In einem englischen Wald, nahe der Grenze zu den düsteren schottischen Mooren, wohnte, so ging die Legende, ein alter Drache von unglaublicher Grausamkeit. Kinder soll er verführt und gefressen haben, so erzählten die Dorfbewohner des kleinen Örtchens Dullsborough, direkt an der Waldgrenze gelegen. Zwar vermisste bereits seit Längerem niemand mehr ein Kind und wenn, tauchte dieses nach kurzer Zeit mit einer Hand voller Walderdbeeren wieder auf, doch die Legende hielt sich hartnäckig. Vernahm man doch, besonders in stürmischen Nächten, ein klagendes Heulen aus dem Wald. „Der Drache hat Hunger“, flüsterten dann die Dörfler und nickten wissentlich. Verstörte Wanderer berichteten, besonders in den Tagen, in denen der Nebel aus den schottischen Mooren ins englische Wäldchen schlich, von Ungeheuern, die nach ihnen zu schnappen versuchten. Dazu hörten viele ein Knacken und Knistern, dass einem ein Schauer über den Rücken lief. Ja, das Böse lauert in dem Wäldchen, so viel ist sicher.
Wie der Drache aussieht, interessiert den Leser? Nun, das ist schwer zu sagen, daweil niemand den Drachen bisher gesehen hat. Er muss verzweifelt und hungrig sein, er muss sich bewegen können wie eine Schlange, zugleich macht er sich jedoch auch die Baumwipfel zu eigen und vielleicht kann er sogar fliegen, wie es von Großvätern behauptet wird. Nicht selten haben Wanderer, die es gerade noch bis in den Pub von Dullsborough schafften, von einem rötlichen Leuchten im Nebel erzählt. Also hat der Drache feuerrote Augen. Auch kleidet er sich in den Farben des Waldes, seine Drachenhaut sieht aus wie Blätter, seine Höcker haben die Farbe und Form von Tannenzapfen. Das macht ihn so unberechenbar und die Mütter umso umsichtiger. Zweifellos kann der Drache Feuer speien, findet man doch immer wieder verbranntes Holz im Wald. Dann atmen die Dorfbewohner auf, der Drache ist vorerst gesättigt und erneut hat er sich kein Kind geholt.
Es gibt natürlich auch Drachentöter, die sich immer wieder im Örtchen Dullsborough einfinden, um, edel und großmütig wie Drachentöter nunmal sind, das Dorf vom Fluch zu erlösen. Sie sitzen im Pub, meist sind es junge, starke Männer, die nichts fürchten, schon gar nicht einen Drachen und hören sich zunächst gelangweilt und später beeindruckt die Legende von Lord Elron (so tauften ihn die Dorfbewohner) an. Die meisten Jungen zogen eher aus jugendlichem Leichtsinn oder um einem Mädchen zu beeindrucken in den Wald, doch meistens kamen sie Tage später ein wenig geknickt wieder heraus, ohne auch nur die kleinste Spur von Lord Elron gefunden zu haben, was, wenn der Jungspund aus der Umgebung stammte, ihm den Spott für einige Zeit einbrachte und sein Ansehen bei der Damenwelt, die sich vorher doch so gern in seiner Nähe haben sehen lassen, zunichte machte. Denn, das sei hier mal angemerkt, der Hohn des dörfischen Geredes ist gnadenlos, wie im Folgenden noch erläutert wird. Hat also ein heranwachsender Drachentöter aus zuviel Mut oder Langeweile (wobei hier an der schottischen Grenze das eine das andere ergibt) seinen Ruf verloren, ist auch seine weitere Laufbahn als friedlicher Pubbesucher solang hernieder, bis sich ein neuer naiver Held auftut. Doch neben den jungen Männern zieht es hin und wieder auch gestandene Drachentöter an das Dörfchen im Norden Englands. Einer von ihnen war Peter der Mutige. Sein Ruf war geradezu legendär, trafen doch seine Heldentaten vor ihm in Dullsborough ein. Peter der Mutige schindete Eindruck indem nach Ankunft seiner Heldentaten ein Scherge sein baldiges Eintreffen ankündigte und die Verhandlungen übernahm. Für ihn ließ man sogar den Rathausplatz kehren, was man sonst nur zu Ostern geschah. Schließlich traf Peter der Mutige mit seinem Gefolge ein. Nein, es war eine Prozession, Musiker spielten auf, sein Pferd war ein waffenstarrendes Schlachtross. Die guten Bürger Dullsboroughs atmeten kollektiv auf, wenn es jemand schaffte, Lord Elron zu töten, dann dieser Mann.
Doch der Platz auf dem Heldentrohn und in den Analen des Örtchens sollte nicht Peter dem Blinden (diesen Beinamen bekam Peter, nachdem er fast eine Woche den Drachen gesucht, aber verwirrt und ohne eine Spur des Drachens gefunden zu haben, aus dem Wald zurückkam) gehören, sondern Johann dem Unbedarften. Er war ein Hänfling, ohne Pferd und nur mit einem kleinen Schwert bewaffnet. Ihm gehörte das Gelächter, als er sich erklärte, man zollte ihm Spott, man knuffte sich in die Seite und war glücklich, dass der Drache etwas zu fressen bekam was kein Kind war, und im großen Übermut der Stimmung lachte der Bürgermeister, ihn mit einhundert Goldmünzen zu entlohnen, soviel wurde noch keinen Drachentöter geboten. Der Pub bog sich vor Lachen als der Unbedarfte erklärte, er wäre auch mit der Hälfte zufrieden, doch Johann blieb unbeeindruckt und fügte hinzu, es wäre schließlich ein Kinderspiel, man müsse ihm nur drei Tage Zeit gewähren. Dann verschwand er im Wald, zunächst lediglich mit der Gewissheit für einen vergnüglichen Abend gesorgt zu haben.
Tagsüber war nichts zu hören. Doch des Nachts, kurz nachdem man die Kinder schlafen schickte, ertönte aus dem Wald ein unglaublicher Lärm. Etwas schrie, jemand keuchte, ein metallisches Krachen, so laut, als würde vor den Türen auf dem Rathausplatz gekämpft, man hörte ein Fauchen, Kreischen, Kracksen, Donnern und Tosen. Am nächsten Morgen war alles vorbei, doch am darauffolgenden Abend wurde es noch lauter und schlimmer. Am dritten Abend war es so schlimm, dass alle Mütter ihre Kinder ins Rathaus brachten, Männer schwerbewaffnet selbiges bewachten in der Furcht, der Kampf würde ins beschauliche Dörfchen Dullsborough getragen.
Am Morgen des vierten Tages, gerade war die Sonne aufgegangen, schleppte sich Johann der Unbedarfte schwer blutend aus dem Wald. Seine Kleidung hing ihm in Fetzen vom Leib, wobei es für die Kleidung kein Verlust war, sein rechtes Bein, das hätte man vom verlassenen Hof des Bauern Mc Luds, das dem Wald am nächsten war, sehen können, zog Johann nach und tiefe, klaffende Wunden übersähten seinen Körper. Der Unbedarfte schaffte es noch auf den Rathausplatz und brach dort zusammen.
Was im Wald nahe der schottischen Grenze in den drei Tagen geschah? Das hätten auch gerne die gutmütigen Dörfler gewusst, sie haben es nur nie erfahren. Nicht, dass Johann dort auf dem Rathausplatz gestorben wäre, auch zweifelte niemand am Tod Lord Elrons, zumal der Unbedarfte eine Kralle des Drachens in der Hand hielt. Nein, der Held hat nicht sagen wollen, was geschah. Doch die Fantasie der Dorfbewohner ist groß und so malten sie sich eine Schlacht aus, wie sie in England noch ihres Gleichen sucht.
Jetzt könnte sogar von einem glücklichen Ende der Geschichte die Rede sein, doch, obwohl Dullsborough vom unsäglichen, grausamen Lord Elron befreit wurde, konnte sich niemand wirklich freuen. Zwar konnten die Bürger jetzt ausgedehnte Waldspaziergänge machen ohne ständig in Furcht nach allen Seiten zu blinzeln, es machte auch nichts, dass das Dorf hoffnungslos verschuldet war, all das war nicht die Ursache der Tristesse, die seit den drei Nächten im Dorf vorherrscht. Vielleicht war es das Gefühl, irgendwie hintergangen worden zu sein? Aber halt! Das wagt hier keiner auszusprechen. Der Bürgermeister räuspert sich, wenn dieses Thema angesprochen wird und versucht floskolär auszuweichen, selbst im Pub schweigen die Männer, obwohl sie von der heftigsten Schlacht aller Zeiten prahlen könnten. Nein, irgendetwas stimmte nicht mehr. Man sehnte den Tag herbei, an dem Johann der Unbedarfte wieder genesen war und das Dorf verließ. Doch als es dann endlich soweit war und der Unbedarfte Drachentöter mit reichlich Goldmünzen (es waren keine hundert, noch nicht einmal fünfzig, dafür war das Dorf zu arm) dem Dorf den Rücken zukehrte, merkten die Bewohner, dass sie etwas verloren hatten, dessen Schmerz tiefer sitzt, als sich jemals hätten vorstellen können. Erst als viele Jahre später in einer besonders nebligen Nacht ein Wanderer verstört den Pub zu Dullsborough betrat und von einer unheimlichen Begegnung im Nebel berichtete, hellten sich die Mienen der unbelehrbaren Dorfbewohner wieder auf.