Die Macht der Kugel
Die Macht der Kugel
Es war eine düstere Novembernacht und ich war allein zu Hause. Der Hund hatte schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mitternacht endlich Ruhe gab. Ich wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das alte Haus ächzen und knarren. Kurz bevor ich in den traumlosen Tiefschlaf hinab glitt, spürte ich eine Veränderung. Irgendwie kam mein Geist nicht zur Ruhe. Durch die geschlossenen Augen bemerkte ich, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Ich öffnete die Augen und sah erst einmal gar nichts. Gleißende Helligkeit blendete mich. Vorsichtig schob ich die Bettdecke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und tastete nach meinen Schlappen, ohne das nun schwächer werdende Licht aus den Augen zu lassen. Es konzentrierte sich jetzt auf einen Punkt. Mitten im Zimmer schwebte eine große, in allen Farben schillernde Kugel. Ihre Oberfläche pulsierte wie die Sonne und strahlte statt Hitze, angenehme Kühle aus. Fasziniert von ihrer unirdischen Schönheit ging ich näher. Ich musste dieses seltsame Ding berühren!
Ohne den geringsten Widerstand drang zuerst mein Finger, dann die ganze Hand ins Innere. Plötzlich packte mich etwas. Wie ein Schraubstock hielt es mich umklammert, zog, bis mein ganzer Arm verschwand. Vor Entsetzen schrie ich auf, versuchte mich zu befreien. Doch es half nichts, eine unbeschreibliche Kraft saugte mich gnadenlos in den leuchtenden Ball hinein. Mein Gesicht, mein Körper glitten durch die wabernde Oberfläche in eine undurchdringliche Schwärze. Panisch vor Angst ruderte ich mit Armen und Beinen, mein Kreischen verhallte im Nichts. Sekunden vergingen, vielleicht auch Minuten, bevor ich das Bewusstsein verlor.
„Hallo, junge Frau, aufwachen!“
„Wie? Was? Wo bin ich?“
„Aber Kleines, hast wohl tief geschlafen, was? Wir sind immer noch im Keller. Los, zusammen rücken.“
Ich rieb mir die Augen. Wo war ich, und was machte ich im Schlafanzug in einem Keller? Die Kugel! Nur sie konnte mich hier her gebracht haben!
Neugierig sah ich mich um. Ich befand mich mit vielen Menschen in einem spärlich beleuchteten Keller. Nur wenige unterhielten sich. Alle saßen dicht gedrängt bei einander. Dumpf drang jammerndes Gejaule unter die Erde. Sirenen! Doch da war noch ein anderes Geräusch: ein monotones, stetig lauter werdendes Brummen.
„Sie kommen!“, schrie ein älterer Mann. „Die Tommys sind gleich hier. Gott bewahre uns!“
Bevor mir der Sinn dieser Worte klar wurde, spürte ich eine tastende kalte Hand. Sie gehörte dem blonden Mädchen an meiner Seite. Dicke Zöpfe fielen ihr auf die Brust. Neben ihr saß eine ältere Frau, auf dem Schoß eine Aktentasche, die sie krampfhaft umklammerte.
„Hast du auch Angst?“, flüsterte das Mädchen, sie war einige Jahre jünger als ich.
„Ich weiß nicht, ich glaub schon. Wie heißt du? Irgendwie kommst du mir bekannt vor.“
„Ich bin die Anna, Anna Lehmann und neben mir, das ist meine Mutter Elvira. Wer bist du denn? Wohnst du hier in der Nachbarschaft?“
„Renate“, stammelte ich, „bin nur zufällig hier.“
Mehr brachte ich nicht heraus. Mir hatte es die Sprache verschlagen. Anna und Elvira Lehmann! Blitzartig wurde mir klar, warum ich das Gefühl hatte, die beiden zu kennen. Neben mir saßen meine Mutter und meine Großmutter! Nur waren sie jünger, viel jünger, als ich sie in Erinnerung hatte. Die mysteriöse Kugel musste mich in die Vergangenheit geschleudert haben, nur, in welche Zeit?
Das Dröhnen draußen wurde lauter, übertönte beinahe die Sirenen.
Gewaltige Detonationen ließen die Kellerwände erzittern. Mörtel rieselte auf unsere Köpfe. Der zweite Weltkrieg! Ich war mitten im Krieg gelandet! Und die Engländer griffen an!
Wieder explodierten Bomben. Die Erde bebte. Menschen schrieen. Gehetzt sprang ich auf, zitternd am ganzen Leib. Nichts wie weg hier!
„Wo willst du hin, Kind? Du kannst jetzt nicht hinaus!“
Elvira, meine Großmutter, griff nach mir und zog mich an ihre Seite. Die Aktentasche fiel auf den Boden.
„Betet Kinder, betet! Gott verschone dieses Haus!“
Die Einschläge kamen näher. Irgendwo splitterte Glas. Leise Gebete. Schluchzen, Zähneklappern. Alle drängten sich zusammen.
Ein ohrenbetäubender Knall. Volltreffer!
Die Druckwelle schleuderte die Menschen zu Boden, das Licht erlosch. Gegenstände flogen durch die Luft. Eine Kellerwand stürzte ein, begrub Leute unter sich. Schmerzensschreie, hysterisches Kreischen, Stöhnen. Meine Großmutter presste uns auf den Boden.
„Bleibt unten, Kinder, Gott steh’ uns bei!“
Plötzlich fauchte eine Feuerzunge durch ein Loch in der Wand. Beißender Qualm reizte Augen und Lungen. Mühsam richtete ich mich auf. Orangegelber Feuerschein beleuchtete ein Chaos! Überall lagen Trümmer, Menschen waren verschüttet, manche hielten sich blutende Wunden. Sie schrieen, wimmerten, stöhnten. Blut floss, Mengen von Blut.
Anna und Elvira lagen reglos auf dem Boden.
„Nein! Ihr dürft nicht sterben!“
Panik erfasste mich. Verzweifelt rüttelte ich die beiden, sie konnten, durften nicht tot sein! Ihr Tod würde unweigerlich auch mein Leben auslöschen.
„Mama! Oma!“
Anna hustete. „Bin ich tot?“
„Nein, nein. Wir leben.“
Elvira öffnete die Augen. „Wir sind verschüttet, nicht wahr? Lebendig begraben!“
„Steht auf, wir müssen hier raus! Wir ersticken sonst oder verbrennen.“
Energisch zog ich die beiden hoch. „Beeilt euch, schnell!“
Meine Großmutter stöhnte, als sie sich aufrichtete.
„Mein Knöchel! Er ist verstaucht.“ Tapfer biss sie die Zähne zusammen.
„Kommt mit. Wir gehen weiter nach hinten, weg von diesem Chaos.“
„Wohin führst du uns?“, wollte Elvira wissen.
„Soweit ich mich erinnere, haben diese alten Häuser immer eine Art Verbindungsschacht zum Nachbarhaus. Ich hab da letzte Woche eine Dokumentation im Fernsehen gesehen.“
„Bitte, was ist Fernsehen?“ Anna machte große Augen.
„Äh, nichts Besonderes.“ Ich hastete weiter.
Elvira sah mich merkwürdig an, sagte aber nichts.
„Wir sind an der hinteren Kellerwand. Vielleicht gibt es da wirklich einen Durchgang.“
Es war fast völlig dunkel, der Schein des Feuers aus dem vorderen Raum spendete nur wenig Licht. Vorsichtig tastete ich die Wand ab. Hoffentlich hatten sie in der Sendung keinen Blödsinn erzählt. Da, ich fühlte eine niedere Holztür, einen Riegel. Knirschend ließ er sich zur Seite schieben. Ich öffnete und sah auf eine Ziegelwand. Das konnte nicht sein! Mit aller Kraft stemmte ich mich gegen die Steine. Polternd fielen sie nach hinten und gaben eine schmale Öffnung frei.
„Kommt, das Loch ist groß genug. Wenn wir Glück haben, ist drüben alles heil. Anna, du gehst ´zuerst, dann Sie, Elvira.“
Ich zwängte mich als letzte durch die Mauer. Wieder standen wir in einem Keller. Rötlicher Schein drang durch ein schmales, vergittertes Fenster. Elvira hockte auf einem Sack und zog sich gerade den Schuh aus. Sie verzog das Gesicht vor Schmerz.
„Meine Tasche, ich habe meine Tasche verloren! All unsere Papiere!“
„Seien Sie froh, dass wir noch leben, Frau Lehmann. Los, weiter!“
Wir tasteten uns voran und fanden den Aufgang zum Treppenhaus. Alles war unversehrt. Im Halbdunkel stolperte ich über einen aufgeplatzten Koffer. Die Hausbewohner hatten wohl fluchtartig das Haus verlassen.
„Schau mal, ob du etwas zum Anziehen findest“, meinte Anna. „Draußen ist es kalt. In den dünnen Kleidern wirst du erfrieren.“
Zögernd wühlte ich in den Kleidungsstücken. Wen bestahl ich hier? Würde er es mir übel nehmen? Vielleicht war er tot. Sicher war es nicht schlimm, wenn ich etwas davon nahm. Ich fand Hose, Schuhe und Jacke, zwar ein wenig groß, aber es reichte. Im Hausflur musste Elvira stehen bleiben. Sie konnte ihren Fuß kaum noch belasten. Ich ging zur Haustür. Glassplitter knirschten unter meinen Schuhsohlen. Das kleine Türfenster hatte dem Druck der Explosionen nicht Stand gehalten. Vorsichtig lugte ich hinaus.
Draußen herrschte das Chaos. Leute rannten vorbei, Sanitäter, Soldaten mit Maschinengewehren, immer wieder Schreie und Schüsse.
Der Schein von unzähligen Feuern erhellte die Straße. Unbarmherzig fraßen die Flammen die Reste von dem, was die Bomben übrig gelassen hatten. Zögernd öffnete ich die Tür. Hitze und ekelhafter Brandgeruch schlugen mir entgegen. Wo vor ein paar Stunden noch Häuser gestanden haben mussten, lag jetzt alles in Schutt und Asche. Meter hohe Flammen fauchten durch die Ruinen. Mauerbrocken blockierten die Wege. Dazwischen Menschen mit Ruß geschwärzten Gesichtern. Sie riefen nach ihren Angehörigen, drehten Tote um. Lag da Vater oder Mutter, Ehemann oder ein Freund?
Andere hockten mitten auf der Straße und starrten verwirrt vor sich hin. Anna und Elvira drängten mich hinaus.
„Nein, lasst mich. Ich muss noch einmal zurück, den anderen helfen. Ich bringe auch die Tasche mit. Bleibt in der Nähe, ich finde euch.“
Ehe sie mich aufhalten konnten, rannte ich zurück in den düsteren Hausflur. Rauchschwaden waberten nun unter der Decke. Jetzt hatte auch dieses Haus Feuer gefangen. Die Zeit drängte. Ich hastete die Kellertreppe hinunter. Hier war noch viel mehr Rauch, das Atmen fiel mir immer schwerer.
Eigentlich müsste ich schon unten sein, doch die Treppe führte weiter hinab. Tiefer und tiefer stieg ich. Längst herrschte Totenstille, keine Sirenen, keine Motorengeräusche, keine Schreie, nur muffige, abgestandene Luft. Auch der Rauch war verschwunden. Hatte ich mich verlaufen? Schon wollte ich umkehren, da sah ich nicht weit entfernt einen Lichtschein. Er drang durch die Spalten einer Brettertür. Sie war nur angelehnt. Entschlossen stieß ich dagegen und war geblendet.
Gleißende Helligkeit umgab mich. Das konnte nicht sein! Ich blinzelte. Tatsächlich! Vor mir schwebte die Kugel.
Meine Gedanken überschlugen sich. Sollte ich zurückgehen? War das überhaupt noch möglich? Nur die Kugel konnte mich zurück in meine Zeit bringen. Es war die einzige Chance. Sollte ich es wagen?
Ich streckte meine Hände durch die wabernde Oberfläche, der Sog ergriff mich augenblicklich. Würde ich heimkehren?
Ich stürzte ins Nichts. Mein Bewusstsein erlosch.
Mein Atem ging stoßweise, als ich erwachte.
Bloß nicht die Augen öffnen! Beruhige dich erst einmal!
Ich lag auf dem Rücken, etwas Weiches deckte mich zu. Vorsichtig betasteten meine Hände den Untergrund. Es fühlte sich an, wie ein Bettlaken. Auf mir lag ein Federbett. Tief sog ich die Luft ein. Es roch leicht nach Limetten.
Gestern hast du Räucherstäbchen abgebrannt, schoss es mir durch den Kopf. Ich war also zu Hause!
Hastig öffnete ich die Augen und setzte mich auf. Tatsächlich! Ich befand mich in meinem Zimmer und saß auf meinem Bett.
Bilder von blutenden Menschen kamen mir in den Sinn. Ich hörte Sirenengeheul. Hatte ich alles nur geträumt?
Gewohnheitsmäßig tastete ich nach meinen Hausschlappen. Meine Füße berührten kaltes Leder. Braune Schnürschuhe! Mein Gott!
Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen durchs Zimmerfenster. Sie fielen schräg auf den dunklen Teppich. Das Licht brach sich an etwas, es glitzerte auf dem Boden! Neugierig sank ich auf die Knie. Dort lag eine durchsichtige Murmel. Sie fühlte sich weich an. In ihr schien ein seltsames Licht zu pulsieren.
„Renate!“, rief es von unten.
„Renate! Aufstehen! Oma kommt gleich zu Besuch!“
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Alles war wie immer. Mutter weckte mich, Oma kam, wie jeden Sonntag zum Mittagessen.
Nachdenklich stand ich auf, die Murmel in der Hand. War das die geheimnisvolle Kugel? Vielleicht ließ sich das irgendwann herausfinden, doch jetzt fehlte mir der Mut. Außerdem kam Oma. Schnell verwahrte ich den seltsamen Fund in meinem besonderen Schatzkästchen. Morgen, oder übermorgen würde ich die Murmel wieder hervor holen. Na ja, nächstes Wochenende wäre auch früh genug.