Die Makrele
Unnatürlich ruhig war die See. Wind und Wellen hatten sich aus Abscheu vor dem Mann in dem kleinen Angelboot versteckt.
Es trieb ziellos vor sich hin.
Teilnahmslos starrte das kalte graue Augenpaar auf den Punkt, wo die Angelsehne in das Wasser eintauchte. Ob es ein guter Tag zum Angeln war, interessierte ihn nicht. Ob er etwas fangen würde interessierte ihn auch nicht. Nichts interessierte ihn mehr.
Ein Ruck ging durch die Angel, die Sehne straffte sich. Kleine Wasserspritzer tropften an der milchigweißen Angelschnur wie gläserne Perlen herab.
Kontrolliert kurbelte die Spule auf und zog behutsam und routiniert an der Rute. Abwechselnd, damit die Angel nicht brechen konnte. Seine Finger juckten schon wieder, er wollte sich kratzen aber dafür hätte er die Angel loslassen müssen.
Zappelnd tauchte der Fisch an der Wasseroberfläche auf, die Flossen panisch um sich schlagend. Kein großer Fisch, den er da am Haken hatte. Eine Makrele.
Ohne Mühe zog er sie an Bord. Sie zappelte, teils aus Angst in ihrem Überlebenskampf und teils, weil sie aus ihrem gewohntem Element dem Wasser and die Luft gesetzt wurde. Ihre Schuppen schillerten blaugrün in der Sonne. Ein geübter Handgriff entfernte den Angelhaken aus den farblosen Fischlippen. Achtlos ließ er den Fisch auf das Deck fallen.
Die Kiemen flatterten wie blähende Nüstern eines nervösen Pferdes. Das Maul schnappte stumm nach Luft. Die Schwanzflosse schlug klatschend hilflos auf und ab. Er rauchte eine filterlose Zigarette und blickte auf die sterbende Makrele herab.
Seine Finger juckten. Schabend kratzte er sich vom Knöchel abwärts den Ringfinger. Erlösend, wenn der Juckreiz nachlässt dachte er sich, während die Makrele zuckte und mit offenem Maul verendete.
Er packte sie an der Schwanzflosse, drückte zischend den Stummel seiner Zigarette in das tote, offene Maul und warf sie zurück ins Meer.
Donnerstag morgen, zwei Tage später hatte sich die Sonne in London entschieden sich nicht zu zeigen und dennoch hatten die Temperaturen um halb neun bereits angenehme achtzehn Grad erreicht.
Es drängelnden sich unzählige Autos Stoßstange an Stoßstange den York Way hinauf in Richtung Euston Road. Die Gehwege waren überfüllt. Am Eingang zu Kings Cross stand er. Er wartete. Wartete ohne Eile, ohne Hast, ohne Gefühle und dennoch überprüfte er alle paar Sekunden das Ziffernblatt seiner Armbanduhr. Acht Uhr fünfunddreißig.
Der kleine graue Rucksack hing über seiner Schulter. Seine filterlose Zigarette glomm dahin, ohne das er davon zog.
Es roch nach Abgasen. Nach Dieselruß. Billige und teuere Rasierwasser hingen in Schwaden den Menschen nach, die den Eingang zur Underground Station passierten. Das Aroma frischer Bagels und heißen Kaffeedufts schwebte aus dem Ixxy’s, dem Lokal direkt am Eingang zu Kings Cross, heran. Aus dem Burger King dahinter strömte der widerliche durchdringende Geruch von gebratenem Speck. Schweinespeck. Es grauste ihn bei der Vorstellung an Speck.
Seine Hand vergewisserte sich ob der Rucksack noch an Ort und Stelle war. Er stand mit dem Rücken zur Wand. Achtete genau darauf nicht angerempelt zu werden. Ihm wurde warm, wärmer als ihm lieb war. Ein letzter Zug. Er warf den Zigarettenstummel auf den Boden und sah zu, wie die Glut langsam erstarb.
Aus dem kleinen Passbildautomaten vorm Ixxy’s blitzte es zwei Mal auf. Hinter dem dunkelblauen schmutzigen Vorhang, konnte er zwei paar Schuhe erkennen. Zwei Schulmädchen machten unter lautstarken albernen Gekicher Photos von sich.
Niemand schien ihn zu sehen, niemand wahrzunehmen. Hunderte von Menschen strömten wie am Fließband an ihm vorbei und kein Gesicht sah ihn an. Er erhielt kein freundliches Grinsen, kein stummes Guten Morgen, kein Muh, kein Mäh, nichts. Er war allein. Allein unter Tausenden anderen Einsamen. Sie kamen und gingen.
Die Armbanduhr. Die Zeiger waren auf zwanzig vor neun vorgerückt. Er spürte kleine Schweißtropfen an der Innenseite seiner Achseln und in seinen Fingern begann ein leichtes Kribbeln. Ganz zart. Noch kein Jucken, eher ein Kitzeln.
Aber warum sollte ihn auch jemand angrinsen, warum sollte jemand eine freundliche Geste für ihn übrig haben. Hatte er etwas für die Menschheit übrig? Nein! Er wollte ihnen keinen guten Morgen wünschen, er wollte nicht sehen, wer sie sind, wie sie sind oder was sie denken.
Es war Zeit. Den kleinen Rucksack auf dem Rücken marschierte er zielstrebig los. Vorbei an der Telefonzelle und dem Geldautomaten, an dem sich eine kleine Schlange gebildet hatte. In den Schaufenstern des Bodyshop begleitete ihn für ein paar Meter sein eigenes Spiegelbild.
Bestimmt und zielsicher setzte er Fuß vor Fuß, darauf bedacht niemanden anzurempeln, niemandem aufzufallen.
Am roten Postkasten fiel ihm der Brief auf. Er lag davor, wie hingeworfen. Ein verlorenes Kuvert auf dem staubigen und schmutzigen Boden. Die blaue Briefmarke etwas schief aufgeklebt. Er blieb stehen. Seiner Finger brannten. Juckten. Er wollte sich kratzen, sah aber nur stumm den Brief an.
Eine Träne. Zögernd, fast schamhaft rollte sie aus seinem Auge. Er hob den Brief auf und warf ihn in den wartenden roten Briefkasten. Ja früher wollte einmal, da wollte er gern Briefträger werden. Wollte von Haus zu Haus, von Tür zu Tür gehen und wollte den Menschen ihre Post bringen. Früher gab es aber nicht mehr. Ein Blick zur Uhr. Acht Uhr fünfundvierzig. Ärgerlich wischte er die Erinnerungen an früher aus seinen Gedanken, kratzte sich die Finger und stieg auf die Rolltreppe. Auf jeder Stufe standen sie. Menschen. Sie rochen, sie plapperten oder schwiegen stumm wie er.
Er spürte den Lufthauch, während die Rolltreppe sie abwärts in den Tunnel beförderte. Der Zug war angekommen, er hörte die Türen zischen. Das Jucken. Es wurde stärker. Brennend und reißend zugleich. Seine Nägel schabten die Haut zwischen seinen Fingern wund. Eine Zigarette. Er hätte gern noch eine Zigarette gehabt.
Die letzten zwei Stufen sprangen die Menschen bereits von der Rolltreppe um im Laufschritt den Zug zu erreichen, bevor er seine Türen zuschob. Ein letzter Ruck. Die Türen waren geschlossen.
Immer schneller wurde der Zug und wackelte leicht in den singenden Gleisen. Das Jucken steigerte sich, die Finger zerbarsten. Es wurde unerträglich, als er den kleinen Zünder in seiner Jackentasche betätigte, um den Zug in Luft zu sprengen. Vielleicht hätte er die Makrele leben lassen sollen, dachte er in dem Moment, als sein Körper von der Detonation zerfetzt wurde.
An diesem Donnerstag detonierten in den Londoner U-Bahnen zeitgleich drei Bomben.