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Die Leiche im Wartburg
Ich sitze hinter dem Lenkrad und blicke auf das Wasser. Der Geruch im Innenraum nach feuchtem Muff treibt mir die Übelkeit in den Magen. Marias Kopf liegt auf meiner rechten Schulter. Ihre Haare berühren mein Gesicht. Es widert mich an.
Ich muss an das junge Paar von gestern Abend denken, dass eng umschlungen auf dem Steg saß, der jetzt einsam ins Wasser ragt. Wie verliebt sie wirkten. Wie sie sich an den Einfachheiten dieses Ortes erfreuten. Wie neugierig sie die Fluglinie des Fledermausschwarmes verfolgten, der durch die Nacht flatterte und zwischen den Baumstämmen verschwand.
Ich sehe das Spiegelbild des Mondes vor mir. Gestern sowie in diesem Augenblick. Es schlingert, wenn Fische auftauchen und Vögel auf die Wasseroberfläche tupfen. Gestern musste ich gelächelt haben, einfach der Freude wegen, hier draußen zu sein. Wo sonst spürt man den sprichwörtlichen Hauch von Freiheit. Würde die Welt nur aus übereinandergestapelten Mietwohnungen bestehen, hätte ich mir längst die Flinte in den Mund gesteckt. Ich tauge eben nicht zum Rudeltier und für die Stadt schon gar nicht.
Nach einer Weile musste das Paar anscheinend genug gehabt haben vom See. Sie kamen an meinem Zelt vorbei, wir verabschiedeten uns mit einem kurzen „Tschau“, dann stiegen sie in ihr antikes Gefährt, einen Wartburg, und rollten davon. Der Abgasgestank blieb zurück. Ich rieche ihn auch in diesem Augenblick. Ich sah den Lichtkegel der Scheinwerfer noch einige Minuten zwischen den Bäumen umhertanzen, gepaart mit dem knatternden Geräusch des Zweitakters. Dann war ich allein.
Am heutigen Morgen machte ich mich auf den Rückweg durch den Wald. Mein Ziel war die nächste Landstraße. Von dort aus wollte ich wie üblich den Bus nehmen. Der Fußmarsch war im Grunde das Beste an diesem Ausflug. Und ich genoss auch an diesem Tag alles um mich herum. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Moosteppiche mit rotbraunen Farbtupfern, das mit Efeu und Pilzen bedeckte, vor sich hin schlummernde Todholz, wilde Sträucher mit blauen Beeren, zwischendrin wuselte jegliches Getier, das die Unordnung förderte. Dazu dieser einzigartige Geruch nach Holz, Moder, Gras und Fell. Ich weiß, das all dies einen weltfremden Eindruck auf mich gemacht hatte.
An einem Baumstumpf machte ich Rast. Ich blickte mich um. Zunächst nahm ich nur eine Reflexion der Sonne war, bevor ich bei genauerem Hinsehen die Rücklichter eines Wagens erkannte. Der Wartburg befand sich in einem Gebüsch, abseits des Weges, mit dem Heck mir zugewandt.
Ich erinnere mich, dass ich ziemlich ungehalten war. Sein Auto einfach im Wald zu entsorgen fand ich nämlich eine ziemliche Sauerei. Aber ich hatte besseres zu tun, als die Polizei für so eine Sache zu rufen, mal ganz davon abgesehen, dass ich sowieso kein Handy dabei hatte. Aber trotzdem war ich etwas neugierig. Es konnte ja zumindest nicht schaden, sich das Nummerschild zu notieren. Also ging ich drauf zu.
Jemand saß auf der Beifahrerseite, soviel konnte ich durch die Heckscheibe erkennen. Das Kondenswasser auf dem Glas ließ aber keine genaue Identifizierung zu. Ich sah nur den Schatten eines Hinterkopfes. Dann arbeitete ich mich durch das Gestrüpp bis zur Beifahrertür vor.
Die Frau nahm mich überhaupt nicht war. Sie starrte gerade aus. „Hallo Sie da!“. Ich klopfte gegen die Scheibe. Keine Reaktion. Ich öffnete die Beifahrertür, so weit es ging. Die Äste und Sträucher stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Ein muffiger Gestank nach Schimmel drang in meine Nase. Der Ruck bewirkte, dass der Körper der Frau zusammen sackte. Ihr Kopf hing nach vorne gesenkt. Das Kinn lag nun auf der Brust. Ihr rechter Arm baumelte herunter. Trotzdem hielt sie der Gurt in einer sitzenden Position. Jemand musste sie angeschnallt haben. Ihre Verletzungen ließen mich erschauern. Sie hatte eine Wunde an der rechten Augenbraue und Blutergüsse im Gesicht, sowie blauviolette Flecken am Hals. Am Hinterkopf erkannte ich eine große Beule, auf der sich ein Hügel aus Kruste gebildet hatte. Das Blut, das an ihrer rechten Wange bis auf ihr Sweatshirt herunter gelaufen war, war ebenfalls geronnen. Ihre Lippen waren blau angelaufen, die Haut zwischen den blauen Punkten wie Kalk und der Blick starr. Ich kann sie nicht vergessen. Diese Augen.
Ohne die Frau näher zu untersuchen, wusste ich dass sie tot war. Mir wurde übel. Ich entfernte mich aus dem Gebüsch, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Vor allem aber, um diesem Geruch zu entkommen. Ich ließ mich an einem Baumstamm nieder. Ich atmetet tief, was beruhigend wirkte. Der Puls jedenfalls kam wieder zur Ruhe. Ich war mir sicher, dass es unklug wäre jetzt in Hysterie zu verfallen. Auf jeden Fall durfte ich nichts anfassen. Der Tatort durfte nicht verändert werden. War es überhaupt ein Tatort? Ich setzte mich auf. Ein mulmiges Gefühl machte sich breit. Der Mörder musste noch in der Nähe sein, schoss es mir durch den Kopf. Denn soviel war mir klar, die Verletzungen der Toten musste jemand anderes herbei geführt haben. Es war totenstill. Selbst die Lebewesen im Wald mussten ihr Treiben eingestellt haben, um gespannt mein weiteres Vorgehen abzuwarten. Ich fühlte mich beobachtet.
Ich weiß auch bis jetzt nicht warum ich das tat. Auf jeden Fall war ich gerade dabei, die Tür des Wartburgs wieder zu schließen, um alles wieder so aussehen zu lassen wie vorher - dazu musste ich die Leiche wieder etwas zurück drücken – da ließ mich das Knacken eines Astes aufhorchen.
Eine Gestalt näherte sich dem Gebüsch. Mein Magen zog sich zusammen. Es war ein hagerer Mann mit Vollbart, ziemlich groß wie mir schien. Er trug ein rotes langärmliges Shirt und eine kakifarbige Hose mit Taschen an den Hosenbeinen. Er hatte eine Baseballmütze auf und einen Rucksack bei sich. Er kam direkt auf mich zu. Der Mann blieb vor mir stehen und musterte mich. Ich bekam meinen Mund nicht auf. Sein Blick wanderte zum Wartburg. Er näherte sich und blickte neugierig über meine Schulter. Blitzschnell wich er zurück. Er schien nun unruhig zu werden, denn seine Augen weiteten sich, es arbeitete in ihm. „Was ist denn hier passiert?“, fragte er mich. „Ich habe keine Ahnung. Die Frau ist jedenfalls tot“. Ich hatte meine Sprache wiedergefunden. Die Besorgnis und Angst des Mannes war nun bis zu mir spürbar. Er stand jetzt etwas abseits von der Fundstelle. Mir gefiel sein Verhalten überhaupt nicht. Es arbeitete in ihm. Seine Hände suchten nach einem geeigneten Versteck.
„Haben Sie ein Handy dabei, um Hilfe zu holen?“ Ich ging langsam auf ihn zu, um ihn nicht zu verschrecken. Mir schien, auf jede falsche Bewegung würde er überreagieren. Zu spät.
„Bleiben sie mir vom Leib.“ rief er mir mit zittriger Stimme zu und lief wie vom Hafer gestochen in die Richtung, aus der er gekommen war. „Halt. Nun warten Sie doch mal!“ Ich folgte ihm. Mehrere Minuten rannte ich den Pfad entlang, von dem Mann war jedoch nichts mehr zu sehen. Er war von der immer dichter werdenden Vegetation verschluckt worden. Ich hätte mich verstecken sollen.
Ich hatte die Suche nach dem Fremden abgebrochen, und befand mich nun wieder auf dem Weg zur Landstraße, um von dort aus Hilfe zu holen. Ich schätzte, dass es noch etwa eine Stunde bis dahin dauern würde. Mir wurde ganz schlecht, als ich an den Typen denken musste. Er strahlte zwar eine gewissen geistige Zurückgebliebenheit aus, aber für eine Aussage auf dem Polizeirevier reichte es bestimmt. Ich hatte immerhin Fingerabdrücke hinterlassen und die Art und Weise wie ich die Leiche malträtierte, hatte sicherlich keinen vertrauenserweckenden Eindruck gemacht. Aber die Polizei würde den Tatort genau untersuchen und feststellen, dass ich rein gar nichts mit der Sache zu tun hatte.
Ich legte eine kurze Pause ein. Es war jetzt nicht mehr allzu weit. Bis hierher war mir keine Menschseele begegnet, doch jetzt glaubte ich irgendetwas zu hören. Eine Stimme. Eine männliche Stimme. Ich lauschte und meinte so was ähnliches wie „AIE“ zu hören. Die Laute kamen immer näher und wurden klarer. Ich konnte jetzt eindeutig das Wort „MARIE“ heraushören.
Der Mann unterbrach seine Rufe als er mich erblickte. „Hallo. Entschuldigen Sie bitte, aber ich suche meine Freundin. Sie ist blond, mittelgroß und trägt ein blaues Seidenhemd. Außerdem hatte sie eine dunkelblaue Jeans an.“ Der Mann hatte diese Beschreibung heute wohl schon mehrmals gegeben. Sie kam wie aus der Pistole geschossen. „Haben Sie sie zufällig gesehen?“ Ich blickte ihn einen Moment lang an. Dann nickte ich.
Entgegen meiner Befürchtung reagierte der Mann zunächst gefasst. Trotzdem trat er mir distanziert und etwas misstrauisch entgegen. Zwar nahm er mir die Geschichte ab – dazu passte seine Beschreibung leider zu gut mit der Frauenleiche überein - dennoch schien ihm nicht ganz klar zu sein, welche Rolle ich spielte. Ich erzählte noch einmal alles im Detail. Zwischendurch überkamen ihn Weinkrämpfe. Er ließ sich ins Moos fallen und schluchzte. Ich ging in die Hocke und klopfte ihm auf die Schulter. Gestern saß er noch glücklich Schulter an Schulter mit Maria auf dem Steg.
„Sie können ja hier warten, ich werde weiter in Richtung Straße laufen und Hilfe holen.“, sagte ich nach einem längeren Schweigen. Er bestand aber darauf, seine Freundin zu sehen und wollte, dass ich ihm den Weg zeige. Da er mir leid tat, und ich in seiner Situation auch Gewissheit haben wollen würde, willigte ich ein. Diese Entscheidung bereue ich in diesem Moment.
Wir folgten dem Pfad im Laufschritt. Ich wollte nicht noch mehr Zeit verlieren, und vor allem wollte ich nicht dem Mörder begegnen. Aber ich fühlte mich in der Gegenwart des Mannes, der Eric hieß, sicher. „Wie kam es eigentlich dazu?“, fragte ich mit kurzatmiger Stimme.
„Was meinst du?“
„Na ja, ich frage mich wie der Wartburg hierher gekommen ist zusammen mit Maria.“
„Okay, Maria und ich hatten einen kleinen Streit und da ist sie allein los...“ Er brach wieder in Tränen aus. Ich fragte nicht mehr weiter nach. Als wir vor dem Wartburg standen, blickte ich in Erics Gesicht, genau so wie ich es jetzt tue. Ich sehe Trauer, Wut und die Bestürzung darüber einen Menschen, den man liebte, für immer verloren zu haben.
Ich ging diesmal zu Fahrerseite herüber, weil diese zugänglicher schien. Eric war direkt hinter mir. Meine Knie waren etwas wacklig, als ich die Tür öffnete. Wieder dieser Geruch, wieder diese kalte Feuchte, wieder sie.
Der Schlag kam so unvermittelt und abrupt. Ich knallte mit meinem Gesicht auf die Türkante. Alles dunkel.
Als Erics Blick zu mir wandert, sind Wut, Bestürzung und Trauer erloschen. „Du hättest nicht rumschnüffeln sollen!“ scheint er zu sagen. Seine Lippen bewegen sich, aber meine Ohren können seine Worte nicht aufnehmen. Ich höre ein hohes Pfeifen, mehr nicht. Die Unmengen an Blut in meinem Mund scheinen mich nur undeutlich und mit viel Flüssigkeitsausfuhr antworten zu lassen. Eric guckt angeekelt weg und langt mit seinem Arm durch das heruntergekurbelte Fenster. Seine Hand umschließt die Handbremse. Er greift an den Rahmen des Fensters und stemmt sich mit seinem Körper in Fahrtrichtung. Der Wagen gerät ins Rollen. Ich blicke in den Seitenspiegel. Eric wird immer kleiner. Plötzlich entfernt er sich hastig. Der Ort wird mit grellem Blaulicht überflutet.
Ich blickte nach vorne. Der See direkt vor mir. Die Front taucht ein. Marias Kopf hat die Seite gewechselt.