Die letzte Schlacht
Die letzte Schlacht
Wie sind wir hierher geraten? Ich weiß es nicht. Ich wünschte, das Leben wäre wie ein Film, den man sich immer wieder ansehen kann, wenn nötig auch in Zeitlupe. Aber rückblickend gesehen, habe ich nur einzelne Bilder vor meinen Augen, wie Schnappschüsse eines unbekannten Fotografen.
Ich sehe Momente die zu unserer jetzigen Situation beigetragen haben mögen, Fehler die gemacht und jetzt bereut werden könnten, Gespräche die geführt wurden, obwohl es an der Zeit für Taten gewesen wäre und Gespräche, die nötig waren, aber nie stattfanden. Aber selbst wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, wüßte ich nicht genau, was ich anders gemacht hätte und ob ich nicht letztendlich immer wieder an dem Punkt ankommen würde, an dem ich mich jetzt befinde. Ich kann mein Leben nicht noch einmal leben oder das anderer. Bleibt also nur die Frage, wie entscheide ich mich jetzt? Mache ich weiter und gehe den Weg, den ich mir selbst ausgesucht habe bis zum Tod oder Sieg oder ergebe ich mich und beginne ein verantwortungsbewußtes Leben?
Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich im Auto sitzend vor der Deutschen Bank warte. Noch kann ich aussteigen, weggehen ohne mich umzusehen. Oder aber ich bleibe sitzen und tue das, was von mir erwartet wird. Mir ist bewußt, daß die Minuten unwiderruflich verrinnen, während ich nachdenke. Draußen ist alles ruhig. Eine Frau geht mit ihrem Kind spazieren. Ein Junge trägt die Zeitung aus. Niemand ist sich meines Zwiespaltes bewußt.
Ich erinnere mich noch gut, wie das war, ein Kind zu sein.
Zu jung, um sein Leben mit Worten wie unschuldig oder sorglos zu charakterisieren, doch alt genug, um sich nach mehr Freiheit zu sehnen. Zu unerfahren, um sein Kindsein bewußt zu genießen. Und immer der Wunsch endlich `groß` zu sein. Die Realität warf nur lichte Schatten auf unser Dasein. Es war, als wäre jeder Tag der Beginn eines neuen Lebens. Es gab kein Gestern und kein Morgen, nur der Moment des Augenblicks. Und die vielen kleinen Dinge über die man sich freuen konnte und über die man heute gutmütig lächelt. Der Zauber von Weihnachten. Der Trost, die Fürsorge und die Geborgenheit.....
Aber wahrscheinlich sehe ich das heute alles in einem verklärten Licht, denn man hat auch viel gelitten in dieser Zeit. Vermutlich sogar mehr als heute, weil damals schon ein kleines Unglück soviel wog wie heute ein großes. Ein verlorener Schlüssel, eine miese Mathearbeit oder ein Streit unter Freunden waren genauso schmerzhaft, wie die Leere, die mich nun, da ich `groß` bin, scheinbar auffrißt. Wahrscheinlich erlebt auch jedes Kind sehr früh in seinem Leben eine Situation, in der es mehr spürt als weiß, daß das Leben mehr ist als ein Spiel, daß es gefährlich, grausam und unfair ist. Und wenn es diese Lektion vollständig begriffen hat, hört es auf ein Kind zu sein und blickt wehmütig zurück, obwohl es doch jetzt das erreicht hat, was es immer wollte. Aber so ist es. Man lebt in einem Zustand und möchte nur weiter voran, sich entwickeln, vorwärts kommen. Dann ereignet sich etwas in unserem Leben und als hätte man eine unsichtbare Grenze überschritten, erkennt man, daß man kein Kind mehr ist. Und wehmütig dreht man sich um und will an den Ort zurück, den man die ganze Zeit bestrebt war, zu verlassen. Das ist der Tag, an dem in das unbeschwerte Land der Kindheit der Ritter namens Verantwortung Einzug hält, die Unschuld und Sorglosigkeit verbannt und Jagd auf jeden macht, der sich ihm zu widersetzen versucht.
Ich hatte den Kampf gegen ihn aufgenommen. Ich weigerte mich, die Grenze zu überschreiten und mich vertreiben zu lassen. Und ich bildete mir eine lange Zeit ein, daß ich auch tatsächlich eine Chance gegen ihn haben könnte. Es lief doch alles gut und ich war auch nicht allein. Ich hatte eine Armee um mich geschart.
Doch in letzter Zeit schien diese immer mehr auseinanderzubrechen. Ganze Garnisonen desertierten oder gerieten in Gefangenschaft und mittlerweile begann ich an der Richtigkeit meiner Ziele zu zweifeln. Das mochte daran liegen, daß der Ritter zwei entscheidende Verbündete an seiner Seite hatte: Die Zeit und die Konsequenz.
Um so älter ich wurde, um so schneller verging die Zeit. Tage wurden zu Stunden und Stunden zu Minuten und um so stärker wurde der Ritter. Er wußte, daß er früher oder später siegen würde. Er war geduldig. Er war schon immer da und würde immer da sein, egal wer oder wieviele gegen ihn kämpften, solange bis die Menscheit sich selbst aufgeben oder zerstören würde. Ich hingegen konnte nichts dagegen tun, daß sich Angst und ein schlechtes Gewissen in meine Gedanken drängten. Mittlerweile mußte ich mich zu Dingen zwingen, die ich früher ohne das geringste Zögern getan hatte. Fragen, was aus mir werden und wie alles weitergehen würde, bedrängten mich immer häufiger und ich wußte, daß die anderen langsam spürten, daß ich nicht mehr so wie früher bei der Sache war.
Vermutlich werden sie mich bald stürzen und einen neuen Befehlshaber ernennen, der ihre Interessen aufrichtig und loyal vertritt. Also warum warte ich noch bis es soweit ist, anstatt ihnen zuvorzukommen und ihnen ihre Entscheidung abzunehmen?
Zu spät. Ich sehe wie sie aus der Bank heraus und auf das Auto zugerannt kommen und für den Bruchteil einer Sekunde bin ich mir hundertprozentig sicher: Das war das letzte Mal. Ich werde mich dem Ritter ergeben wie so viele vor mir und ein verantwortungsbewußtes Leben beginnen.
Ich starte den Motor und kaum das die Türen zugeschlagen werden, sind wir schon in Bewegung und entfernen uns von dem Ort meiner letzten Schlacht. Als wir um die nächste Ecke biegen, erwarten uns unzählige Polizisten mit gezogenen Waffen. Schleudernd und mit quietschenden Bremsen bringe ich uns zum stehen und muß erkennen, daß der Ritter meine Kapitulation offenbar ignoriert hat. Ich habe wohl zu lange gewartet und muß nun die Konsequenz meines Zögerns ertragen. Und plötzlich fühle ich mich gar nicht so alt. Ich sehe, wie der Ritter mir überlegen lächelnd entgegentritt und mir wird klar, daß seine Verbündeten mir nun nicht mehr auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen, sondern daß sie für den Rest meines Lebens meine Wächter sein werden, die mich mein Handeln nicht vergessen lassen. Man kann sich ihm nicht entziehen. Letztendlich gewinnt er immer.