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Die Mandarinen Frau
Die Mandarinen Frau
Eine schöne Kindheit habe sie nicht gehabt, erzählte sie mir immer. Damals im Krieg war es schwer und mühselig und erst recht die Zeit danach. Ihren Vater sah sie zuletzt jeden Tag, so, wie sie ihn auch früher nur sehen konnte, auf einem vergilbten Foto, an dessen Ecken das Sonnenlicht die Erinnerungen langsam auffraß.
Von ihrer Mutter gab es mehrere Fotos, viele zeigten sie sehr traurig neben einem Kump voll geschälter Mandarinen.
Ihre Mutter starb an gebrochenem Herzen. Es geschah an jenem kalten Novembertag in den frühen 50igern, an dem viele Kriegsgefangene der Ostfront nach Hause kamen. Mit Ihnen die Gewissheit, dass Ihr Mann zu schwach gewesen war für die Strapazen in den Lagern Sibiriens.
Im Alter kommen die Erinnerungen an früher wieder, an die Lieben die man eigentlich viel öfter an seiner Seite gebraucht hätte. „Zum Vorwurf machen kann ich es Ihnen nicht“, sagte sie immer. Trotzdem war sie für mich eine gute Mutter, sie gab mir viel Wärme und Liebe, all die Sehnsüchte die sie selber immer hatte.
Ich hatte eine schöne Kindheit, fühlte mich geborgen und gut behütet. Ich weiß heute, dass mein Vater Ihr die Kraft gegeben hat weiterzumachen.
Er verstarb erst kürzlich.
Zum Schluss roch es in Ihrem kleinen Zimmer ständig nach Mandarinen. Sie mochte eigentlich keine Zitrusfrüchte, da sie einen empfindlichen Magen hatte. Wenn sie zu viel Säure zu sich nahm bekam sie schmerzhafte Rötungen an den Mundwinkeln. Ich weiß allerdings, dass mein Vater sie sehr gerne gegessen hat. Früher, zu Weihnachten lagen auf seinen Teller immer besonders viele. Meine Mutter hat ihm die dann liebevoll geschält, so dass selbst die weiße Zwischenhaut komplett fehlte und die Frucht somit fast filetiert wurde.
Nach seinem Tod kaufte sie immer wieder welche, obwohl es keine Verwendung dafür gab. Anfangs fiel es mir gar nicht auf, doch als ich eines Morgens einen Schrank öffnete, um frische Bettlaken herauszuholen, standen auf dem Laken drei Schälchen mit geschälten Mandarinenstückchen. Ich fragte sie anschließend, warum sie sie dort hingestellt und nicht gegessen hat. Damals sagte sie, sie hätte diese wohl vergessen und würde sie schon noch essen.
In den folgenden Tagen hatte ich leider wenig Zeit, um nach ihr zu sehen. Es war aber eigentlich auch nicht nötig, denn sie konnte alles noch sehr gut alleine bewältigen. Der Tod ihres Mannes war nun drei Monate her. Ich konnte nicht ahnen, dass ihr Wille, ihm zu folgen so groß war.
Als ich das Telefonat entgegennahm, konnte ich erst nicht glauben, dass der Grund des Anrufs der Tod meiner Mutter war. Die Nachbarin auf der anderen Seite der Leitung war aufgelöst und erzählte mir mit zittriger Stimme, dass meine Mutter letzte Nacht friedlich entschlafen war und dass im ganzen Haus Schälchen mit fast filetierten Mandarinen standen.
Heute blättere ich in den alten Alben meiner Mutter und schaue auf die Fotos, die meine Oma traurig neben einer Schüssel abgeschälter Mandarinen zeigt. Ich frage mich ob es Zufall ist, dass meine Mutter eine ähnliche Verbindung zu dieser Frucht hatte wie meine Großmutter und greife in Gedanken in eine Schale frisch geschälter Mandarinen, die für meinen Mann vorgesehen waren.