Die Maräne Maria
Die Maräne Maria hockte unter einem Stein und beobachtete die trübe Strömung ihres Heimatgewässers. Der See lag träge im Licht eines zur Neige gehenden Sommerabends. Nur an dem Stein kräuselte sich das Wasser unruhig und schlug Wellen gegen den Felsbrocken.
Ansonsten schien die Stimmung im See friedlich.
Ihre nervös zuckenden Kiemenflossen verrieten Maria das Nahen eines etwas anders gearteten Brockens. „Aha, der Karpfen Jonas treibt wieder sein Unwesen“, dachte sie und sah im selben Moment das dümmlich aufgerissene Maul des Riesen, gefolgt von seinem massigen Körper an sich vorbei schwappen.
„Wundervoller Abend, nicht wahr Maria?“, trompetete Jonas, kaum als er des schlanken Körpers gewahr wurde.
„In der Tat“, seufzte Maria. Ihre Abendstimmung war jedenfalls dahin.
Der mächtige Koloss plumpste neben ihr in die Sandbank. Den Versuch, sich ebenfalls unter ihren Stein zu zwängen, gab Jonas nach einigen erfolglosen Bemühungen stöhnend auf. „Mir scheint, du hast ein paar Pfunde dazugelegt, mein Lieber“, neckte Maria den Karpfen.
„Das möchte ich wohl meinen!“, brummte der zufrieden.
Aufgeregt schnupperte Jonas in die Strömung: „Hm, riechst du das? Ich würde auf Marmelade im Teigmantel tippen.“ Seine Schwanzflosse zuckte gierig, während seine Augen das schlammige Wasser absuchten.
„Da!“ Mit einem kräftigen Stoss schnellte er an die Wasseroberfläche und kam wenig später triumphierend mit ausgebeulten Backen zurück. Missmutig zupfte die Maräne ihre Schuppen zurecht. Nur langsam legte sich der Strudel und das Wasser beruhigte sich. „Na großartig, nun weiß Simon ganz sicher, dass du hier bist“, nörgelte Maria und beobachtete besorgt die Wasseroberfläche.
„Ach was“, mampfte Jonas glücklich, „der lahme Alte kann noch mehr von diesen Leckereien springen lassen, wenn er mich kriegen will.“
Ebenso aufmerksam wie Maria verfolgte Simon in seinem Boot die Kreise im Wasser. Jagdfieber hatte ihn gepackt und enttäuscht zog er den leeren Angelhaken an Bord. „Na warte, Dicker!“, dachte der Fischer und befestigte sorgsam einen neuen Pfannkuchen an dem spitzen Draht. Unheilvoll zischte die Rute, als Simon sie gekonnt auswarf. Wellen schlugen gegen das Boot, dass der Alte nur mit Mühe sein Gleichgewicht wahrte. Dunkel drohte das Wasser unter dem morschen Holz.
Eigentlich ging es Simon nicht darum Fische zu fangen. Er liebte die klare Ruhe des Sees, die Stille tat seinen strapazierten Nerven gut. Er kam sooft es ging aufs Wasser. Seine Nachbarn raunten dann mitleidsvoll, gegen die spitze Zunge seiner Frau sei kein Kraut gewachsen. Simon wusste davon.
Kurioserweise schien es ihm, als ob auch die Eltern seiner Frau es geahnt hatten, als sie ihr ihren Namen gaben: Odermennig.
Doch selbst das konnte ihr zänkisches Gemüt nicht beruhigen. Zu Beginn ihrer Ehe hatte ihn ihr naives Geplapper fasziniert. Es kam ihm irgendwie bodenständig vor, als er aus der oberflächlichen Großstadt zurück in das Dorf seiner Eltern heimkehrte. Mittlerweile erinnerte ihn ihre scheppernde Stimme an eine ausgeleierte Mühle, deren Mahlstein, seitdem die Kinder aus dem Haus waren, der Widerstand fehlte und in Simon ein ergebenes Opfer für ihre Boshaftigkeiten gefunden hatte.
So kam er jeden Morgen raus auf den See, verfütterte ihr Gebäck an die Fische und träumte von der unerfüllten Friedlichkeit seines Lebensabends.
Sehnsüchtig leckte sich Jonas das Maul. „Das war doch nur ein Appetitanreger, wo bleibt der Hauptgang?“ jammerte der Karpfen. Maria sah sich missbilligend um: „Deine Gier wird dich noch in Simons Pfanne bringen!“
„Alte Unke“, brummte Jonas gemütlich. Seine Augen erspähten den tanzenden Teigkloß. Darin lag der Sinn seines Lebens, das wusste er. Was verstand schon die schmächtige Maräne von diesen lukullischen Genüssen. Gierig tanzte sein fetter Körper auf den Pfannkuchen zu. Sein Maul formte sich erwartungsvoll um den ausgelegten Köder, als jähes Flügelschlagen und aufgeregtes Geschnatter ihn aus seiner Vorfreude rissen.
Jämmerlich quakte die Ente und würgte an dem schmerzenden Klumpen in ihrem Hals.
Mitleidig zog Simon die Ente in sein Boot und löste vorsichtig den Haken aus ihrem Schnabel. „Der war nicht für dich bestimmt, meine Kleine.“ Mit einem liebevollen Klaps entließ er die erleichterte Ente, die ihre neu gewonnene Freiheit mit einem tiefen Schluck begrüßte, um ihren brennenden Schnabel zu kühlen.
Simon mochte Tiere. Ja, er gefiel sich in ausschweifenden Betrachtungen über die Gleichwertigkeit alles Lebendigen, mit einer Leichtigkeit, die er in den Bohemekreisen seiner jugendlichen Großstadterfahrung gelernt hatte.
Grob enttäuscht kehrte Jonas zu Maria unter dem Stein zurück.
„Ist es die Möglichkeit? Kommt mir doch diese dumme Ente in die Quere. Der Leckerbissen war für mich bestimmt“, schnaubte der Karpfen empört. Hämisch kicherte die Maräne.
„In der Tat, der Köder ist allein dein Schicksal“, orakelte Maria und kam sich sehr weise vor. In plötzlicher Erkenntnis leuchteten die dummen Augen des Karpfens auf: „So unterschiedlich ist unser Schicksal auch nicht, weißt du.“
„Hm!“ machte die Maräne nur und dachte bei sich: „Uns trennen dennoch Welten mein Lieber.“
Simon nahm das Netz in seine Hände. Er liebte die rauen Fasern, seine Hand strich über die sorgsam geknoteten Stränge. Das Fischernetz hatte sein Urgroßvater selbst geknüpft. Sooft es der alte Fischer auswarf, schien es ihm, als ob dieses Netz ihn mit seinem Ahnen verband. Es war alt und schon an tausend Stellen geflickt. Dort wo Sonnenlicht drauf fiel, glitzerte es kurz auf.
„Es sieht dann aus wie das Geschmeide einer Königin - nur für einen Augenblick - dann wieder alt wie vertrocknetes Gras vom Vorjahr.“ sinnierte Simon während er es auswarf.
Das Netz war ein Erbstück. Solange Simons Familie an diesem See fischte, gaben sie es weiter vom Vater zum Sohn. Auch der alte Fischer hat es von seinem Vater und dieser von seinem Vater bekommen.
Simons philosophische Phantasien drehten sich mit Vorliebe um das Netz.
„Die Legende sagt, es entstand zusammen mit Raum und Zeit, der Weise jedoch sagt, es ist Raum und Zeit. Hätte Zeit ein Gesicht und hätte Raum einen Namen- dies wäre es.“, teilte er der Welt im allgemeinen und den sich um ihn scharenden Enten im Besonderen mit.
Simon schloss genüsslich ob dieser geistigen Leistung die Augen. Ein Bild aus seiner, wie er es gewöhnlich nach einigen Schnäpsen schmunzelnd ausdrückte, bewegten Jugend kam ihm in den Sinn:
„Die Großstadt liegt träge in der Abendsonne. Straßen, Häuser, Menschen, ab und zu ein Baum, alles da, was es für eine große Stadt braucht, um eine Stadt zu sein. Die Menschen hasten eilig durch die grauen Straßen. Würden sie sich die Zeit nehmen genauer hinzusehen, würden sie sich wundern, warum die Häuser manchmal aussehen als wären sie aus vertrocknetem Gras vom Vorjahr. Dort wo das Sonnenlicht hinfällt, glitzert der Beton auf als wäre er aus Geschmeide.“
Die achtlos neben ihm ausgebreitete Angel fing heftig an zu rucken und riss Simon aus seinen Träumen.
Verzweifelt kämpfte Jonas mit dem Haken, der sich nur noch tiefer in seine Kiemen bohrte. Sein aufgesperrtes Maul tanzte mal über, mal unter der Wasseroberfläche.
„Maria hilf mir!“, blubberte der Koloss halberstickt.
Seine Augen quollen panisch hervor. Schimpfend nährte sich Maria. Rechthaberisch hagelten ihre Vorwürfe auf ihn ein. Wie durch einen Schleier sah Jonas ihre Flossen neben ihn auf und ab hüpfen, ihre Worte drangen nur noch unklar in seinen sich auflösenden Verstand. In ohnmächtiger Wut musste Maria mit ansehen, wie ihr Freund den ungleichen Kampf aufgab und die bewusstlose Masse, die mal Jonas war, mit einem Ruck ins Boot gezogen wurde.
„Simon, dafür landest du in der Hölle!“, fluchte der kleine Fisch. Wie groß war ihre Überraschung, als sie feststellte, dass ihre Flossen sich enger an ihren Körper pressten, so dass ihr selbst der Atem ausging. Wie sehr sie sich auch bemühte zu dem sicheren Schutz ihres Steines zu gelangen, er schien sich nur noch mehr von ihr zu entfernen. Hilflos zappelte sie in Simons Netz. Bösartig starrte sie in die gutmütigen Augen des alten Fischers. Ihr Maul formte Flüche, die als leere Blase in der Luft hingen.
In den letzten Strahlen der Abendsonne zog Simon das Boot an Land. Der Tag war nicht sehr erfolgreich gewesen. Simon hoffte inständig, dass der fette Karpfen Odermennigs Geschrei mildern würde.
Seine Frau erwartete ihn schon vor ihrer Fischerkate. Ihre Arme stemmten sich in die ehemals anmutigen Rundungen ihrer Hüfte. Ein sicheres Zeichen, dass etwas nicht in Ordnung war. Ihr Mund öffnete sich zum anklagenden Redeschwall, und sah dabei dem Karpfen in Simons Eimer nicht unähnlich, fand der Alte.
„Da!“, machte der Fischer und deutete auf Jonas, der sich in dem engen Bottich wieder etwas erholt hatte und der Dinge harrte, die da kommen würden. Maria neben ihm sah die Ereignisse klarer und fand, dass sich die Situation recht ungemütlich zuspitzte.
„Na ja, der wird sich ganz gut auf unserer Ostertafel machen, wenn die Kinder kommen“, meinte Odermennig nur und war insgeheim enttäuscht, um ihre Klagen wegen Simons spätes Heimkommen gebracht worden zu sein.
Instinktiv spürte sie die Ablehnung des Alten und lag ihm drum nur noch mehr in den Ohren. Sonntags, bei ihrem Frauenkränzchen, pflegte sie dann zu sagen: „Er ist wie ein störrischer Esel. Zieht man ihn, stemmt er sich nur noch mehr dagegen und will weder vor noch zurück. Man muss ihn zu seinem Glück regelrecht zwingen. Wenn ich mal nicht mehr bin, wer kümmert sich denn dann um ihn?“
Ihre Freundinnen nickten dann verständnisvoll und hofften still für sich, nicht ebenfalls solche undankbaren Kinder großgezogen zu haben, die anscheinend froh waren, den ärmlichen Verhältnissen entkommen zu sein und ihren jährlichen Pflichtbesuch mehr recht als schlecht einhielten.
Entrüstet fischte Odermennig die kleine Maräne aus dem Eimer. „Die ist zu mickrig, die macht nicht mal die Katze satt.“ Verächtlich warf sie Maria der Katze vor die Pfoten, die den Fisch beäugte und vorsichtig mit einer Kralle anstupste. Bedauernd blickte Simon auf die japsende Maräne, wagte aber nicht Odermennigs aufbrausendem Gemüt zu widersprechen. Seine dicke Frau eilte mit dem entsetzten Jonas ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
Kurz darauf vernahm Simon das Knacken brechender Gräten. Die Katze nagte wählerisch an dem zuckenden Schwanz des Fisches, verlor aber schnell das Interesse und überließ Maria ebenso verächtlich wie ihre Herrin ihrem Schicksal. Sie sprang auf das Fensterbrett und begann sich umständlich die Schuppen von den Pfoten zu lecken.
Simon beugte sich entschuldigend zu der sterbenden Maria herunter. Seine Lippen stammelten hilflose Worte. Seine Augen hielten dem anklagenden Blick der Kreatur nicht stand.
Plötzlich durchzuckte ein stechender Schmerz seine linke Brust. „Nanu, Simon, entdeckst du dein Herz?“, fuhr es dem Fischer in den Sinn, bevor er zu Boden sackte.
Mit aufgerissenen Augen lagen Fisch und Fischer nebeneinander. Beide unfähig sich zu rühren, entdeckten sie in den letzten Augenblicken ihres Lebens ihre Gemeinsamkeit.
„Die Kunst zu sterben“, dachte der fischende Philosoph, bevor er, mit einem Lächeln auf den Lippen, neben der Maräne verschied. Maria folgte ihm kurze Zeit drauf. „Fische sind selbst im Sterben zäh“, dachte sie und dieser Gedanke tröstete sie seltsamerweise. Die Katze zuckte interessiert mit ihrem Schnurrhaar und schwor, ein Lächeln auf dem erstarrten Fischmaul bemerkt zu haben.
Am Sonntag drauf, beim Kränzchen, servierte Odermennig Karpfen in Dillsoße statt Kuchen. Ihre Kinder hatten kurzfristig ihren Besuch abgesagt, da es unverhofft auf dem Harzer Brocken geschneit hatte und sie ihre teure Skiausrüstung nicht ungenutzt lassen wollten.
Odermennig ging in Schwarz und nahm mit bescheiden gesengtem Haupt die obligaten Beileidsbekundungen entgegen. Sie genoss das Mitleid in demütiger Haltung und flüstere nur hin und wieder: „Wer hätte das gedacht, dass er so ein schwaches Herz hatte. Und ich habe mir Sorgen gemacht, wer sich um ihn kümmert, wenn ich vor ihm gehe. Ach, aber die Wege des Herrn sind unergründlich, nicht wahr? Es ist sicher besser so, auch wenn es mir selbst fast das Herz bricht.“
Dann flossen ein paar Tränen ihre dicken Backen herunter, während sie sich noch etwas Karpfen und Dillsoße auf ihren Teller lud.