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Die Litanei des Satans
„Scheiße, sie kriegen mich.“
Sie taumelte gegen den Laternenpfeiler. Ihre Beine gaben unter ihr nach. Sie konnte nicht mehr. Sie rang nach Atem. Ihr Magen krampfte sich zusammen.
Keuchend schleppte sie sich zur Haltestelle. Ein zerfledderter Döner lag auf dem Plastiksitz.
Neben der Haltestelle stand ein Halbwüchsiger, der interessiert ihren Körper musterte, ihr verschwitztes, schmutziges Hemd, die sich darunter abzeichnenden kleinen Brüste, ihre aufgekratzten Arme, ihre zerschlissenen Schuhe. Angewidert wandte er sich ab, als sie sich übergab.
Ein Bus kam und er stieg erleichtert ein. Sonst war niemand mehr in der dunklen Straße.
„Du musst von der Haltestelle weg, du musst weiter, du darfst nicht hier bleiben. Sie müssen hier irgendwo sein,“ flüsterte sie sich zu.
Da sah sie das Haus. Ihr Atem stockte. Es war das Haus aus ihren Träumen, in dem sie sich immer versteckt hatte.
„Dann ist alles wahr,“ dachte sie euphorisch. „Ich bin gerettet: der Zufluchtsort des Bösen!“
Das Haus wirkte auf sie wie der Eingang zu einem tiefen schwarzen Wald. Seine vier Geschosse waren finster, ein Erker sprang in seiner Mitte nach vorne und zog sich bis zum obersten Stockwerk. Die Fenster unter dem Dach wurden vom hellen Mond beschienen und schauten sie an. Alle übrigen Fenster des Hauses waren mit Brettern vernagelt.
Sie lächelte, als sie mit zitternden Knien endlich vor der großen Tür stand. Das Klingelschild war grün verwittert. Die Klinke hatte die Form einer verhutzelten Alten, die blind ins Leere grinste.
Jenseits der Tür hörte sie ein Flattern von Flügeln und ein lautes Rascheln. Es schien, als sprängen Tiere umher. Jemand stapfte schnell eine knarrende Treppe empor.
Die Tür war nicht verschlossen. Ein kalter Windhauch begrüßte sie, als sie eintrat. Der Flur jedoch war dunkel und leer.
Sie tastete sich ein paar Schritte an der kalten, nassen Wand entlang und blieb in der tiefen Finsternis stehen. Es roch nach Schimmel.
Plötzlich eine Bewegung. Etwas strich ihre nackten Beine.
Sie spürte ein Kitzeln im Nacken.
„Endlich bist du gekommen,“ flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr.
Ein schwaches Licht, wie von einer Kerze, leuchtete dicht neben ihr auf und fiel auf eine ausgemergelte Gestalt:
es war ein bleicher Junge, wohl kaum älter als vierzehn. Seine fiebrigen Augen lagen tief in den Höhlen, eine scharfe Hakennase durchschnitt sein hageres Gesicht, die Knochen zeichneten sich deutlich ab. Seine gesamte Haltung war merkwürdig verkrampft, als würde es ihm Schwierigkeiten machen, aufrecht zu stehen.
„Es ist die Nacht der Nächte. Wie damals: Zwei Pferde sollen sich aufgefressen haben. Auf den Friedhöfen haben sich die Gräber geöffnet und überall liegen die Gebeine der Toten. Am Mittagshimmel sind vier Sonnen gesehen worden. Der Schwarze wird kommen.“
Seine Stimme glich zwei Mühlsteinen, die mühsam etwas zermahlten. Oder dem Krächzen eines Vogels, dachte sie.
Er lächelte ihr zu und sie erschrak - er hatte keine Zähne.
„Wie ist es dir ergangen in der langen Zeit, in der wir getrennt waren?“
Verständnislos starrte sie ihn an.
„Warum schweigst du, Margarete? Oder wie heißt du jetzt, in diesem Leben?“
Er musterte ihre Arme. Trotz der Dunkelheit konnte er jeden einzelnen Einstich sehen, das wusste sie genau und schämte sich.
Er stöhnte auf.
„Sie haben dich also vollgestopft mit ihren Drogen! Oh, du verdammte Hure! Immer schon warst du die Schwächste von uns, wir hätten dich verstoßen sollen. Wir hätten dich in den schwarzen Fluss werfen sollen. Damals, als du in jener Walpurgisnacht an ihn geraten bist, an den ruchlosen Verräter! Was für eine Schande!“
Er spuckte aus. Er ballte seine Faust und schlug ihr ins Gesicht. Sie stürzte, fing sich jedoch schnell wieder - Schläge war sie gewohnt. Ihr alter Instinkt erwachte. Schnell weg, nur schnell weg. Doch die Tür hinter ihr war verschwunden. Verzweifelt presste sie sich an die Mauer, als er sie von hinten packte, als seine Pranken sich in ihren Haaren verkrallten und er sie zu sich zog.
„Was meint ihr, was sollen wir mit ihr machen? Wir haben keine Zeit mehr - heute muss es geschehen, heute ist die Nacht der Nächte. Wir können nicht weitere hundert Jahre warten.“
Sein Kopf bewegte sich unnatürlich ruckhaft im Kreis, seine Eulenaugen schienen etwas in der Dunkelheit zu fixieren.
„Sind denn noch andere hier?“ flüsterte sie leise.
„Siehst du sie denn nicht?“ Er beugte seinen Kopf zu ihr herunter und legte seine Hände auf ihre Schläfen.
„Was haben sie dir nur angetan, Kleine,“ sprach er auf einmal überaus sanft. „Sie haben dich in eine ihrer Anstalten gesteckt, stimmst? Dir Pillen gegeben, damit die Träume nicht zu dir sprechen können. Sie wollten dich aus diesem Körper vertreiben, bevor du dich erinnerst.“
Ihr wurde es schwindelig. Da bemerkte sie, dass seine Augen gelb leuchteten, nur ganz leicht, aber genauso, wie sie es manchmal im Spiegel an sich selbst ausmachen konnte.
Ihre Angst schwand, als trügen leichte Wogen sie davon. Eine unbekannte Macht übernahm die Kontrolle.
„Woher weißt du das? Woher weißt du von meinen Träumen?“
„Bei mir fingen sie in meinem siebten Lebensjahr an. Ich musste diesen Körper fast zerstören, bevor ich ihnen folgen konnte. Einst waren wir Liebende, damals, in jenem fernen Land, in jener fernen Zeit. Die Fegefeuer brannten, die Inquisitoren zogen durchs Land. Es war eine gute Zeit, wir hatten nichts zu befürchten. Viele, viele kamen, um mit dem Schwarzen zu buhlen. Du warst eine von ihnen. Auf den grünen Hügeln lernten wir uns kennen. Erinnerst du dich an die Hufschläge des unsichtbaren Pferdes und seinen Reiter? Erinnerst du dich an den Reigen der Toten? Erinnerst du dich an den großen gelben Mond?“
Er strich über ihre Augen und sie sah. Dort tanzte sie unter duftenden Fliederbäumen, im nassen Gras. Viele Menschen flogen im Kreise durch die Lüfte, die von Lachen erfüllt waren. Und sie erinnerte sich an den jungen Burschen, den jungen Hexenmeister, der sie hochhob in den Himmel, an dem sie wie zwei Vögel Seite an Seite über die großen glitzernden Seen, über die tiefen, grünen Wälder und über die schlafenden Dörfer mit ihren roten Giebeldächern gezogen waren. Ein roter Hirsch spielte auf einer blauen Geige zum Tanz, Maikäfer zupften den Kontrabass, grüne Fische entstiegen den Flüssen, während sie sich in den goldenen Feldern liebten.
Aber sie erinnerte sich auch an ihre Mutter, die verbrannt wurde. An die Pesttoten. An die düsteren Bußprozessionen. An düstere Verliese.
„Alle hundert Jahre, wenn die Sterne günstig stehen, versammeln sich die sieben Gemeinden an geheimen Orten, um ihn zu beschwören. Wir erhalten unsere Unsterblichkeit. Zwar altern und sterben wir wie andere Menschen, doch wenn wir sterben, gehen unsere Seelen auf Neugeborene über. Träume erwecken unsere Seelen in den neuen Körpern zum Leben, Träume erzählen uns unsere Vergangenheit. Die Träume müssen die Herrschaft über unser Denken gewinnen, damit wir zurückkehren können aus dem Reich der Toten.
Man hat dir die Phantasie geraubt. Die Boten unseres achso barmherzigen Widersachers gaben dir Drogen, haben dich gefügig gemacht.“
Sie nickte: „Man hat mich immer geschlagen, in der Schule, überall. Und nur, weil ich eine von seinen Auserwählten bin? Als die Träume anfingen, ich weiß nicht mehr, wann es war, hat ein großer Mann mich eingesperrt. Er kam von der Schule und sprach mit meiner Mutter. Ich sollte weg von ihr. Ich sollte in eine Klinik. Man gab mir Medikamente dort. Die Träume verschwanden vorerst. Doch dann, in den letzten Wochen, kamen sie wieder: ich, in einem Zimmer. Von draußen schauen riesige Pfauen herein, mit gefährlichen Klingen als Schnäbel. Überall Blut, zerhackte Menschen. Und immer wieder tausende Stimmen, die durcheinander sprechen. Plötzlich ein großer Rabe, der zu mir kommt und mich wegträgt. Hin, zu diesem Haus...
Ich bin geflohen aus der Klinik. Den ganzen Tag durch die Stadt gerannt. Überall waren ihre Handlanger, die mich verfolgten. Der letzte war hier, vor dem Haus. Als dummer Junge getarnt, der mich anstarrte. Aber er konnte keine Hand an mich legen, ich stand schon unter dem Schutz des Hauses.“
Sie schluchzte. In seinen Augen blitzte es auf.
„So denn, sind wir alle vollzählig.“
Er begann laut zu beten:
„O Cherub, weisester, schönster von Gottes Söhnen,
Gestürzt, selbst noch ein Gott, dem keine Psalmen tönen,
Satan, erbarm dich mein in meiner tiefen Not!
Du, der du alles weisst, Herrscher in dunkeln Tiefen,
Helfer der Menschen, die in bittrer Angst dich riefen,
Satan, erbarm dich mein in meiner tiefen Not!“
Lange sprach er, viele, wunderliche Verse, in unterschiedlichen Sprachen. Dann spürte sie die Gegenwart von etwas, das nicht sein durfte. Sie hörte Fanfarenstöße aus der Ferne. Und dumpfe Hufschläge, die näher kamen. Rasend schnell näher kamen.
„Sprich deine Worte!“ fuhr er sie an. Doch sie verstand nicht. Sie starrte ihn entsetzt an. Angst übermannte sie. War das Feuer, das in seinen Augen loderte?
„Siehst du immer noch nichts? Bist du schon so verdorben von ihrer Welt? Du nichtsnutziges Aas, du Schande für die Gemeinde! Du kannst nicht mit diesen Augen sehen, du musst mit deinem Inneren sehen!“
Bei diesen Worten führte er ein kleines Messerchen an ihre Augen. Eine schreckliche Kraft hielt sie umschlungen, sie konnte sich nicht wehren. Er ritzte mit dem Messer langsam und tief ein umgedrehtes Kreuz in jedes ihrer Augäpfel.
„Wir werden dich sehend machen, wie all die lange Zeit schon!“
Er nahm eine Spritze und stach die Nadel in ihren Hals.
Am nächsten Morgen wurde ein junges Mädchen auf dem Grundstück eines alten Schrottplatzes tot aufgefunden.
(Auszug aus dem Gedicht: "Die Litanei des Satans" von Charles Baudelaire)