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Die letzte Nacht
Auf dem weichen Waldboden sitzend begann Leon zu weinen. Er schluchzte hemmungslos und der Rotz lief ihm aus der Nase bis zum Kinn. Sein Jammern klang in dieser Nacht lauter als in denen zuvor. Doch Joshua konnte für seinen kleinen Bruder nichts anderes tun als das Seil fest zu verknoten und den Kleinen somit an den dicken Stamm des Baumes zu binden.
„Leon bitte“, flehte Joshua reichlich erschöpft. „So gib’ doch Ruhe. Ich dachte, wir wären damit durch.“ Sein kleiner Bruder wimmerte. „Es ist die letzte Nacht. Dann sind wir beim Arzt und der wird alles wieder in Ordnung bringen, okay?“
Leon gab sich sichtlich Mühe nicht zu schreien, doch er konnte es nicht lange zurückhalten und brüllte wieder los, wobei ihm die Tränen in Strömen über die Wangen liefen.
Joshua seufzte. Liebevoll legte er eine warme Decke um seinen Bruder. Dann richtete er sich auf, versicherte sich noch einmal, dass keine größeren Stöcke und Äste in der unmittelbaren Nähe lagen und ließ seinen Bruder mit den Worten: „Ich liebe dich“ zurück. Dem Schein der Taschenlampe folgend folgten ihm jammernde Schreie.
In seinem Wagen angelangt, den er in einen kleinen Mulde an der Straße am Waldesrand geparkt hatte, lehnte sich Joshua entkräftet zurück. „Dies ist die letzte Nacht, alles wird gut“, predigte er vor sich hin. „Dies ist die letzte Nacht, alles wird gut!“
Er langte zum Handschubfach an der Beifahrerseite hinüber. Eines der orangfarbenen Röhrchen nahm er daraus, öffnete es und schluckte eine unbewusste Anzahl an Pillen. Tief ins Polster zurückgesunken sah er im Rückspiegel die leeren, sich stapelnden Orangensaftkartons auf der Rückbank und gab sich langsam der Wirkung seiner Medizin hin. Er schlief bald darauf traumlos.
***
Ein Wagen.
Zähflüssig tropfte die Erkenntnis in Joshuas Bewusstsein als er gerade im Begriff war aufzuwachen. Aber als er dann im Rückspiegel erkannte, dass wirklich ein weißer Geländewagen, verlassen, mit offener Fahrertür hinter ihm stand, holte es ihn mit dem Vorschlaghammer aus seinem Schlaf.
Panik brachte sein Herz zum Rasen und mit einem explodierendem Adrenalingehalt im Blut platze er aus seinem Auto raus. Eine erbarmungslos heiße Sonne empfing ihn. Er hastete zu dem fremden Gefährt, erspähte auch bei genauerem Blick niemanden darin außer einer Reisetasche auf der Rückbank und einer falsch zusammengelegten Straßenkarte. Sein Puls klopfte heftig an seine Schläfen. Bislang waren sie immer unentdeckt durch die Nächte gekommen, niemand hatte sie gestört und so konnte auch niemand in Gefahr geraten. Joshua war immer auf immer auf Seitenstraßen ausgewichen, hatte sich von größeren Menschenansammlungen fern gehalten. Er wusste, würden Menschen Leon in der Nacht zu nahe kommen, hätte das böse Folgen und er wusste auch, würde das je noch einmal passieren, müsste er selbst eingreifen. Zu diesem Zweck hatte Joshua den Revolver seines Vaters im Kofferraum. Noch immer fehlten zwei Schuss, er hatte keine Zeit gehabt die restlichen Patronen im Haus zu suchen. Ob es nun ein Fluch oder ein Segen war, dass nur zwei Schuss abgegeben worden waren wagte Joshua nicht zu bestimmen. Die Entscheidungen zwischen Bruder und Vater wurde ihm jedenfalls durch eine göttliche Fügung abgenommen.
Mit nervösem Zittern nahm er die Waffe, wischte sich mehrmals den kalten Angstschweiß von der Stirn und rannte, zwischen panischem Entsetzen und brüderlichem Beschützerinstinkt schwankend, in den Wald.
***
Genervt klopfte Lars gegen die Scheibe der Fahrertür. Die Figur dahinter blieb reglos, in der Dunkelheit war kaum zu erkennen, ob er noch atmete oder nicht. Lars entschied sich für die bequemere Variante: „Der schläft“, rief er seiner Freundin im Wagen zu.
„Bist du sicher“, fragte sie verängstigt, als sie ausstieg. „Ich will nicht allein mit ihm sein.“
Lars seufzte. „Bin doch bloß kurz pissen! Der Kerl wird schon nicht aufwachen. Und wenn er dir zu nahe kommen sollte rufst du mich einfach und ich polier’ ihm die Fresse, ok?“
Sie blieb dicht an ihrem Geländewagen stehen, wollte sich nicht davon entwerfen und scharrte
ängstlich mit den Füßen. „Ich weiß nicht“, gab sie kleinlaut von sich.
„Schön!“ Missgestimmte stapfte Lars in den Wald, vom Licht der Scheinwerfer geführt.
Der ganze Trip war eine Schnapsidee, dachte er bei sich und stieg über umgestürzte Bäume und einige größere Äst hinweg. Sie waren einfach noch zu jung dafür und sie war einfach zu... unerträglich! Er wusste nicht, wie er lange er das ganze noch aushalten sollte.
Bald beschien nur noch Mondlicht den mit Tannennadeln übersäten Waldboden vor ihm. Die absolute Stille um ihn herum fiel ihm nicht auf. Er hörte nur das Poltern seines Ärgers im Kopf.
An einem breitem Baum öffnete er seine Hose und ließ den Dingen freien Lauf. Im Zuge der Entspannung, wo er alles andere vorübergehend vergaß, drang ein leises Wimmern zu ihm durch.
Er beendete sein Geschäft und folgte dem Geräusch.
Valerie näherte sich vorsichtig dem Wagen. Sie hielt es vor Unwissenheit, nicht selbst gesehen zu haben was sich darin befand, nicht aus und nach dem Lars pinkeln gegangen war, gab sie ihrer Neugier nach.
Der Mann im Auto schien wirklich ganz unspektakulär zu schlafen. Er sprang zu Valeries Erleichterung auch nicht plötzlich auf als sie sich ihm näherte. Beinah wie tot blieb er in seinen Sitz gekauert. Valerie nahm die O-Saftkartons auf der Rückbank in Augenschein. Die meisten waren leer und zusammengepresst oder eingedellt. Aus einigen liefen die Saftreste und verklebten mit dunkel schimmernden Flecken das Polster. Merkwürdig, dachte sie sich und bekam plötzlich einer starkes Verlangen nach O-Saft. Ihre Kehle war wie ausgedörrt.
Seit Tagen waren sie nun schon unterwegs, hatten sich heillos verfahren. Sie war wütend auf ihn. Seine Idee war es doch gewesen, aus heiterem Himmel zu verschwinden und ans andere Ende der Welt zu fliehen. Hätte er das denn nicht besser planen können?! Sie war wütend auf ihn, sie war wütend auf den schlafenden Kerl im Auto, der keine Sorgen zu haben schien. Aber als Lars nicht zurückkehrte war sie nicht mehr wütend.
***
„Tu das nicht Vater“, hatte Joshua seinen Erzeuger beschworen, als dieser mit Leon an der einen und dem Revolver in der anderen Hand, durch die Zimmer nach draußen auf die Veranda zusteuerte. Das Dämmerlicht war damals in goldenen Streifen durch die halbgeschlossene Jalousie gefallen. In seiner Erinnerung war der hell-dunkel Kontrast wahrscheinlich noch viel stärker, als in der Wirklichkeit, aber ganz deutlich sah er das verweinte Gesicht seines Bruders und spürte die Entschlossenheit seines Vaters.
„Es liegt nicht an ihm, es hat mit seinem Gehirn zu tun“, hatte Joshua geschrieen. „Er muss zu einem Arzt. Du darfst ihm nichts tun!“
Sein Vater stand in der Verandatür und hatte sich umgedreht. „Ich darf ihm nichts tun so wie er deiner Mutter nichts getan hat?“
Joshua hatte genickt.
Darauf hatte sein Vater nur eine Antwort gewusst: „Dann tust du es!“
Und Joshua hatte es getan. Er hatte die steinerne Veranda mit dem Kopf seines eigenen Vaters gesprenkelt.
Jetzt rannte Joshua mit eben diesen Revolver an nicht enden wollenden Baumreihen vorbei. Die Morgensonne fiel grausam freundlich durch die Baumkronen. Joshua schätzte ihr Licht, auch wenn ihm davor graute, was ihm hinter dem nächsten Stamm erwarten konnte.
Als er dann die losen Seile sah, welche niemanden mehr fesselten, überraschte es ihn einfach nicht mehr. Das Glück sollte ihm halt nicht einmal in den kleinen Dingen vergönnt sein.
Gehetzt, außer Atem und stark schwitzend ließ er seinen Blick panisch umher huschen: da war ein Baum, da noch einer und noch so viele mehr, nichts als schweigsame Bäume, die ihm nichts nützten.
Schreien und Rufen würde nichts bringen, das wusste Joshua. Hatte die Nacht seinem Bruder das Leben nicht genommen, so war dieser doch aber bestimmt kilometerweit entfernt und in einem Stadium absoluter Apathie. Innerlich hasste Joshua sich dafür, dass er Ersteres hoffte.
Er ging ein paar Schritte übers feuchte Laub, ziellos, von bodenlosem Entsetzten geplagt.
Da, in einer Senke lag eine Männergastalt regungslos auf dem Bauch. Joshua ging langsam auf die Gestalt zu, wandte sich dann aber wieder verschreckt ab von dem Anblick und unterdrückte einen Brechreiz. Diesem Mann war nicht mehr zu helfen.
Der Schrei einer Frau ließ ihn herum wirbeln. Am oberen Rand der Senke stand tatsächlich ein blondes Püppchen, das die Hände vors Gesicht schlug und kreischte.
Joshua hatte dafür keine Nerven. Er hielt sich die Ohren zu, stieg nach oben und stapfte mit großen Schritten zu seinem Wagen zurück.
Dumpf hörte er die Frau hinter sich her rufen. Er verstand ihre Worte nicht und kümmerte sich auch nicht darum.
Seine Finger zitterten. Er saß wieder im Wagen, wusste nicht, wie er hierher gelangt war, und konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen. Es war wie betrunken sein. Nichts ging mehr, nur vorwärts, wohin auch immer. Sein Blick haftete plötzlich an der Waffe, die er noch immer in der Hand hielt.
Schläge gegen die Beifahrertüre und ein tränenverschmiertes Gesicht rissen kurzzeitig seine Aufmerksamkeit auf sich.
Eine junge Frau, die Frau von eben, öffnete die Tür und setzte sich neben Joshua. Sie zitterte am ganzen Körper, schluchzte unkontrolliert, atmete zwischendurch stockend. Ihre blonden Haare hingen ihr verdreckt und verschwitzt vom Kopf.
Sowohl Valerie als auch Joshua fühlten sich für den Moment nicht wirklich in dieser Welt. Entrückt saßen sie nebeneinander und verstanden nichts von dem, was um sie herum geschah. Valerie kam zuerst wieder stotternd zu Wort: „Lars, oh mein Gott, was ist mit ihm?“ Und nachdem sie einmal die Hürde genommen hatte, über ihren Kloß im Hals hinweg zu kommen, konnte sie mit dem Sprechen gar nicht mehr aufhören. Ihre Angst und Verzweiflung manifestierte sich nun in einer zeitweilig sinnlosen Aneinanderreihung von Gebeten und Ausdrücken purer Ratlosigkeit.
Ihr Reden spulte sich immer weiter auf, sie wirkte immer aufgeregter, schrie sehr bald und Joshua schrie darauf zurück: „Ruhe, Ruhe, RUHE!!!“
Valerie verstummte.
Mit unsicherer Bewegung öffnete Joshua das Handschubfach. Mehrere leere, orange Röhrchen fielen heraus und Valerie auf die Knie, worauf sie zusammenzuckte. Ungeduldig fingerte Joshua ein noch gefülltes Röhrchen hervor. Mit seinen zitterten Händen bekam er es jedoch zuerst nicht auf und brach den Deckel daraufhin gewaltsam ab. Er schluckte ein paar Kapseln.
Valerie starrte auf die Beruhigungstablettenbehälter. Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Ich hab’ mal gehört“, sagte sie, „dass, wenn man eine Überdosis an Schlaftabletten genommen hat, man noch einmal aufwacht und denkt, nichts wäre geschehen. Ein paar Minuten später jedoch, bringen einen die Pillen dann doch um und man hat umsonst Reue gezeigt.“ Sie schluchzte. „Warum muss ich mich jetzt an solchen Scheiß erinnern, he?“ Sie sah Joshua dabei Hilfe suchend an.
Der hatte sich ins Polster zurückgelehnt und dachte kurz über das Gesprochene nach. Er hoffte nur zu inständig sich in einem solchen Zustand zu befinden und in den nächsten Minuten einfach tot umzufallen. Dann wäre all das hier vorbei und er hätte endlich einmal Ruhe. Seit Tagen diese Zerreißprobe, seit Tagen nur Schlaf dank Tabletten, seit Tagen ein Leben in Todesangst.
Minuten später hatten sich beide ein wenig beruhigt.
„Wozu all der O-Saft?“ Valerie, die von ihrer derzeitigen Situation hoffnungslos überfordert war und deshalb und einen Ausweg kannte, nämlich ausblenden, war sich der Bewegung ihrer Lippen nicht bewusst.
„Er hat viel Durst“, antwortete Joshua abwesend. „Ich gab ihm immer ein paar Schluck mit darin aufgelösten Schlaftabletten um ihn Ruhig zu stellen...“ Er versank in Erinnerung, sah vor seinem geistigen Auge, wie sie an einer Tankstelle gehalten hatten und er seinen Bruder den O-Saft hinhielt. Dieser trank gierig, sein junger Adamsapfel hüpfte aufgeregt. Die großen blauen Augen sahen sich dabei scheinbar neugierig um und trafen auch Joshuas Blick. Er hatte sich für den kleinen aufgeopfert, Tag um Tag, Nacht für Nacht. Leon war zu seinem Leben geworden. Joshua liebte diese großen blauen Augen, er liebte sie wirklich.
„Steig aus“, wies er Valerie an.
„Was?“, fragte sie verwirrt und einem erneuten Nervenzusammenbruch nah. „Aber du kannst doch nicht – “
„Sofort!“ Er hielt ihr die Waffe entgegen.
„Aber ich...nein...“, sie stammelte, winselte förmlich und wusste einfach keinen Ausweg. Joshua schlug ihr mit dem Eisen ins Gesicht, sodass ihr Blut das Armaturenbrett befleckte. Nun schrie sie vor Schmerzen.
Er langte an ihr vorbei, öffnete die Tür weit und stieß sie brutal nach draußen. Sie stürzte über den Boden, schlug sich die Knie blutig und brach sich lautstark ein Handgelenk.
Joshua schloss die Tür wieder.
Er wollte schnell weiter und würgte erst einmal den Wagen ab. Während er das Fahrzeug weiter zum Stottern brachte, krümmte sich Valerie auf dem staubigen Boden. Sie spuckte blutig. Die Schmerzen waren schlagartig so stark geworden, dass sie nicht einmal mehr schreien konnte. Den Mund weit aufgerissen atmete sie Staub und Blut ein. Ihr Körper krampfte und sie wandte sich in hilfloser Gebärde.
Joshua brachte den Wagen heulend zum Laufen und preschte davon, wobei Valerie mit kleinen Steinen beschossen und in eine Wolke aus Dreck gehüllt wurde.
***
Irgendwie verging Zeit, unbestimmbar viel Zeit.
Die Sonne brannte heiß herab. Valerie spürte jeden Nerv in ihrem Körper und jeder dieser Nerven brüllte Schmerz. Ihr Verstand hielt dem nicht Stand und versank in Stillschweigen. Daher waren es ihre Urinstinkte, ihr innerster Wille zum Überleben, der sie aufmerken ließ, als ein Wagen sich schnell ihrer näherte. Schwache Glücksrufe krächzten aus ihrer Kehle. Sie empfand überschwängliches Glück. Auch noch als die Stoßstange des Wagens ihren Schädel mit lautem Knall sprengte. Ihr Körper wurde zerdrückt, ihre Gliedmaßen verdreht und zerrissen. Die Räder saugten sie unter das Fahrgestell, wo sie laut polternd in den Boden gestampft wurde und sich Knochen wie Fleisch einem wilden Stakkato von Sprengungen ergaben. Die Hinterräder spuckten das blutige Bündel auf den schmutzigen Untergrund aus.
Joshua verließ das Gefährt und näherte sich seinem Opfer zügig.
„Sorry, aber es ist besser, wenn niemand hiervon erfährt“, sagte er, als er sich über sie beugte und etwas an ihr suchte, womit er sie von der Straße hätte wegziehen können.
Dabei sah er kurz auf und erstarrte.
Vor ihm stand Leon, mit verrotzter Nase und struppigen roten Haaren.
Joshua war sprachlos; der Revolver noch im Wagen. Und in einem finalen Gedanken an ein glückliches Ende breitete er die Arme aus und ging auf seinen Bruder zu: „Leon –„