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Die letzte Reise

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14.09.2009
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Die letzte Reise

Die letzte Reise

Thomas ging durch den alten Flur, den er schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Drei Jahre war es her, seit er zuletzt diesen Weg beschritten hatte. Seitdem war er seinem Vater nicht mehr gegenüber getreten.
Der Flur war schon immer nur spärlich beleuchtet gewesen. Es gab kein Fenster, das Sonne herein lassen konnte und die Energiesparlampe an der Decke war ebenfalls sehr schwach. An den Wänden hingen kleine Gemälde von dem alten Haus, sie mussten nun mindestens dreißig Jahre alt sein, genau wie die dunklen Bilderrahmen auf Fichte. Thomas schritt auf die alte, dunkelbraune Tür zu, die zwischen ihm und seinem Vater stand. Hinter ihr würde er erneut auf ihn treffen, nach drei Jahren Funkstille. Drei Jahre. Es kam ihm viel länger vor. Mit lautem Herzklopfen und einem tiefen Atemzug drückte er die Klinke herab und spürte, wie die Tür langsam nachgab.

Sein Vater lag im Bett, die Augen halb geöffnet, aber fest auf den Neuankömmling fixiert.
„Hallo, Sohnemann.“ knarrte es durch den Raum und Thomas erschrak bei der Stimme. Sie hatte nichts mehr von der einstigen Härte, die ihm in Erinnerung geblieben war. Sie war erschöpft, müde, wirkte dünn und verblasst. Die Krankheit hatte ihre Spuren hinterlassen. Wo war er, der Despot, den Thomas erwartet hatte? Wo war diese Erinnerung, die ihn den gesamten Weg bis hierher begleitet hatte?
„Guten Tag, Vater.“ brachte er hervor und war überrascht, wie kalt seine Stimme klang, fast schon trotzig. Er machte einige Schritte, um das Zimmer zu durchqueren und blieb neben dem Bett stehen. „Wie geht es Dir?“
„Ging mir schon besser.“ brachte sein Vater hervor und rang sich ein zynisches Lächeln ab. Es schauderte Thomas bei diesem Anblick. Selbst der zynische Sarkasmus war verblichen und nur noch ein Abziehbild seiner selbst. Bei einem genaueren Blick fiel Thomas auf, dass sein Vater Gewicht verloren hatte. Seine Augen lagen tief und sein Gesicht war hager geworden. „Ich hoffe, ihr hattet eine schöne Fahrt.“ murmelte er.
„Du hättest es mir früher sagen müssen.“ sagte Thomas, ohne auf die Frage einzugehen. „Wie lange weißt du es schon?“
„Warum hätte ich euch beunruhigen sollen?“ erwiderte sein Vater und ließ mit einem schneidenden Ton erkennen, dass er keine Antwort erwartete. Zumindest etwas hatte sich nicht verändert.
„Also, was sagen die Ärzte?“ Thomas schluckte schwer, denn er kannte die Antwort.
„Ich habe dich nicht deshalb hierher gerufen, Thomas. Ich habe nicht viel Zeit, also lass uns nichts davon verschwenden.“
Verschwenden. Gespräche über Gesundheit, Wohlbefinden, Gefühle... Es war für ihn nur Verschwendung. Thomas zitterte vor Zorn. Selbst jetzt, da er im Sterben lag, verwehrte er ihm die Gelegenheit, in sein Innerstes zu sehen.
„Worüber möchtest du sprechen?“ antwortete Thomas und war gespannt, was wichtiger, als die Krankheit und der bevorstehende Tod sein könnte.
„Ich habe dir niemals viel über mich erzählt. Ich denke, ich bin dir ein paar Erklärungen schuldig.“
Schuldig. Thomas riss sich zusammen, um ihm nicht ins Wort zu fallen. Er wollte dem letzten Willen des sterbenden Mannes nachkommen.
„Ich habe in meinem Leben eine ganze Menge gesehen.“ begann sein Vater plötzlich und sein Blick richtete sich dabei aus dem Fenster. Die Sonne warf sanft ihre Strahlen herein und verlieh dem Zimmer einen viel helleren Schein, als dem Flur. „Ich habe damals erlebt, wie ein Mann den ersten Schritt auf den Mond gesetzt hat. Ich habe gesehen, wie ein Land wiedervereinigt wurde, indem man die trennende Mauer abriss und überall Tränen der Freude vergossen wurden. Doch das schönste Ereignis, das ich bislang erleben durfte, lag genau zwischen diesen beiden.
Der 30. September 1979, der Tag deiner Geburt.“
Thomas hatte mit allem gerechnet. Er hatte befürchtet, dass er sich jetzt ein langes Resümee über das Leben seines Vaters anhören musste, doch die letzte Bemerkung ließ ihn verwirrt und mit einem tauben Gefühl in den Gliedmaßen zurück. Er schämte sich.

„Ich war damals geschäftlich unterwegs und deine Mutter war seit mehr als einer Woche überfällig. Bevor ich eine zweistündige Zugfahrt angetreten bin, um mit einem Kunden zu sprechen, sagte sie... Ich sehe aus wie ein Wal...
Das waren die letzten Worte, die sie zu mir gesagt hat. Und ich habe ihr nicht geantwortet, weil ich mich auf das Treffen konzentriert habe. Nachdem ich bei dem Kunden angekommen bin, hatte ich nur zehn Minuten für das Gespräch mit ihm. Dann klingelte das Telefon und mir wurde mitgeteilt, dass deine Mutter in den Wehen lag. Ich habe den nächsten Zug genommen und bin fast rechtzeitig zu deiner Geburt wieder da gewesen. Du warst bereits auf der Welt, also haben die Ärzte dich sofort zu mir gebracht. Bei deiner Mutter gab es Komplikationen, hieß es, deshalb musste sie operiert werden. Ich dachte mir nichts Schlimmes dabei.
Du hast geschrien und warst so winzig. Ich weiß noch ganz genau, dass du Deine Augen einfach nicht aufmachen wolltest. Du hattest Sie die ganze Zeit fest zugekniffen und hast den gesamten Tag geweint. Ich war vollkommen fasziniert von deiner Ausdauer und wie laut du schreien konntest. Ich war so stolz...
Nach etwa einer Stunde kam dann ein Arzt zu mir und bat mich in sein Zimmer. Ich übergab dich an eine junge Krankenschwester und folgte dem Arzt. Er erklärte mir, dass deine Mutter innere Blutungen hatte und dass sie nicht gestoppt werden konnten. Sie war etwa eine Stunde nach der Geburt gestorben.“
Die Stimme seines Vaters war zuletzt sehr ruhig und leise geworden. Thomas konnte seine Augen nicht sehen, weil er noch immer aus dem Fenster blickte, doch er konnte hören, wie sein Vater schwer schluckte. Thomas überlegte, ob er etwas Tröstendes sagen sollte, doch sein Vater fuhr plötzlich fort.
„Es war damals eine schwere Zeit. Vor deiner Geburt, meine ich. Unsere finanzielle Lage war sehr schlecht. Deine Mutter und ich, wir haben uns häufig gestritten... Wir hatten kaum genug Geld, um uns selbst über Wasser zu halten, aber dann noch ein Kind zu ernähren... Wir hatten oft Streit und wir haben uns oft schlimme Sachen gesagt. Ich habe sie manchmal schlimm angeschrien und es tat mir Leid, aber... Das war damals einfach nicht leicht, wir hatten kaum noch Kraft. Und dann kamst du und nach Deiner Geburt sollte eigentlich alles besser werden. Deine Mutter hat sich so sehr auf dich gefreut, aber als sie damals gestorben ist, da war ich plötzlich ganz allein.
Nachdem ich beim Arzt war, hat die Krankenschwester dich wieder zurückgebracht und... und dann hast du das erste Mal die Augen aufgemacht und...“ Er atmete schwer und schluckte erneut, bevor er fortfahren konnte. „Deine Augen waren so grün wie Smaragde. Sie sahen ganz genau so aus, wie die deiner Mutter. Dieses grüne Funkeln war so hell und es tat weh. Jedes Mal, wenn ich es gesehen habe, wurde ich an deine Mutter erinnert. Und zugleich habe ich dich so sehr geliebt, weil du das letzte warst, was mir von deiner Mutter geblieben ist.“

Thomas war sprachlos. So hatte er seinen Vater noch nie wahrgenommen und er war wütend, dass er sich nun so verhielt. Er war sein Leben lang niemals für seinen Sohn da gewesen und nun sollte diese traurige Geschichte alles entschuldigen?
Sollte das die Entschuldigung sein? Für fünfzehn lange Jahre im Internat? Für den sporadischen Kontakt und die jährlichen Geburtstagsgrüße? Nein, egal was vorgefallen war, sein Vater hatte ihn sein Leben lang auf Distanz gehalten. Er hatte kein Recht dazu und er hatte auch kein Recht, ihm die Wut nun durch solch eine Geschichte wieder zu entreißen.
„Es ist sehr traurig, Vater.“ brachte Thomas hervor. Ich habe trotzdem ein Recht auf meine Wut, also mach sie mir nicht streitig! brachte er nicht hervor.

„Ich kann mich noch gut an die erste Zeit erinnern, als wir ganz auf uns gestellt waren.“ fuhr sein Vater fort und musste plötzlich ein wenig lachen. „Deine Ausdauer beim Schreien hast du nicht wirklich abgelegt. Du hast mich nächtelang wach gehalten. Am schlimmsten war es als du vier Monate alt warst. Es war ein sehr kalter Januar und dein Asthma hat dir damals schwer zu schaffen gemacht. Die Ärzte haben mir geraten, dass ich dich gut einpacken sollte und mit dir in der kalten Luft spazieren gehen sollte. Das habe ich gemacht. Fast den gesamten Januar hindurch jede Nacht. Wir sind immer durch den Feldweg gegangen, am Bach entlang. Du lagst in meinen Armen und deine Atmung wurde in der Kälte immer gleich viel ruhiger. Jede Nacht habe ich dir gesagt, dass es unsere letzte Reise wäre. Du hast immer gelächelt, als würdest du mich verstehen. Und so haben wir ab Mitte des Monats jede Nacht eine Reise gemacht. Jede Nacht habe ich gehofft, dass es unsere letzte nächtliche Reise war, doch es dauerte bis Anfang Februar, bevor du wieder durchgängig im Zimmer schlafen konntest. Ich weiß es noch ganz genau, wir haben 18 letzte Reisen unternommen.“ Sein Vater musste nun stärker lachen und fing plötzlich an zu husten. Seine Stimme und sein Gesicht wurden entspannt und er schaute gedankenverloren an die Decke. „Achtzehn letzte Reisen...“
Sein entspannter Gesichtsausdruck verschwand langsam und als käme er wieder aus der Vergangenheit zurück schlich sich ein ernster Ausdruck auf sein Gesicht. Er blickte seinen Sohn langsam an und Thomas dachte für einen Moment, er hätte Tränen in den Augen seines Vaters gesehen.
„Es tut mir Leid.“
Vier kleine Worte. Es waren seine letzten. Sie waren so ungewöhnlich, wie entwaffnend. Ein breites, schweres Netz schien sich über die beiden zu spannen. Die Zeit verstrich, während Thomas seinen Vater ohnmächtig anstarrte. Unfähig zu sprechen, unfähig sich zu bewegen. Er schaute einfach zu, wie er langsam einschlief.

 

Hallo Seelenschmied,


willkommen auf kurzgeschichten.de !
Ich hoffe, du wirst dich hier wohl fühlen, auch, wenn es hier manchmal härter zur Sache geht.

Dein Einstand überzeugt mich nicht, dennoch ist deine Geschichte nicht so hoffnungslos, dass es nicht lohnte, sich mit ihr zu beschäftigen.

Es gibt mehrere Punkte, die mich gestört haben.
Zum einen ist dein Schreibstil an einigen Stellen zu sehr bemüht. Das wirkt dann steif und unlebendig.
Ich knöpf mir einfach mal den 1. Satz vor:

Thomas ging durch den alten Flur, den er schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Drei Jahre war es her, seit er zuletzt diesen Weg beschritten hatte. Seitdem war er seinem Vater nicht mehr gegenüber getreten.

Ein alter Flur, was genau ist das? Blättert die firne Lackfarbe von den Wänden, bröckelt der Putz an gerissenen Stellen, knarren die Holzdielen, ist das Linoleum stumpfgescheuert, der Teppichbelag abgewetzt? Alt ist ein Oberbegriff, der in den meisten Fällen nichts an Aussagekraft hat. Nimm dir vor, solche Begriff mit Leben zu füllen, indem du sie anders darstellst.

Manchmal denke ich, dass die sog. "Warum-Fragen" der Kinder ganz hilfreich sein könnten, weil sie darstellen, was wir alles versäumen, jemandem mitzuteilen. Ich meine damit nicht, dass wir das so ausführlich tun sollen, wie im Kindergespräch, aber als Anhaltspunkt dafür, dass man nicht alles offen lassen sollte. Der Flur war also alt. Warum war er alt? Weil die Farbe von den Wänden splitterte. Warum tat sie das? Weil sie rissig geworden ist. Warum wurde sie rissig, weil Farbe mit der Zeit austrocknet.

Drei Jahre war es her, seit er zuletzt diesen Weg beschritten hatte. Seitdem war er seinem Vater nicht mehr gegenüber getreten.

Der 1. Satz enthält eine Information, die für die Geschichte wichtig ist. Aber ist es nicht insich von alleine logisch, dass dein Protagonist seinen Vater nicht mehr gegenüber getreten konnte, wenn er drei Jahre den Weg nicht beschritten hat?
Der Leser ist aufmerksam genug, das schon mit dem 1. Satz zu verstehen. Der 2. Satz könnte bereits langweilen, weil er überflüssig ist.

Überprüfe deine Geschichte auf Überflüssiges. Alles, was die Geschichte nicht voran bringt, kann raus, es sei denn, es ist wichtig, um eine besondere Stimmung zu erzielen.

Was mir noch auffällt ist, dass du teils unpräzise beschreibst:

Thomas schritt auf die alte, dunkelbraune Tür zu, die zwischen ihm und seinem Vater stand.
Ja, räumlich betrachtet, steht diese Tür zwischen den beiden Menschen. Aber eine Tür ist keine Mauer, sie lässt sich öffnen.

Wie wäre es mit : Thomas schritt auf die dunkle Tür zu, die wie eine Mauer zwischen ihm und seinem Vater stand.

Jede Nacht habe ich dir gesagt, dass es unsere letzte Reise wäre.

An dieser Stelle habe ich gestutzt, denn ich verstand nicht, was der Vater mit Reise meinte. Das habe ich auch bis zum Ende der Geschichte nicht kapiert. Er ging doch nur mit seinem Sohn bei kalter Luft spazieren, um dem Kind zu helfen.

Ich hatte den Eindruck, dass hier noch etwas Erklärendes hingehört.

Und erst recht habe ich mich gewundert, was diese Episode sollte. Der Vater wird gewusst haben, dass dem Sohn brennend interessiert hätte, weshalb er sich so furchtbar von ihm zurück gezogen hatte, wieso er so grausam auf Distanz gegangen war.

Wenn der Sohn das beste Ereignis in seinem Leben war, wieso hat er dann nicht diesen Zustand zusammen mit seinem Sohn genossen.
Du wirfst wunderbar diese Fragen auf. Man fiebert mit dem Sohn auf die Antworten und wird am Ende deiner Geschichte mit fehlenden Antworten nach Hause geschickt.

Meiner Meinung nach fehlt also noch etwas mehr Erzählendes in dieser Geschichte. Sie wirkt lückenhaft.

Vielleicht gelingt es dir, mit ein wenig Abstand und wenn vielleicht noch andere hierzu ihren Kommentar abgegeben haben, diese Geschichte zu überarbeiten und zu vollenden.

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Lakita,
erstmal vielen Dank für die netten Worte zur Begrüßung. Außerdem möchte ich mich für die Kritik bedanken. Ich möchte zunächst noch anderen die Chance geben, Kritik auszuüben, doch die Geschichte wird auf jeden Fall nochmal überarbeitet.
Offensichtlich ist es mir nicht gelungen, die Gefühlswelten der Figuren transparent zu machen. Da muss ich dann eventuell nochmal ran, die Andeutungen etwas ausbauen und die Lücken füllen.

Liebe Grüße,
Seelenschmied

 

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