Die Letzte Welle, Unvergessen
Er lächelte sie an und fasste ihre Hand. „Komm“, lispelte er, „Ich muss bald los.“
Mit einem traurigen Blick erwiderte sie sein Lächeln und drückte seine Hand sanft. Die unbestimmte Gewissheit schwebte zwischen ihnen und der Wind warf sie spielerisch wie eine Feder durch die Luft, und auch, wenn sie nicht davon sprachen, so wussten sie es doch beide.
Es war ihr letzter Spaziergang.
Vorsichtig setzte er durch das hohe Gras einen Schritt nach dem anderen, den Blick die ganze Zeit wortlos auf seine in der feuchten Erde halb versinkenden Füße geheftet. Sie schwebte ihm in zarten, lautlosen Schritten langsam hinterher, wobei ihre glänzenden Augen, beschattet von der schmalen Stirn, auf der sich eine schwermütigen Furche gebildet hatte, über die weithin einsehbare Landschaft schweiften. Zur Linken erstreckte sich ein kleiner Laubwald, der später zu einem gigantischen Nadelwald bis an den Rand des Gebirges ausuferte, gewaltige vulkanöse Berge, deren kantige, weiße Spitzen von dickbäuchigen Wolken zu erklimmen versucht wurden; zur Rechten eröffnete sich dem Blick eine endlos anmutende, grüne, bisweilen fast ins Goldene vergilbte Graslandschaft mit vielen kleinen, sanft auslaufenden Hügeln und Tälern, hin und wieder durch ein paar Pflaumenbäume oder Büsche unterbrochen, von mannigfaltigen Wiesenblumen geschmückt.
Man glaubte, den Horizont zu sehen, soweit reichte die flache Landschaft, durch die sich wie zur Vollendung der ohnehin schon paradiesischen Natur ein klares, schmales Flüsschen, vielmehr ein Bach in vielen Kurven und Rundungen, erquickenden Geräuschen, gleichsam einem Magnet von Insekten und Vögeln schlängelte, sich letztendlich, unweit von ihrem Standpunkt aus nicht einmal mehr als Wasserfall, als kleines Rinnsal über die schwarzen Felsen unvernommen plätschernd, in das riesige, rauschende Meer ergoss. Genau auf dieses gingen die beiden zaghaften Gestalten, in unsinnigen Umwegen, als seien sie unwillig, ihr Ziel zu erreichen, zu.
Sie war plötzlich stehen geblieben. „Mir fällt das ja auch nicht so leicht.“, murmelte er sanftmütig und sah in ihre schwarzen Augen.
Sie setzten ihren Weg fort. Die gerade noch dichten Gräser dezimierten sich immer mehr, bis sie auf beinahe trockener, brauner Erde gingen.
Nach einigen Minuten des stillen Daherwanderns und Schweigens, erblickten sie unweit die dunklen Klippen, die den Blick auf das endlose Meer freigaben. Noch immer wortlos traten sie heran. Ihre Hände waren fest umschlossen. Ein böiger Wind frischte auf und trug den Geschmack von Salz und Seetang bis zu ihnen hinauf. Als sie den Rand der Klippe erreicht hatten, trat er heran und sah die schroffe Felswand hinab. Die Klippe war so hoch, dass er im Dämmerlicht die weißen Schaumspitzen der peitschenden Gischt und die dem Wind und dem Rauschen zufolge riesenhaften Wogen in der sich unter ihm offenbarenden Tiefe nur erahnen konnte. „Komm wieder her“, sagte sie leise, „Geh nicht so nah an die Klippe heran!“ Sie hatte sich den sicheren Abstand von etwa zehn Schritten zur Klippe bewahrt und der mehr und mehr zunehmende Wind riss an ihrer zarten Gestalt. Als er sich zu ihr umsah und ihr in das vom dunklen Haar umwehte, blasse Gesicht blickte, fürchtete er einen rasenden Herzschlag, dass der reißende Wind sie mit sich nehmen könnte, sie wie ein leichtes, weißes Tuch mit sich tragen würde; und sein Herz füllte sich mit saurem Schmerz, quoll doch über vor Liebe. Von dieser Wonne seines Gefühls erfasst, ging er rasch zu ihr. „Frierst du?“, waren die ersten, ungeplanten Worte, die ihm die hingebungsvolle Sorge von den bebenden Lippen klaubte. Er kannte ihren ausweichenden Blick und gewann seine Facon wieder. „Sieh dir das Meer an!“ Eindringlich suchte er ihre Seele anzuhalten, versenkte seinen vor Erregung zitternden Blick in ihren Augen. „Bitte! Dieses eine letzte Mal!“, flehte er und wie so oft ergriff seine warme Hand ihre Kalte. „Ich fürchte das Meer“, antwortete sie knapp, sah wieder zu Boden. „Ich weiß, ich weiß doch!“, stöhnte er. „Doch wie kannst du fürchten, was du niemals gesehen hast! Wie kannst du fürchten, was ich so sehr liebe! Oder fürchtest du es gerade deswegen?“ Der Wind flaute plötzlich für eine Sekunde ab. „Du fürchtest dich doch auch nicht, oder?“, fügte er in sanfterem Ton hinzu. „Manchmal schon.“, flüsterte sie, und sprach in so leisem Ton, als forme sie die Worte nur, kaum vernehmlich, aber er hörte ihre Stimme.
„Ich fürchte die Sehnsucht.“
Er lächelte. Vorsichtig zog er an ihrer Hand, und führte sie unendlich langsam, Schritt für Schritt, an den Rand der Klippe hinan. Als sie über diese hinweg das Meer endlich gewahrten, spürte er ihre Hand fest um seine krampfen. Ihre Andere tastete auch nach der seinen und so hielt sie die seine mit ihren beiden fest umschlossen.
„Öffne deine Augen ruhig.“, raunte er. „Vertrau mir.“ Und sie öffnete ihre Augen, ganz, ganz langsam. Nur so weit, dass sie durch einen winzigen Spalt blinzeln konnte. Unsicher sah sie ihn an. Dann warf sie, beinah ohne es zu wollen, einen Blick hinab. Unter und vor ihr offenbarte sich eine schier endlose, sich unaufhörlich bewegende, dunkle Masse, bis hin zum Horizont. Und sie sah die Möwen, wie sie vor der Klippe kreisten und kreischten, roch den salzigen Duft, sog ihn tief in ihre Lungen; und ihr Auge reichte bis in die Ewigkeit, ins Endlose, und auch dort schien das Meer noch nicht aufzuhören; der Himmel hatte über dem Horizont eine warme, sanft zwiaschen rosa und orange schwankende, fließende Farbe angenommen und der letzte, winzige rote Zipfel der Sonne, umarmt von einem schmalen, gleichsam rot angestrahlten Wolkenstreifen, verabschiedete hinter dem Horizont den einschlummernden Rest der Welt. Der frische Meereswind wehte ihr entgegen; es kostete ihr Mühe den Blick von dem alltäglich stattfindenden, und doch außergewöhnlich amutenden Spektakel zu lösen, und sie sah in seine Augen. „Fürchtest du die Sehnsucht immer noch?“, flüstere er lächelnd und strich ihr vorsichtig eine Träne aus dem Augenwinkel, behutsam, wie eine Mutter, die ihr Neugeborenes küsst. Sie warf ihm sein Lächeln mit einer Unendlichkeit an Güte zurück und entgegnete „Ich habe sie noch nie so sehr wie gerade gefürchtet.“ Sein Lächeln wurde zu einem seichten Lachen und er fragte „Wirst du dir das jetzt öfter anschauen?“ „Ja.“, sagte sie einfach. „Das ist gut. Dann wirst du vielleicht auch nochmal an mich denken.“ Sie antwortete nicht, sondern wendete ihren Blick ein letztes Mal zum Meer hin. „Verzeih mir... Ich kenne die Regungen deines Herzens, du kennst meine, und um jene Wallungen zu beruhigen, sehnt es mich einzig, die Gewissheit zu fühlen, dass du mich nicht gänzlich vergisst, wenn ich jetzt gehe.“ Wieder antwortete sie nur in einem schweren Lächeln. Stumm traten beide den Rückweg an.
Die Luft war geschwängert vom Duft der Kräuter, vom Geschwirr der abendlichen Insekten und dem Gezirp der Grillen. Nach einiger Zeit, inzwischen standen bereits erste Sterne am Himmel, erreichten sie den Weg, die Gabelung, und der Abschied war nah. Noch immer schwebte dieser als Endgültiger zwischen ihnen in der Luft und schien jene auf unangenehme Art zu beschweren. Lange und wortlos sahen sie einander an, bis sie leise sagte. „Deine Augen sind wie das Meer.“ „Doch brauchst du sie nicht zu fürchten.“ Sie umarmte ihn. Er atmete ein letztes Mal ihren Duft, hielt ein letztes Mal ihre Hand. Sie strich ihm unvorhergesehen und zärtlich ein letztes Mal, ein erstes Mal, über die farblose, drängende Wange. Wischte ihm liebevoll die Tränen von den Lippen und den Augen. Ihre Hände fanden sich dann wieder. Zum letzten Mal fanden sich ihre Hände wieder. In derselben Sekunde taten beide einen kleinen Schritt rückwärts, was sie lächeln, erschauern ließ.
Die Vögel sangen gerade ihr Abendlied, eine Heuschrecke sprang über die gewaltige Strecke von sechs Schritten, drei Schmetterlinge schlüpften, eine Möwe legte ein Ei, ein verletzter Wolf starb im Wald und eine hünenhafte Woge klatschte gegen die dunkle Felswand und die schäumende Gischt spritzte eine Möwe nass, als sich ihre Hände zum letzten Mal berührten, zum letzten Mal berührten.
Er trat noch einige Schritte rückwärts, ehe er sich von ihr abwendete.
„Ich werde dich schon nicht vergessen.“, sagte sie, und ihre Stimme war fast nicht leise, doch er, der sich gerade noch ein letztes Mal, mit einem lächelnden Blick und Augen so salzig und so blau wie das Meer zu ihr umdrehte und winkte, hörte dies schon nicht mehr. Tropfen, die nach Meer schmeckten, rannen ihr zahlreich über die Wangen.
Sie besuchte die Klippe danach nie wieder.