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Die Märchenerzählerin

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31.08.2008
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Die Märchenerzählerin

Die Märchenerzählerin

Der Weg führte zu einer Allee aus Orangenbäumen, Ritter und Bedienstete verweilten hier, auf dem Schlossplatz geschäftiges Treiben, zum Portal des Schlosses führte eine Treppe aus feinem Achat und mit Gold verzierten Geländern. Doch die Bäume trugen keine Früchte, und die Menschen wirkten trüb, ihre Augen leer. Im Schloss lebte eine schöne Prinzessin, die hieß Bella, sie lebte mit ihrem Prinzen in den vielen Zimmern, hellen und dunklen, bunten und trüben, Zimmern zum Verweilen, für die Konversation bei einer Tasse Tee, zum Arbeiten mit der Bibliothek. Manchmal ritten der Prinz und die Prinzessin aus, um sich dem Volk zu zeigen und zu schauen, wie es den Menschen ergehe, und fanden, dass alles recht sei und sie dem König nur Gutes zu berichten wussten. Die änderte nichts daran, dass sie und ihr Gesinde offenbar unglücklich waren. Das Paar hätte sich gern Kinder gewünscht, doch die waren ausgeblieben. Als sie das letzte Mal diesen Wunsch im Gespräch anklingen ließen, wurde ihnen bewusst, wie seit ihrer Vermählung die Zeit verronnen war.

Eines Morgens verweigerte der Prinz aufzustehen und den Tag zu begrüßen, und sagte zu Bella:

„Ich täte schon gern den Tag beginnen, aber es fehlt mir die Kraft, mir ist, als liege ein böser Schleier über unserem Leben, unserem Gesinde und den Menschen im Land, als seien wir alle vom Leben abgeschnitten wie Blumen in einer Vase, und ich weiß keine andere Lösung, als dass du selbst dich auf die Reise begibst zu erkunden, worin das Übel besteht.“

Die Prinzessin sah ihn erschrocken an, Tränen schossen ihr in die Augen und als sie wieder klar sehen konnte, war es ihr, als ob ihr Geliebter überall im Gesicht Haare bekommen hätte. Da kam ihr die böse Erinnerung, als wäre der alte Zauber, von dem sie ihn einst erlöst, wieder lebendig geworden und sie müsste ihn aufs Neue davon befreien. Sie getraute sich nicht, ihm von diesen Gedanken zu erzählen, sondern fragte nur:

„Kann es angehen, dass die alten Zauber wieder an Macht gewinnen, dass die Erlösung nicht von Dauer sei, und wir wieder Pein und Schmerz durchleiden, Mut und Liebe beweisen müssten, sie zu besiegen?“

Der Prinz drehte sich weg von ihr, dann flüsterte er so leise, dass sie sich ganz nah über ihn beugen musste, um ihn zu verstehen:

„Aller alter Zauber wirkt auf immer und ewig, es ist der Strom des Lebens, der ihn hinfortspült von Zeit zu Zeit; versiegt er, so tritt alles Böse wieder hervor. Damals hast Du Vertrauen, Mut und Liebe bewiesen, mich zu befreien, die kannst du auch dieses Mal einsetzen, aber es geht um mehr, und es geht nicht nur um uns; unsere Welt wieder zu beleben.“

Bella umarmte ihren Prinzen und herzte und küsste ihn, als wäre es das letzte Mal, dann wandte sie sich um und verließ die Kammer. Sie kleidete sich um, anstelle der kostbaren Kleider wählte sie einen einfachen braunen Mantel aus Leinen, dazu eine Ledertasche mit Riemen für das Nötigste, ein Stück Brot, etwas Käse und ein paar Goldstücke, rief das Gesinde zusammen und sprach: „ Der Prinz ist krank, ich wünsche, dass ihr ihn gut pfleget und versorget, bis ich zurück bin. Er hat mir bedeutet, dass nur ich ihm die Heilung beschaffen kann, wie ich es schon einmal vermocht habe, darum ziehe ich los und weiß weder ob, noch wann ich wiederkomme“, sprach `s und ging von dannen.

Gegen Abend kam sie an einen Waldrand, da wollte sie rasten, und legte sich in die Höhle eines großen, umgestürzten Baumes, um Schutz vor dem Wind und dem Regen zu haben, bis der Morgen dämmerte. Sie hatte gerade die Augen geschlossen, da hämmerte es nachdrücklich an ihrem Baumstamm. Sie richtete sich auf und sah hinaus, da blickte sie unvermittelt in die Augen eines Raben.

„Ich weiß, was dich hierher treibt“, begann er unvermittelt, „du musst die Frau finden, die die Märchen erzählt, die musst du fragen, denn alles Übel liegt daran, dass keine alten Märchen mehr erzählt und keine neuen erfunden werden.“ Er verharrte für einen tiefen Blick in ihre Augen, dann flog er davon.

Als der Morgen graute, nahm sie ihre Ledertasche und setzte ihren Weg fort, immer am Waldrand entlang, ihrem inneren Gefühl folgend. Als es wieder Abend wurde, ging sie ein Stück in den Wald hinein, da auf den Feldern und Äckern die Sicht weit und Unterschlupf rar zu sein schien, und sie wollte unbedingt den Menschen aus dem Weg gehen, die in den Dörfern lärmend und ohne Umsicht ihr Tagewerk verrichteten. Die Sonne war gerade verschwunden, da erschienen ihr alle Stämme gleich grau und durchscheinend, der Boden war wie Samt unter ihren Füßen und sie war sich nicht sicher, noch in dieser Welt zu sein. Ein großer weißer Hirsch trabte an ihr vorbei, sein Blick traf sie in das Herz, sie verstand sogleich, dass sie ihm zu folgen hatte, so ging sie hinter ihm her. Indes, er trabte so geschickt durch das Unterholz, dass sie mitzuhalten Mühe hatte, immer wieder entschwand er ihren Augen, um doch auch wieder wartend sichtbar zu werden und sich sogar nach ihr umzuschauen. Sie konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, eine halbe Ewigkeit oder ein paar Atemzüge, da gewahrte sie ein Licht, das durch die Bäume schien. Im selben Augenblick war der Hirsch plötzlich verschwunden, sie folgte dem Licht und erkannte eine Einsiedelei. Zaghaft klopfte sie an die Tür, „herein spaziert!“, erscholl eine alte Männerstimme von drinnen, sie öffnete knarrend die Tür und erblickte einen Mann in einem großen Lehnstuhl am Feuer sitzend. Mit einer ausladenden Geste forderte er sie auf, ihm gegenüber auf einem zweiten Stuhl Platz zu nehmen; auf dem Tisch stand bereits ein Becher für sie, und er goss ihr Met ein aus einem Topf, der am Feuer stand. Augenblicklich fiel eine große Last von ihr ab und sie genoss die Wärme des warmen Getränks, das ihr ganz wundersam durch die Glieder strömte und sie alles vergessen ließ.

Als sie nach einer Weile die Augen öffnete, saß sie noch immer am Kamin und hielt den Becher in ihren Händen. Der alte Einsiedler sah sie mit leuchtenden Augen an, und sie begann zu erzählen, von ihrem kranken Mann, den sie einst von einem bösen Zauber erlöst hätte und der jetzt wieder von dem alten Bann erreicht worden sei. Auch von dem Auftrag des siechen Prinzen und dem Rat des Raben berichtete sie, wozu der Einsiedler nur verständig nickte. Schließlich begann er zu sprechen:

„Es ist wundersame Kunde, die mich durch dich erreicht, und obwohl ich mich vor Jahrhunderten aus deiner Welt verabschiedet habe, berührt es mich doch. Du wirst bemerkt haben, dass du hier in dieser Gegend, in die der Hirsch dich geführt hat, nicht mehr in deiner Zeit lebst, du könntest hier ein Leben verbringen und zu deinem geliebten Mann zurückkehren, als wären nur wenige Tage vergangen. Darum habe ich diesen Ort gewählt, denn deiner Welt und der Geschäftigkeit der Menschen darin bin ich nach einem langen Leben überdrüssig geworden. Umso mehr freut es mich, einer Frau zu begegnen, die in einem so jungen Körper so viel Weisheit und Liebe vereint. Die Erzählerin, nach der du suchst, wirst du bald finden, sie lebt ähnlich wie ich in einer einsamen Hütte im Wald, gelegentlich begegnen wir uns. Sie holt die Märchen aus dem breiten Strom, den du, um zu ihr zu gelangen, queren musst, und sie wird dir helfen, die Lösung zu finden, denn, so scheint es, dein Leiden ist auch ihres, und wenn du deine Aufgabe zur Heilung des Prinzen löst, wirst du auch ihr und damit allen Menschen helfen. Du wirst den Weg leicht finden, denn du hast ein reines Herz, vertraue auf die Zeichen, die dir gesandt werden.“

Am kommenden Morgen wollte sie aufbrechen, aber der Einsiedler hielt sie auf, „Jetzt kannst du unmöglich von hier fortgehen, du würdest dich verirren und nie zurückfinden, warte auf den Abend und das Zwielicht, dann ist der Weg in deine Welt frei und der Hirsch wird dich wieder führen.“

So blieb ihr nichts übrig, als zu verweilen, sie setzte sich auf die Bank vor dem Haus und beobachtete die Vögel im Wald. Zauberhaft wirkte hier alles, die Bäume hatten eine seltsame Art, still zu sein und doch das Gefühl zu vermitteln, als würden sie sie beobachten und ihr erzählen, die Vögel zwitscherten, aber sie sah keinen ein Nest bauen oder Küken füttern oder vor einem Raubvogel warnen. Die Zeit schien stillzustehen, trotzdem gab es Tag und Nacht, und wenn sie auch die Sonne nicht sehen konnte, spürte sie es doch, als der Tag sich neigte. Als der Wald in einem zarten Schleier der Dämmerung versank, sprach der Einsiedler sie noch einmal an:

„Nun ist es Zeit, in deine Welt zurückzukehren, achte die Zeichen und vertraue auf dein Herz. Ich habe geträumt, dass du mit deinen Tugenden allein, die dir gegeben sind und die sich bewährt haben, nicht schaffen wirst, was dir aufgetragen, aber bedenke immer, dass du nicht allein bist und jeder den Beitrag gibt, den zu leisten er imstande ist.“

Sie hängte sich ihre Tasche über die Schulter und ging, nach wenigen Schritten sah sie sich um, da waren das Haus und der freundliche Mann darin verschwunden, sie besann sich auf ihren Weg und gewahrte alsbald den weißen Hirsch, der wieder vor ihr herlief. Am Waldesrand angekommen blieb ihr nichts, als sich wieder einen Platz für die Nacht zu suchen, und als sie den unter einem Felsvorsprung gefunden, sich dem Schlaf hinzugeben.

Als sie erwachte, war es Mittag und ihr war, als hätte sie alles nur geträumt, so unwirklich und entfernt war die Erinnerung an den vergangenen Tag. Sie war hungrig und gedachte, in einer nahen Ortschaft etwas zu Essen zu kaufen, darum strebte sie frohen Mutes in das nahe Tal und den Häusern zu. In einem Wirtshaus erstand sie etwas Brot, auch Rüben und Äpfel bot man ihr an. Die Menschen im Ort wirkten seltsam bedrückt; sie waren geschäftig, aber ihre Augen waren leer, und niemand erwiderte ihre Blicke. Sie getraute sich nicht hier zu verweilen, gewahrte auch keine Zeichen, so sehr sie auch die Augen offen hielt, und verließ das Dorf. Zwischen den Feldern empfingen sie Tauben, denen gab sie von dem Brot, daraufhin flogen sie vor ihr her und zeigten ihr, wohin sie ihre Schritte zu lenken hatte. Auch die Landschaft wirkte jetzt nicht mehr blühend wie bei ihrem Schloss, sondern trocken und öd; sie bemerkte viele abgestorbene Bäume, darunter auch junge, vor der Zeit verdorrt. So vergingen drei Tage, ohne dass sie noch einmal Menschen zu Gesicht bekam; sie war darüber verwundert und entsann sich, dass der Wirt, der ihr das Brot und die Rüben verkauft, erzählt hatte, es ginge eine schlimme Seuche durch das Land, die raffte jeden tausendsten dahin, aber noch mehr, so munkelte man, starben an der Angst, die alle Menschen seitdem befiel.

Am dritten Tag gelangte sie an das Bett des breiten Stromes, von dem der Einsiedler erzählt hatte und der sich nun trocken vor ihr erstreckte; nur kleine Rinnsale suchten ihren Weg zwischen den Kieseln. Wie verwunschen erschien ihr dieser Strom, wie in einem Todeszustand, wie durch die Kraft einer dunklen Magie herbeigeführt, ihr schauderte, als sie ihren Fuß auf die Steine setzte und das Bett querte. Drüben angekommen sah sie den verlassenen Kahn eines Fährmannes, wieder begrüßten sie die Tauben, und sie folgte ihnen weiter. Es war nur ein kurzes Stück zu gehen, durch den Wald und einen Hang hinauf, dann sah sie eine kleine Hütte, die mit vielen Schnitzereien geschmückt war. Um das Haus herum prangte eine Blumenpracht, in den Fenstern hingen kleine Lampen. Frohen Mutes trat sie auf die Tür zu und klopfte an.

„Herein!“, erklang von drinnen eine alte Frauenstimme. Bella drückte die Tür auf und trat ein. Drinnen saß eine Frau, der das Leben den Rücken gebeugt hatte, an einem Tisch und putzte Gemüse.

„Da bist du ja“, sagte sie, „bitte setze dich doch. Ich habe dich schon erwartet und bin dabei, uns eine Suppe zu kochen. Auf dem Herd steht frischer Tee, bitte nimm dir. Du bist doch sicher müde von der Wanderung und kannst eine Stärkung gebrauchen.“

Bella dankte, schenkte sich eine Tasse Tee ein und setzte sich zu der Frau an den Tisch. Nachdem sie eine Weile stumm zusammen gesessen hatten, begann Bella zu erzählen, von ihrer Wanderung, den Begegnungen, den vielen wundersamen Eindrücken, zum Schluss, vom Grund ihres Aufbruchs.

„Und du bist die Frau, die die Märchen erfindet“, leitete sie das Gespräch zu ihrer Gastgeberin über, denn nun wollte sie erfahren, wie ihr Hilfe zuteilwerden könne.

„Nein, die Märchen erfinde ich nicht, das wäre zu viel der Ehre, niemand unter den Sterblichen kann das für sich beanspruchen. Ich erzähle sie nur.“

„Aber woher kennst du die Märchen?“, fragte Bella weiter.

„Ich sitze zuweilen am Strom und lausche. Weißt du, wenn du nur lange genug an seinem Wasser sitzt, beginnt er, dir zu erzählen, jedenfalls scheint es so zu sein. In Wirklichkeit erzählen der Strom und alle anderen Geschöpfe der Natur ständig ihre Geschichten, nur benötigst du einige Zeit, dich ihren Stimmen zu öffnen und ihnen zuzuhören. Ich also sitze am Ufer und lausche.“

„Und jetzt? Der Strom ist ganz vertrocknet, ich dachte, ich bräuchte einen Fährmann, um überzusetzen, stattdessen konnte ich ihn trockenen Fußes queren. Erzählt der Fluss noch?“

„Nein“, sagte die Frau. Dann senkte sie den Blick und schwieg. Bella war ungeduldig:

„Weißt du, warum der Fluss kein Wasser mehr führt?“

„Er hat es mir nicht erzählt. Er spricht nicht über sich selbst.“

Wieder schwieg die Frau. Dann fuhr sie fort:

„Es hat sich viel verändert, seit das Wasser ausbleibt. Nicht einmal im Frühjahr zur Schneeschmelze führt der Fluss Wasser. Ich gehe jeden Tag hin und kehre enttäuscht zurück. Wovon soll ich neue Geschichten erzählen? Kein Wasser, keine Geschichten.“

„Wenn ich am Fluss entlang bergauf gehe, bis zu seiner Quelle, finde ich vielleicht den Grund, warum das Wasser nicht mehr fließt.“

„Das wäre großartig, du würdest mir einen großen Gefallen tun. Ich auf meine alten Tage kann es nicht mehr. Vielleicht findest du heraus, woran es liegt, und vielleicht können wir das ändern.“

„Dann will ich es tun. Ich breche gleich morgen früh auf.“ Damit stand Bella auf und bereitete sich das Lager für die Nacht. Die alte Frau erzählte ihr ein Märchen, das sie noch nie gehört hatte, von einer jungen Frau, die mit Unerschrockenheit und Liebe die Welt rettete und das sie so tief bewegte, wie sie es noch nie erlebt hatte. Danach versank sie glücklich in tiefen Schlaf.

Als Bella erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel, die Märchenerzählerin arbeitete draußen vor dem Haus, der Tisch war zum Frühstück gedeckt und nach einer herzlichen Begrüßung setzten sich beide. Bella legte einige Speisen beiseite, um sie als Wegzehrung in ihre Tasche zu stopfen, die Frau wünschte ihr alles Gute und war voll des Dankes für Bella.

Sie wanderte drei Tage den Fluss entlang, ohne etwas zu sehen, dann wieder drei Tage, und sie wollte schon aufgeben, da erschien ihr wieder der Rabe und gab ihr aufmunternd zu verstehen, dass sie weitergehen solle. So ging sie noch einmal drei Tage, aus dem breiten Strom war inzwischen ein das trockene Bett eines kleinen Flusses geworden, und am Abend des neunten Tages stand sie urplötzlich vor einer hohen Steinmauer, aus der ein Rinnsal quoll. Sie ging an der Mauer entlang die Uferböschung hoch, da gewahrte sie einen Riesen, der Steine auf die Mauer schichtete. Hinter der Mauer hatte sich ein See gebildet, so weit, dass sie, als sie den Blick stromauf den Bergen zuwandte, doch das Ufer nicht sehen konnte. Sie fasste allen Mut zusammen und rief den Riesen an:

„Hey, großer Mann, was macht ihr da? Wozu baut ihr diese Mauer?“

Der Riese schichtete weiter Felsblock auf Felsblock.

„Das ganze Land hat kein Wasser mehr, und keine Geschichten, der Strom, der alles speist, ist versiegt, und Elend breitet sich aus unter den Menschen.“

„Den Geschichten geht es in meinem kleinen See sehr gut“, antwortete der Riese, ohne sie anzuschauen.

„Aber wozu macht ihr es? Wollt ihr alles Wasser für euch haben?“

„Ganz recht, kleine Frau, es ist alles meins, und kein anderer soll sich daran erquicken.“

„Aber wenn ihr nur ein bisschen Wasser für den Rest der Welt herausließet, so würden euch alle Menschen dankbar sein. Ihr seid so ein liebes Wesen unter dem Himmel, das kann euch doch nicht gleichgültig sein.“

„Wenn es mir gleichgültig wäre, würde ich dann so hart an der Mauer arbeiten? Und jetzt fort mit euch, ihr haltet mich von wichtigen Dingen ab, ihr kleinen Leut´ versteht euch ja sowieso besser auf`s Reden als auf`s Tun.“ Damit nahm er einen zentnerschweren Felsbrocken und warf ihn in Bellas Richtung. Bella sprang zur Seite. Schweren Herzens kehrte sie um.

Nachdem sie wieder neun Tage am Flussbett gewandert war, diesmal bergab, erreichte sie erneut das Haus der Märchenerzählerin. Bevor sie es aufsuchte besann sie sich eines anderen, ging an das Flussufer und setzte sich. Sie dachte immer wieder nach, wie sie ihr Versagen der lieben alten Frau beibringen solle, schaute über das ausgetrocknete Flussbett und weinte. Durch ihre verweinten Augen sah sie eine dunkle Gestalt sich nähern. Ein Mann mit einem grauen Mantel und einem hohen spitzen Hut mit breiter Krempe, dazu einem langen Wanderstab, der ihm bis über den Kopf reichte, kam den Fluss entlang gegangen und setzte sich neben ihr nieder.

Nachdem sie eine Weile so zusammen gesessen hatten, begann der Mann unvermittelt:

„Du hast gehört, dass du mit den Tugenden allein, die dir gegeben sind und die sich bewährt haben, nicht schaffen wirst, was dir aufgetragen, aber bedenke immer, dass du nicht allein bist und jeder den Beitrag gibt, den zu leisten er imstande ist.“

„So wisst ihr von meiner Aufgabe? Gebt mir einen Rat! Ich habe kläglich versagt, so kann ich weder meinem geliebten Mann noch all den anderen Menschen helfen, die unter der Selbstsucht des Riesen leiden. Der Strom der Geschichten fließt nicht mehr und mir ist, als ginge es um mehr als diese dabei.“

„Richtig“, antwortete der Mann, „nicht nur um die Märchen, nicht nur um Geschichten geht es, es ist der Strom des … aber das weißt du ja bereits, du weises Herz, deshalb sind wir ja alle bei dir und begleiten dich auf Schritt und Tritt, ohne dass du es bemerkst, und helfen dir. Ich bin ein mächtiger Zauberer, aber dieses ist keine Aufgabe für mich oder meinesgleichen, es ist eure Sache, die der gewöhnlichen Menschen, ihr müsst es allein schaffen, die Macht des Bösen zu besiegen und die Schöpfung von Neuem beginnen zu lassen. Zauberer wie ich können nur Rat und Unterstützung gewähren. Vielleicht bestärkt es dich, dass sogar der Einsiedler sich zu dir führen ließ und dich unterstützt, obwohl er, wie du weißt, nicht von unserer Welt und unserer Zeit ist.“

„Ist denn nun alles verloren? Können wir den Riesen noch von seinem eitlen Tun abhalten? Und wie?“

„Ich werde mir etwas einfallen lassen. Ich glaube sogar, ich habe schon eine Idee. Geh´ nur ins Haus der lieben Frau und ruhe dich aus, du hast deinen Teil der Aufgabe erfüllt. Es wird sich alles fügen. Ich sehe, dein Mann hat soeben das Bett verlassen und schaut aus dem Fenster, gerade in die Richtung, wo wir nun sitzen. Er spürt schon, welch Wandel bevorsteht und dass ihr euch bald wieder in die Arme nehmen werdet.“ Der Mann erhob sich und warf ihr im Gehen einen tiefen, lieben Blick zu, der Bellas Sorgen vertrieb und ihre Brust mit Zuversicht füllte. Sie stand ebenfalls auf und ging zum Haus.

Drinnen erwartete sie die Märchenerzählerin mit frischem heißen Tee. Bella setzte sich an das Feuer und trank. Dann erzählte sie von dem Riesen, der eine gewaltige Mauer quer durch den Fluss aufschichtete und damit das Wasser aufstaute; wie sie ihn angerufen habe, aber ihn nicht von seinem Tun abbringen konnte, und wie sie entmutigt den Fluss talwärts zurückgekehrt sei.

„Du hast dein Bestes gegeben“, ermutigte sie die Frau, „immerhin wissen wir dank deiner Hilfe, warum der Strom kein Wasser mehr führt, und können weiter nach einer Lösung suchen.“

Bella blieb einige Tage bei der Märchenerzählerin, übernahm Arbeiten im Haus und im Garten, dachte immer wieder an ihren Gemahl , aber sie traute sich nicht, unverrichteter Dinge heimzukehren.

Als sie eines Abends auf der Bank vor dem Haus die letzten Sonnenstrahlen genossen, kam ein Mann daher, der den Zenit seiner Kraft schon einige Jahre überschritten hatte und frohgemut nach Speise und Nachtlager fragte. Bella ging hinein, ihm ein Abendessen und Getränk zu holen, denn sie fühlte sich inzwischen richtig zuhause bei der Märchenerzählerin und war froh über jede Arbeit, die sie ihr abnehmen konnte. Dabei lauschte sie, was der Mann zu erzählen hatte; ein Schneider war er und hatte schon viel erlebt, hatte viel gewonnen und wieder verloren, und sogar in einem Palast hatte er gelebt, an der Seite einer Königin, die ihn nicht geliebt habe, er sei dieses Lebens überdrüssig geworden und wieder auf die Wanderschaft gegangen, da das die Weise des Lebens sei, bei der er am freiesten sei. Auch von dem bedrückenden Gefühl, das überall die Menschen heimgesucht hatte, sie missmutig und ihre Augen trüb machte, wusste er zu berichten. Vor wenigen Tagen habe ihn ein alter mächtiger Zauberer aufgesucht und ihm geraten, zur Märchenerzählerin zu gehen, sich ihrer Gastfreundschaft zu erfreuen und zu hören, was für eine Aufgabe das Leben für ihn bereithielt.

Darauf begann die Märchenerzählerin von ihrem Leid zu berichten, dass der Strom versieget sei und sie keine Geschichten mehr von ihm erfahren könne, und dass Bella gekommen sei, dem Übel abzuhelfen, aber gegen den Riesen, der eine gewaltige durch das Flussbett führende Mauer errichtete, nichts habe ausrichten können.

„Ein Riese?“, fragte der Schneider nach und seine Augen begannen zu leuchten, „nicht zwei? Schade, es ist viel leichter, zwei Riesen zu erledigen als einen.“

„Nein, ein Riese baut die Mauer, ganz allein“, sagte Bella, „und mir ist, als könne er sich nicht mit einem zweiten Wesen zusammentun, so selbstsüchtig schien er mir.“

„Nun, ich will es trotzdem wagen, gleich morgen werde ich aufbrechen, wäre doch gelacht, wenn ich mit ihm nicht fertig würde.“ Dabei lehnte er sich selbstgefällig zurück, schlug seine Jacke zur Seite, so dass Bella auf seinem abgewetzten Gürtel „Siebene auf einen Streich“ entziffern konnte.

Am frühen Morgen brach der Schneider auf, Bella hatte ihm reichlich Wegzehrung mitgegeben, und er wurde mit den besten Wünschen herzlich verabschiedet.

Nach neun Tagen erreichte er die Stelle, wo der Riese die Mauer errichtete und besah sich alles aufmerksam aus sicherer Entfernung. Dann suchte er die Landschaft nach einem Gehöft ab und fand eines in der Nähe. Dem Bauern trug er auf, einige Strohballen dort am Ufer abzulegen, wo der Riese die Mauer baute; der wollte erst nicht einwilligen, aber als der Schneider ihm einige Dukaten dafür bot und ihm versicherte, der Riese wäre des Abends nicht zugegen, sagte er zu. Als der Bauer dies verrichtet, fasste der Schneider allen Mut zusammen und ging zum Riesen.

„Dies ist ein schönes Bauwerk“, hob er an, „es wird gar fein aussehen, wenn es erst fertig ist.“

„Es ist schon fast fertig“, antwortete der Riese mürrisch.

„Das scheint mir nicht so“, entgegnete der Schneider, „sicher könntet Ihr die Mauer viel höher bauen, Steine hat es doch genug, und wenn etwas gut ist, so ist mehr davon besser als weniger.“

„Die Mauer ist hoch genug, und der See fasst genug Wasser, und überhaupt, was geht es euch an? Ich habe die Steine zu schleppen, und sie sind sehr schwer, froh bin ich, wenn ich die Arbeit heute abschließen kann.“

„Schwer sind die Steine?“, fragte der Schneider keck, „ und das, wo ihr doch so stark seid? Da will ich doch gleich mal probieren, wie sich diese Arbeit anfühlt“, sprach`s, packte einen Strohballen und warf ihn auf die Mauer. Der Riese guckte erstaunt, wollte sich aber nicht beschämen lassen, und warf besonders große Steine auf die Mauer. Aber so sehr er sich auch mühte, immer war der Schneider schneller, und hatte schon ein Dutzend Strohballen auf die Mauer geschichtet, während der Riese gerade drei Steine daraufgelegt. Nun geriet der Riese in Wallung, er packte die Steine und schichtete sie auf die Mauer, so schnell er es vermochte, und der Schneider feuerte ihn an:

„So ist `s recht, eine großartige Mauer wird das, und sie wird viel mehr Wasser aufhalten, und schnell ist die Arbeit auch verrichtet, sieh´nur“, damit warf er locker einen weiteren Strohballen auf die Mauer. So stürmte der Riese los, packte Stein auf Stein, und als die Sonne unterging, war sein verletzter Stolz noch nicht geheilt und er arbeitete ohne Unterlass weiter. Der Schneider ward nicht müde, ihn weiter anzufeuern, er hatte den Punkt, wo der Riese verletzlich war, schnell gefunden und verstand es, darin zu bohren. Der Mond ging auf und der Riese wühlte immer noch und hatte es durch sein Ungestüm auch an Sorgfalt missen lassen, was der Schneider mit Wohlgefallen aufmerksam beobachtet hatte. Nun zog sich der an einen sicheren Platz zurück, und als der Riese hoch oben auf der Mauer einen weiteren Stein ablegte, kamen alle Steine in Bewegung, sie rollten in alle Richtungen daher, die meisten aber folgten dem Flussbett und ergossen sich darin, wobei der Riese laut schreiend mitgerissen und unter den Steinen begraben wurde, und noch lange hallte das Grollen der Steine von fernen Bergen zurück, nachdem das Schreien des Riesen erstorben war. Nun folgte auch das Wasser, es strömte über die Steine und folgte seinem alten Lauf, mit einer großen Welle stob es talwärts, links und rechts an den Ufern die Bäume mitreißend.

Als alles zur Ruhe gekommen und der Fluss wieder in seinem breiten Bett talwärts strömte wie ehedem, machte sich der Schneider auf den Rückweg. Die Vögel zwitscherten wieder und begleiteten ihn, und als er die Hütte erreichte, herzten und umarmten ihn beide Frauen und konnten gar kein Ende finden. Rasch war erzählt, wie der Schneider den Riesen besiegt, und nun musste auch Bella aufbrechen, denn auch ihre Aufgabe war erfüllt und sie sehnte sich, ihren Gemahl wieder in die Arme zu schließen.

Auf der Wanderung zurück konnte sie sich gar nicht sattsehen an den vielen lebendigen Eindrücken, den bunten Blumen und den Vögeln, den fröhlichen Menschen, die mit strahlenden Augen grüßten und ihr zu Essen und zu Trinken anboten. In ihrem Schloss angekommen, erwartete sie ihr Gemahl, der Prinz, bei besten Kräften, mit leuchtenden Augen und roten Wangen und es bestand kein Zweifel, dass der böse Zauber, der die Welt befallen, für dieses Mal wieder in seine Grenzen verwiesen worden war.

 
Quellenangaben
Es werden Figuren verwendet aus den Märchen "Die Schöne und das Biest", "Der Herr der Ringe", "Das tapfere Schneiderlein".

Hola @Setnemides,

ich weiß, wie es ist, wenn der neue Text keine Begeisterungsstürme entfacht – das verdirbt einem gewaltig die Laune. Eigentlich hatte ich nicht vor, Dein Märchen zu kommentieren, weil ich es beim Scrollen für eine KG als zu lang empfand, doch vielleicht fragst Du Dich, woraus sich die fehlende Resonanz erklärt – und da meine ich, dass Du wohl zu viel in dieses Märchen hineingepackt hast.
Schreibst ja auch:

Quellenangaben Es werden Figuren verwendet aus den Märchen "Die Schöne und das Biest", "Der Herr der Ringe", "Das tapfere Schneiderlein".
… und das scheint mir die Erklärung zu sein. Vielleicht solltest Du ein bisschen Augenmaß einbringen, weil kein Kommentator sich einen endlos lang erscheinenden Text antun will. Die unzähligen Leerzeilen finde ich ungünstig, die lassen den Text noch länger erscheinen, als er eh schon ist. Klar, dass Du schreiben kannst, als Urgestein des Forums:
In Wirklichkeit erzählen der Strom und alle anderen Geschöpfe der Natur ständig ihre Geschichten, nur benötigst du einige Zeit, dich ihren Stimmen zu öffnen und ihnen zuzuhören. Ich also sitze am Ufer und lausche.“
:thumbsup:
Da würde ich auch nicht dran tippen wollen; Du weißt was und wie Du schreiben willst, und auch, wenn nicht alles meinen Geschmack träfe, sollte der Text so bleiben, wie ihn der Autor gewollt hat.
Dennoch gibt's einige Kleinigkeiten:
wie in einem Todeszustand, der nicht natürlich war,
Natürlich ist das nicht natürlich, wenn ‚natürlich‘ die Bedeutung von ‚normal‘ hat.

eine kleine Hütte, die mit vielen kleinen Schnitzereien

niemand unter den sterblichen

aus dem breiten Strom war inzwischen ein gewöhnlicher Fluss geworden, oder das trockene Bett eines solchen, …
Der Autor bemerkt beim Schreiben den Fauxpas, lässt es aber so stehen und korrigiert dann ganz locker: ,...oder das trockene Bett eines solchen‘. Finde ich nicht so doll.

Steinmauer, aus der unten heraus ein Rinnsal quoll.
Bisschen eleganter eventuell?

da gewahrte sie eines Riesen, ...
Sie gewahrte einen Riesen. (Vielleicht besser ‚erblicken‘ o. ä.?)
Nachdem sie wieder neun Tage am Strom gewandert war, …
Der Strom ist nicht mehr da.

Ich bin ein mächtiger Zauberer, aber dieses ist keine Aufgabe für mich oder meinesgleichen, es ist eure Sache, die der gewöhnlichen Menschen, ihr müsst es allein schaffen, die Macht des Bösen zu besiegen und die Schöpfung von Neuem beginnen zu lassen. Menschen wie ich können nur Rat und Unterstützung gewähren.
Der Zauberer sagt: ‚...es ist eure Sache, die der … Menschen ...‘, weil er demzufolge kein Mensch ist, sagt aber im nächsten Satz: ‚Menschen wie ich‘.

mit einer großen Welle stieb es talwärts
stob

Als der Wald in einem zarten Schleider der Dämmerung versank, …

So, ich bin durch. Ich finde, Du hast das Märchen mit der passenden Stimme erzählt. Es ist sicherlich Ansichtssache, ob bei einem ‚neuen‘ Märchen fast vergessene Verben verwendet werden sollen, meine Meinung spielt da keine Rolle. Jedenfalls hast Du viel reingebuttert in Deinen Text – viel Arbeit, Zeit und Sorgfalt plus aktuelles Thema ohne Zeigefinger. Kann mir gut vorstellen, wie zwei (oder drei) Generationen Dein Märchen gemeinsam lesen und sich anschließend viel zu erzählen haben. Mir hat die Geschichte gut gefallen.
Beste Grüße!
José

 

„Ich weiß, was dich [hierhertreibt]“, begann er unvermittelt, „du musst die Frau finden, die die Märchen erzählt, die musst du fragen, denn alles Übel liegt daran, dass keine alten Märchen mehr erzählt und keine neuen erfunden werden.“ Er verharrte für einen tiefen Blick in ihre Augen, dann flog er davon.

„Nein, die Märchen erfinde ich nicht, das wäre zu viel der Ehre, niemand unter den Sterblichen kann das für sich beanspruchen. Ich erzähle sie nur.“

„Ich hab das Wadi Rhein in seinem Bett gesehn“, hab ich sommers vor Jahr und Tag in Rees (auf der anderen Seite des Rheins von Xanten) gesungen und winters Hochwassertourismus am gleichen Ort betrieben, wenn das Wasser bis an die Stadtmauern reichte. Aber die Umweltkatastrophe, in der wir schon mitten drin stecken, ist ja nicht nur eine der Umwelt, sondern auch der Eigentumsordnung, wenn etwa ein Schweizer Lebensmittelkonzern Brunnen „aufkauft“, das Wasser abpumpt und in Plastikflaschen verfüllt, um es teuer an die ehemaligen Besitzer zu verkaufen. Schon Morus hatte die Eigentumsordnung als ein Übel angesehen und was eine Allmende bedeutet, weiß heute kein Kind mehr, dass niemand sich wundern sollte, dass frische Luft zu erzeugen bezahlt werden muss und umso mehr ist Deine Hartnäckigkeit zu diesem Kunstmärchen zu bewundern,

lieber Set,

und im Gegensatz zu @josefelipe halte ich es für lesenswert, mit einem ersten „Aber“: Nahezu 16 Normseiten, die Seite zu 30 Zeilen und die Zeile zu 60 Zeichen unter courier 12 pt., der guten alten Type der Schreibmaschine erfordern Sitzfleisch, Ausdauer und ein gehöriges Maß an Aufmerksamkeit, ohne Garantie, dass die Anspannung belohnt wird – also schau‘n mer ma‘ (was in etwa bedeutet „erst tun mer mal garnix; dann schau’n mer …“ (so unter
schaun mer ma - MetaGer;
wobei ich mir für die Schöpfer dieser Interpretation des „schau‘n mer ma‘“ darauf hinweise, das gar nicht – und somit auch gar nix – keineswegs zusammengeschrieben wird – und das schon immer!)

Schon der erste Satz

Es war einmal eine schöne Prinzessin, die hieß Bella, sie lebte mit ihrem Prinzen in einem wundervollen, großen Schloss, das hatte viele Zimmer, helle und dunkle, bunte und trübe, Zimmer zum Verweilen, für die Konversation bei einer Tasse Tee, zum Arbeiten mit der Bibliothek, dazu einen großen Hofstaat, der alles sorgsam pflegte und putzte und die Kaminfeuer in Gang hielt.
heißt mich fragen: Für wen ist diese Einleitung geschrieben.
Einen Kleistverehrer wie mich kann er nicht erschüttern, aber den durchschnittlichen Leser, der schlicht unterhalten werden will, schon, erfordert sie doch zugleich den Denkapparat an – und sei‘s halt nur seine eine Seite, das Gedächtnis, der den berühmten und viel bemühten „Lesefluss“ – der auf keinem Atlas zu finden ist – vermeintlich stört.

Aber der Reihe nach (nicht die gefetteten Werte in den Eingangszitaten übersehn!)

Manchmal ritten der Prinz und die Prinzessin aus, um sich dem Volk zu zeigen und zu schauen, wie es den Menschen ergehe, und fanden, das alles recht wäre und sie dem König nur Gutes zu berichten wussten.
a) Warum Konjunktiv irrealis, wenn die beiden etwas „recht finden“? Noch ist ja nix von Riesen und tapferem Schneiderlein zu spüren ...
b) m. E. steht nach dem Komma „das“ nicht als vielgestaltiges Pronomen oder Artikel, sondern schlicht als Konjunktion, „dass“

Nur eines betrübte die Gefühle des Paares: sie hätten sich gern Kinder gewünscht, doch die waren ausgeblieben.
a) …: Sie …, es wird ein vollständiger Satz eingeleitet
b) Gut, man sagt „Kinderwunsch“, aber fängt es nicht mit „einem“ Kind an? Das ist ja auch das blöde bei der amtlichen Frage „haben Sie Kinder“ – kann ich mit der keineswegs nur chinesischen Einkindfamilie getrost „nee“ sagen, ohne zu lügen

Als sie das letzte Mal diesen Wunsch im Gespräch anklingen ließen, war ihnen bewusst geworden, wie die Zeit verronnen war, seit sie vermählt worden waren.
Waren nicht alle Märchensammler und Dichter der Kunstmärchen hervorragende „Gemanisten“ und vor allem "Stilisten"?
Und hier ein Festival der Hilfsverben, dass sich eingrenzen lässt:
„Als sie das letzte Mal diesen Wunsch im Gespräch anklingen ließen, wurde ihnen bewusst, wie die Zeit seit der Vermählung verronnen ...“
Trau Dich, das Partizp zu verkürzen! Hier traustu Dich immerhin den Konjunktiv

„Ich tät schon gern den Tag beginnen, aber es fehlt mir die Kraft, mir ist, als läge ein böser Schleier über unserem Leben, unserem Gesinde und den Menschen im Land, als wären wir alle vom Leben abgeschnitten wie Blumen in einer Vase, und ich weiß keine andere Lösung, als dass du selbst dich auf die Reise begibst zu erkunden, worin das Übel besteht.“
beim „täte“ vom e zu befreien (frei nach Karl Kraus empfehl ich den Apostroph, der das „e“ noch leicht anklingen lässt)

Die Prinzessin sah ihn erschrocken an, Tränen schossen ihr in die Augen, und als sie wieder klar sehen konnte, war es ihr, als ob ihr Geliebter überall im Gesicht Haare bekommen hatte.
a) Zunächst, was sehr auffällig ist, die Kommasetzung vor der Konjunktion „und“, die an sich für gleichrangige Wörter, Satzteile und Sätze das Komma hervorragend vertritt
(solltestu überall noch mal durchschauen ...
b) eine als-ob-Situation ist so ziemlich das Unwirklichste, was es geben kann und schreit förmlich nach dem Konjunktiv: „bekommen hätte“!!!!

ähnlich hier

„Kann es angehen, dass die alten Zauber wieder an Macht gewinnen, dass die Erlösung nicht von Dauer sei, und wir wieder Pein und Schmerz durchleiden müssen, Mut und Liebe beweisen müssen, sie zu besiegen?“

hier ist die Frage: Warum das Gemisch der Konjunktiefen, besser „müsste“
Da kam ihr die böse Erinnerung, als wäre der alte Zauber, von dem sie ihn einst erlöst, wieder lebendig geworden und sie müsse ihn aufs Neue davon befreien. Sie getraute sich nicht, ihm davon zu erzählen, sondern fragte nur:

Er hat mir bedeutet, dass nur ich ihm die Heilung beschaffen kann, wie ich es schon einmal vermocht habe, darum ziehe ich los und weiß weder ob noch wann ich wiederkomme.“, sprach `s und ging von dannen.
Abschlusspunkt beim bloßen Aussagesatz in dem Fall weg!

Als es wieder Abend wurde, ging sie ein Stück in den Wald hinein, da auf den Feldern und Äckern die Sicht weit und Unterschlupf rar schien, und sie wollte…
„schien“ in dem Fall ein modales Verb und wie „brauchen“ zu gebrauchen, also „rar zu sein schien“


Mit einer ausladenden Geste forderte er sie auf, ihm gegenüber auf einem zweiten Stuhl Platz zu nehmen, auf dem Tisch stand bereits ein Becher für sie, und er goss ihr Met aus einem Topf, der am Feuer stand, ein.
Sehr schwache Klammer ließe sich durch schlichtes Möbelrücken vermeiden: „… und er goss ihr Met ein aus einem Topf, der am Feuer stand.“


Sie holt die Märchen aus dem breiten Strom, den du, um zu ihr zu gelangen, queren musst, und sie wird dir helfen, die Lösung zu finden, denn, so scheint es, dein Leiden ist auch ihr Leiden, und wenn du ….
„leiden“ nur als Verb oder substantiviert immer Plural!, also „dein“ und „ihr“ Leid oder (unschöner) deine Leiden und ihre Leiden – im Satz dann „… so scheint es zu sein, deine Leiden sind auch ihre.“

Als der Wald in einem zarten Schleider der Dämmerung versank, sprach der Einsiedler sie noch einmal an:
...
„Herein!“KOMMA erklang von drinnen eine alte Frauenstimme. Bella drückte die Tür auf und trat ein. Drinnen saß eine Frau, der das Leben den Rücken gebeugt hatte, an einem Tisch und putzte Gemüse.
...

Nachdem sie eine Weile stumm zusammen gesessen hatten, begann Bella zu erzählen, von ihrer Wanderung, den Begegnungen, den vielen wundersamen Eindrücken, zum Schluss, denn sie erzählte die Geschichte rückwärts, vom Grund ihres Aufbruchs.
a) Komma weg zwischen Wanderung & den
b) Nein, sie erzählt hoffentlich immer noch korrekt von vorne nach hinten (und nicht rückwärts!), sondern sie erzählt die Geschichte vom Grund ihres Aufbruches her, oder ¿Sträwkcür narad tsi saW

Sie ging an der Mauer entlang die Uferböschung hoch, da gewahrte sie eines Riesen, der Steine auf die Mauer schichtete.
Nee, schon im Mittelhochdeutschen findet sich für „gewahren“ kein Gentitiv!, und – selbst wenn ich es schon lange nicht mehr angerührt hab – im Hildebrandtslied auch nicht, selbst wenn da das w noch buchstäblich als dabbelju kam ...


..., schlug seine Jacke zur Seite, so dass Bella auf seinem abgewetzten Gürtel „Siebene auf einen Streich“ entziffern konnte.
Warum das gezwierbelte „siebene“?

„Das scheint mir nicht so“, entgegnete der Schneider, „sicher könntet ihr die Mauer viel höher bauen, Steine hat es doch genug, und wenn etwas gut ist, so ist mehr davon besser als weniger.“
Der Schneider ist doch ein höflicher Bursche, besser „Ihr“

Wie dem auch wird, ein Anfang ist gemacht und ich bin eigentlich guter Dinge

Friedel

 

"ich bin eigentlich guter Dinge", das freut mich, Friedel,und ich bins auch, werde mich bald daranmachen, die Geschichte in Ordnung zu bringen. Ebenso Dank José für die Korrekturen.

 

Ich habe eine Überarbeitung eingestellt.

Hallo José,
vielen Dank für Deine Hinweise, die meisten habe ich umgesetzt. Zu Deinem Kommentar über die Länge: nein, erstens ist dies keine Kurzgeschichte, sondern als Märchen mit vielen Orts- und Szenenwechseln eine Erzählung, zweitens kann auch eine Kurzgeschichte, als Literaturgattung im Sinne der "short story", sehr viel länger sein als dieses Märchen. Das Forum ist (oder war?) da sehr tolerant; diejenigen meiner Geschichten, die die meisten Leser gefunden haben, waren oft auch die längsten (früher konnte man sehen, wie viele Hits eine Geschichte hatte).

Tja, Friedel,
"Siebene auf einen Streich" ist ein Zitat, das so bekannt ist, dass ich davon abgesehen habe, es kenntlich zu machen, und es macht sich auch besser als "sieben auf einen Streich", das wohl auch in den modernsten Ausgaben der Grimmschen Märchen nicht zu finden ist.
Über das Wasser kann man viel philosophieren; über das Sitzen am Fluss habe ich schon einmal geschrieben, an Siddharta wurde erinnert; diesmal geht es um eine viel tiefere Bedeutung des Vorganges, einen Fluss aufzustauen. Drei Jahre Ruhestand geben dem Wasserbauingenieur die Freiheit, darüber zu sinnen.
Euch beiden nochmal danke,
Set

 

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