Die letzte Angst
Niemand schien es gehört zu haben. Dieses gedämpfte Quietschen, dieses kleine Geräusch mit ungeahnten Folgen. Es schien, als ob nicht einmal die triste Dunkelheit der Nacht Notiz davon genommen hätte. Der Mond erhellte, wie eine Minute davor, die fahlgrünen Bergmatten und spiegelte sich in dem nahe gelegenen Bergsee wider, dessen Oberfläche geglättet schien. Durch Bergketten und Hügelzüge wird der Horizont begrenzt und das Himmelszelt ist mit grauschwarzen, wassergefüllten Wolkentürmen verhangen. Eine kleine, beinahe jämmerliche Lichtquelle beleuchtet die sich hinabwindenden Bahngeleise an einer Stelle. Bahnangestellte arbeiten emsig, denn die Arbeit muss bis zum Erwachen der Sonne fertig gestellt sein. Zeitdruck, Stress und Kälte sind die Sorgen dieser Arbeiter und nicht ein unbedeutendes Geräusch.
In der Ferne ertönt das erste Donnergrollen, nur eine Frage der Zeit, bis der Himmel sich öffnet. Bald darauf folgen die ersten Tropfen. Zuerst vereinzelt, dann immer rascher, bis es in nassen Strömen vom Himmel giesst. Wie Amei-sen verschwinden die Arbeitenden in den löcherähnlichen Eingängen des Ar-beitszuges. Licht erhellt die Zugfenster, braune Pelerinen werden übergestülpt, Zigaretten angezündet, widerwillig beginnt das Aussteigen. Einer nach dem anderen. Sobald sie den wärmenden Zug verlassen haben, verschluckt sie das nächtliche Abendkleid der Natur, beinahe unauffindbar sind sie mit ihren dunklen Regenmänteln. Nur manchmal blitzen die Reflektoren der Jacken im Mondlicht auf.
Gepickelt, gehämmert, geflucht wird. Niemand hatte das Geräusch wahrge-nommen. Niemand, aber auch niemand vermisst die eingeschlafenen Kollegen im Arbeitszug. Niemand bemerkt, wie der Zug zögernd rückwärts Richtung Talsohle rollt. Nicht einmal die Insassen, denn sie schlafen felsenfest. Der Zug rollt und rollt, wird schneller, die Bremsen aber greifen nicht. Im Innern ertönt lautes Geschnarche, Geschmatze und Gestöhne - wovon die wohl Träumen? Viel-leicht von Sandstränden mit türkisblauem Meerwasser und goldigem Sonnenschein. Eine leichte, salzige Brise weht ihnen durchs Haar, raschelnde Palmenblätter und die brechenden Meereswogen verschmelzen zu einer harmonischen Melodie. Wenn nur nicht das elende, alles zerstörende Kreischen der Seemö-wen wäre, könnte man beinahe einschlafen.
Plötzlich fährt es dem einen durchs Gebein, er schreckt auf: Dass sind gar nicht Möwen! Nein. Hastig stolpert er zu Notbremse, zieht. Nichts passiert. Die anderen beiden starren ihn hilflos an. Gucken hastig aus dem Fenster. Worte werden gewechselt. Die Mienen verfinstern sich zusehends.
Der Zug kurvt eine waghalsige Strecke hinunter. Meter für Meter legt er an Tempo zu. Fenster, Türen werden geöffnet, ein Absprung aber nicht gewagt. Winzige Hoffnungsschimmer erhellen die Gesichter noch. Doch mit jeder Minute - sogar jeder Sekunde wird ein wenig Hoffnung zu Grabe getragen. Angst, Verzweiflung, Kummer breiten sich aus. Mit einer stetigen Ruhe aber prasselt der Regen gegen die Fenster, als würde ihm dieses grausige Schauspiel überhaupt nichts bedeuten. In der Ferne erscheinen die Lichter von Thun.