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Die Mauer der Erlösung
Der fünfte Tag nach Beginn der Aushubarbeiten geht langsam zu Ende. Die Mauer wirft bereits einen langen Schatten auf die andere Seite, ich entlasse meinen Körper für heute von seinem Dienst an ihr. Als ich einen Schritt zurücktrete, entweicht die Anspannung aus mir wie Luft aus einem Ballon. Ich spüre meine weichen Knie, sie zittern, ich kann kaum noch stehen. Meine trockenen Lippen erinnern mich daran, dass ich seit heute Morgen nichts mehr getrunken habe. Kraftlos sacke ich auf der Wiese zusammen und starre auf die aufeinander geschichteten Steine. Die Leere in mir wird von etwas Warmen eingenommen. Die Freude über dieses einwandfreie Bauwerk spült meine Erschöpfung davon und richtet mich auf. Ich nehme wahr, wie das Blut in mir pulsiert und die Wärme sich in meinem ganzen Körper ausbreitet.
Es ist so wichtig, dass sie schön wird. Nicht meinetwegen, ich brauche sie nicht, ob schön oder hässlich. Aber die anderen, sie müssen sie mögen. Das ist einfacher, wenn sie schön ist. Ich mustere sie von oben bis unten. Ich muss meinen Kopf weit nach links und rechts drehen, um sie in ihrer vollen Länge zu erfassen. Gibt es etwas, was mehr Ordnung ausstrahlt, als eine im Halbstein-Verband gebaute Mauer? Jeder der gleichförmigen Quader liegt exakt mittig über den beiden unter ihm, Kante auf Kante, millimetergenau ausgemessen. Die Gliederung dieser Mauer wird auch wieder Ordnung in das Leben der anderen bringen, da bin ich mir sicher.
Ich löse meinen Blick von ihr und schaue suchend über die Wiese. Ich bin allein. Das ist gut so, sie würden es nicht verstehen. Die Wasserwaage, mit der Hanno mir heute assistiert hat, liegt zurück gelassen im Gras nahe dem Spachtel und den Steinhaufen. Überrascht sehe ich, dass neben dem Werkzeug noch eine angebrochene Flasche Wasser steht. Ich greife sie mir, nehme mehrere große Schlücke und lasse die Flüssigkeit genüsslich meine Kehle herablaufen. Den Rest gieße ich über mein Gesicht, mit ein paar Tropfen wische ich Sand von einem der Steine. Drei Tage lang haben wir das Fundament kaum aus den Augen gelassen, es vor Sonne, Sturm, Regen und anderen Gewalten beschützt und es regelmäßig mit einem Wasserstrahl besprüht. Wie oft haben wir die Plastikplane, die der Wind immer wieder herab geweht hat, vom Boden aufgehoben und sorgsam über das Fundament gebreitet. Und heute konnten wir mit den Mauerarbeiten beginnen, endlich. Ich lächle zufrieden, stehe auf, streiche mit meiner Hand sanft über die rauen, aber dennoch ebenen Steine und würde mich am liebsten auf die Mauer hocken. Ich lasse es bleiben, sie ist noch nicht stabil genug.
Erst jetzt merke ich, wie sehr es sich schon abgekühlt hat und ziehe mir meinen Pullover über. Ich begutachte meine Hände, sie haben Blasen, es schmerzt, wenn ich die Finger bewege, ich schließe sie zu einer Faust und strecke sie wieder. Sie sind schmutzig, unter den Nägeln haben sich Mörtelreste gesammelt. An meiner Hose kleben Zement, der Staub der Steine und Grashalme, mein Schweißgeruch verdrängt fast die Ausdünstungen der Baustoffe. Ich bin stolz auf all das. Es beweist, was für einen Einsatz ich bringe, um sie zu retten. Ich atme tief ein und aus, ich atme das Leben, ich atme die Mauer ein. Ich dehne meinen beanspruchten Körper, strecke mein Arme in Richtung Abendhimmel und spüre, dass ich da bin. So sehr, wie ich es selten war. Hier, in meinem Körper, und dort, manifestiert in den ersten Reihen unserer Mauer. Gibt es etwas Schöneres, als etwas uneigennützig zu schaffen, etwas unter seinen Händen wachsen zu sehen, was den Menschen zu Gute kommen wird? Es ist so befriedigend, etwas zu tun und die Ergebnisse unmittelbar vor Augen zu haben. Ein Spatz nähert sich und landet auf der Mauer. Ich klatsche in die Hände und er fliegt davon, ich mag sie nicht mit ihm teilen, die makellosen Steine durch Vogelkot besudelt sehen.
Ich habe nicht die geringste Lust, zu den anderen zu gehen, die den Geräuschen nach bereits beim Abendessen sind, also lasse ich es und setze mich wieder auf den Boden. Ich sehe die Sonne auf der anderen Seite sinken. Das sieht hübsch aus, sie segnet unsere Mauer mit ihrem rot-goldenen Schein. Dennoch ärgere ich mich. Ich kann selbst im Sitzen noch über die Mauer und auf das Feld schauen. Das wird sich bald ändern, hoffentlich morgen schon. Mir macht der Anblick des Bösen nichts aus, aber die anderen müssen vor ihm geschützt werden. Sie sind nicht stark genug. Die Schönheit der ockerfarbenen Kalksandsteine, so ebenmäßig, so perfekt, sie haben den besitzergreifenden Segen von oben gar nicht nötig. Als ich lange Zeit später in unsere Hütte zurückkehre, ist von den Jungs niemand mehr da, die Skatkarten liegen verlassen auf dem Tisch, auch in denen Hütten der anderen scheint kein Licht mehr. Ich bin dankbar, nicht aus meiner Euphorie gerissen zu werden und gehe ins Bett.
Am sechsten Tag nach Beginn der Verwirklichung des Plans rufen mich die ersten Sonnenstrahlen zu unserer Mauer. Von den Zehenspitzen krabbelt Tatkraft in mir hoch und die Gewissheit, dass es auf den heutigen Tag ankommen wird. Heute werden wir vorankommen müssen, bevor der erste Frost uns überraschen und sich gegen die Mauer stellen wird, vielleicht schon in wenigen Nächten. Bis dahin muss sie verfugt und abgedichtet sein. Ungeduldig strample ich die Decke von mir, schlüpfe in meine Arbeitskleidung und tapse über die kalten Holzpanelen in die Küche. Hanno liegt in seinem Bett und schläft, ich lasse ihn liegen, noch kann ich ihn nicht gebrauchen.
Ich schaue aus dem Fenster, rüber zu den Hütten der anderen. Es ist noch niemand zu sehen, auch nicht zu hören. Die Kaffeemaschine ist leer, das Brot nicht aufgetaut, der Frühstückstisch nicht gedeckt. Ärgerlich öffne ich den Kühlschrank. Hatten wir nicht vor Beginn des Projekts die Aufgaben genau verteilt? Wenn sie schon zu dämlich sind, das Fundament zu legen und die Mauer zu bauen, können sie mir nicht wenigstens den Rücken frei halten von solchen Arbeiten? Ich meine, mich erinnern zu können, dass gestern Morgen Annetta den Kaffee gekocht und Luise mürrisch das Geschirr gespült hat, nachdem ich ihr, halb im Scherz, ein wenig Wasser ins schlafende Gesicht gespritzt hatte. Vielleicht war es auch vorgestern. Die Disziplin nimmt von Tag zu Tag ab, genau das hatte ich befürchtet. Sie haben immer noch nicht verstanden, warum wir diese Mauer brauchen. Zu dumm, dass ich auf sie angewiesen bin. Alleine würde ich es nie rechtzeitig schaffen. Es muss auch ohne Frühstück gehen, ich trinke nur ein Glas Orangensaft. Ich verlasse die Hütte und gehe mit großen Schritten auf die Wiese. Je näher ich der Mauer komme, umso leichter wird mein Gang. Andächtig stelle ich mich vor sie, begutachte erfreut die vollkommenen Proportionen und genieße es, etwas geleistet zu haben. Ich fühle mich so leicht, so schwerelos, mein Leben hat einen Sinn bekommen durch diese Mauer.
Ich kippe aus dem Eimer etwas Wasser zum Zement, füge Sand hinzu, verquirle alles zu einer glatten Masse und beginne mit der Arbeit. Mit Tom und Hans kann ich heute wohl nicht rechnen. Gestern hatten sie mir geholfen, sie wollten es zumindest. Die Folgen waren fatal. Die Dichtschlämme für den Sockel hatte die falsche Konsistenz, die Richtschnur war schief gespannt, die Fugenbreite zwischen den Steinen variierte zwischen 8 und 14 Millimetern. Zum Glück habe ich es rechtzeitig gesehen und konnte das Schlimmste verhindern. Ich habe sie von der Wiese gejagt, sie sind beleidigt abgezogen. Es hätte mich zuviel Zeit gekostet, mir etwas auszudenken, bei dem sie mit hundertprozentiger Sicherheit keine Fehler gemacht hätten. Nicht, weil sie es nicht können, einfach aus Nachlässigkeit, was es noch schlimmer macht. Ich rief ihnen noch hinterher, dass sie sich um das Essen kümmern, den Einkauf erledigen, die Frauen bei Laune halten sollten. Was auch immer. Ich konnte jedenfalls nicht zulassen, dass sie sich an unserer Mauer vergingen.
Hanno kommt zu mir, wenigstens er. Ich beauftrage ihn, die Schubkarre zu holen, mit ihr transportieren wir die Steine zur Mauer und schichten Stein auf Stein, immer versetzt, aufeinander. Sie wächst von Stunde zu Stunde, mehrmals rühren wir neuen Mörtel an. Als die Sonne bereits senkrecht auf die Mauer knallt und mir der Schweiß das Gesicht herunter rinnt, lasse ich mich zu einer kurzen Pause ins Gras sinken. Im selben Moment merke ich meine Verspannung im Nacken, rolle meine Schultern, spüre meinen Muskelkater in den Oberschenkeln und den Armen. Meine Hände sind rau wie Schmirgelpapier und zerkratzt. Hanno ist nicht mehr da. Die anderen habe ich vorhin an mir vorbei huschen gesehen, er ist wohl mit ihnen gegangen. Ich erinnere mich dunkel, dass sie mich angesprochen und aus meiner Konzentration gerissen haben. Als ob ich auch nur einen Funken meiner Aufmerksamkeit von unserer Mauer wenden könnte. Gut, dass sie weg sind, so brauche ich ihnen nicht lang und breit zu erklären, was sie wie zu tun haben. Überhaupt verstehe ich ihre Skepsis nicht. Ich habe tagelang versucht, sie von der Notwendigkeit der Mauer zu überzeugen, umsonst. Wie soll man etwas bauen, von dessen Existenz man nicht überzeugt ist? Am besten gar nicht, das hat die Erfahrung mit Tom und Hans mir gezeigt. Neben mir steht ein Tablett mit etwas Obst und Brot, das wird eine der Frauen für mich hingestellt haben.
Ich schäle mir eine Banane und lasse meinen Blick auf ihr ruhen. Erstaunlich, was für eine Kraft hier freigesetzt wurde. Ich glaube nicht, dass am Anfang das Wort war, wie im Buch Genesis behauptet wird. Worte, was richten Worte schon aus. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen das Feld hinter der Wiese nicht betreten, und mein Wort hatte keine Konsequenz. Worte setzen immer voraus, dass es ein Gegenüber gibt, das willens und fähig ist, sie aufzunehmen, zu verstehen und in Handlungen umzuwandeln. Andernfalls ist jede Silbe umsonst. Die Gefahr überstieg ihren Horizont, sie begriffen es nicht, also übertraten sie immer wieder die Grenze. Am Anfang war nicht das Wort, am Anfang war die Kraft. Die Kraft und ihre Transformation in Handlung. So muss auch ich jetzt Tatsachen schaffen, die sie nicht länger leugnen können. Ich muss das Böse von ihnen fernhalten. Sie werden mir dankbar sein, später. Ich werde immer derjenige sein, der ihnen diese Mauer geschenkt und sie damit vor ihrer Schwachheit geschützt hat.
Von dieser Aussicht mit neuem Elan erfüllt, raffe ich mich auf und verschwinde kurz auf der Toilette. Meine Gefühle überschlagen sich, als ich mich aus der Entfernung wieder der Mauer annähere. Aus der Distanz kann ich das ganze Szenario erst richtig aufnehmen. Sie zieht mich in ihren Bann, ihr Anblick erfüllt mich mit Heil, sie ist ein Teil von mir und ein großer Teil von mir, meinen Zielen, steckt in ihr. Mit ihrer Hilfe wird es mir endlich gelingen. Sie ist bereits einen Meter hoch und etliche Meter lang, jeder einzelne Stein hat seinen Platz im Gefüge. Eine eindeutige Begrenzung, die sie an das Verbot erinnern wird, viel höher muss sie nicht werden. Als ich vor ihr stehe und gerade die nächste Schicht Mörtel auftragen will, halte ich irritiert in der Bewegung inne. Es sind Spuren auf der Wiese, auf der Mauer und auf dem Feld hinter ihr. Schuhabdrücke, in unterschiedlichen Größen. Sie sind frisch, ich kann es nicht fassen. Während der letzten drei Minuten müssen sie sich über die Mauer davon gestohlen haben. Sie haben tatsächlich das Feld betreten, schon wieder. Ich habe ihre Dummheit unterschätzt. Ärgerlich schmeiße ich den Spachtel ins Gras und laufe mit großen Schritten an der Mauer entlang, auf und ab. Es hat keinen Sinn, es bei der Höhe zu belassen, ein Symbol des Verbots reicht nicht aus. Wie gedankenlos von mir, das nicht berücksichtigt zu haben. Ich muss es ihnen unmöglich machen, das Hindernis zu überwinden. Die Mauer muss höher werden, viel höher, so hoch, dass sie sie nicht bezwingen können. Eine Festung, eine Festung gegen das Böse. Ich mache mich an die Arbeit, ich muss sie retten und schichte eine Reihe über die andere, Stunde um Stunde, ich forme mit meinen Händen ihre Erlösung. Es wird Nachmittag, es wird Abend, mittlerweile wird jede einzelne Bewegung zum Kampf, meine Mauer zieht meine gesamte Kraft in sich ein. Aufgezehrt überzeuge ich mich davon, dass man im Sitzen den Sonnenuntergang nicht mehr sieht, mache mir in der Küche ein Brot, trinke ein Glas Milch und schleiche mich ins Bett, um Hanno nicht zu wecken. Ich schlafe augenblicklich ein.
Am nächsten Morgen spüre ich meinen geschundenen Körper bereits beim wach werden, ich fühle mich, als wäre ich in den letzten Tagen um Jahre gealtert. Meine Glieder schmerzen, meine Schultergelenke lassen sich kaum bewegen, die Blasen in meinen Händen sind aufgeplatzt, ich werde Probleme haben, den Spachtel zu greifen. Außerdem friere ich. Aber ich habe keine Wahl, mein kostbarstes Werkzeug wird in den nächsten Tag gebraucht, trotz seiner Verschleißerscheinungen werde ich ihm Höchstleistungen abverlangen. Langsam bewege ich meine schweren Beine aus dem Bett und stehe auf. Während des Anziehens erinnere ich mich an meinen Traum von heute Nacht. Ich träumte, die Kinder würden meine Mauer anmalen, mit bunten Blumen, blauem Himmel, gelber Sonne. Alle zusammen tanzten wir anschließend Hand in Hand auf der Wiese. Ich danke Gott für diese Eingebung. Eine bunte Mauer würde sie tatsächlich fröhlicher machen. Ich werde den Kindern nachher vorschlagen, die Mauer zu bemalen, natürlich erst nach ihrer endgültigen Verfugung. Nicht, dass ich eine bunte Mauer bräuchte. Wenn ich es mir genau überlege, ekelt es mich fast davor, die vollkommene Maserung der Steine zu zerstören. Aber wenn es der Sache dient, soll es mir recht sein. Ich gehe in die Küche, das Feuer ist noch nicht angemacht, in der Spüle stapelt sich das Geschirr der letzten Tage, vom Frühstück natürlich keine Spur. Es war eine schlechte Idee, die gemeinsame Küche in unserer Hütte einzurichten, eine sehr schlechte Idee. Frühstück hätte mich allerdings heute eh nur wertvolle Zeit gekostet.
Auf meinem Weg zur Mauer treffe ich niemanden. Ich weiß gar nicht, wann ich zuletzt jemanden zu Gesicht bekommen habe, außer Hanno natürlich. Ich kann weder sagen, was für ein Datum wir haben, noch, was für einen Wochentag. Es ist der siebte Tag nach Beginn des Mauerbaus. Bereits auf der Mitte der Wiese frage ich mich beunruhigt, ob ich mir die Verfärbungen auf einigen Steinen nur einbilde. Ich überwinde die letzten Meter im Laufschritt. Gelbe Flecken, weiße Kleckse, beides scheint eine merkwürdige Konsistenz zu haben. Vorsichtig fahre ich mit einem Finger über die Stellen. Sie sind klebrig. Als meine Augen auf den Boden gleiten, entdecke ich die weißen Schalen im Gras. Ich knie mich hin und hebe sie auf. Eierschalen. Was war das? Wer war das? Und was wollten sie damit bezwecken? Ungläubig starre ich auf die Mauer. Wie in Trance beginne ich, den Bau fortzusetzen. Mein Körper funktioniert, ohne dass ich es ihm sagen muss. Kurz treibt mich Wut an, aber nach einigen Steinen ist sie verebbt. Sie sind zu beschränkt, um das große Ziel zu begreifen, sie können nichts dafür. Mitleid muss ich mit ihnen haben, mehr nicht. Es ist meine Aufgabe, stärker zu sein als ihre Torheit. Und schneller, vor allen Dingen schneller. Ihre Sabotage spornt mich in meiner Arbeit an und setzt weitere Kräfte frei, ich nähere mich dem Optimum meiner Leistungskraft. Nach wenigen Minuten halte ich inne, um die Eierflecken von den Steinen zu entfernen, sie lenken mich ab. Ich rufe nach Annetta und Luisa, sie sollen mir helfen, aber sie hören mich nicht. Auch die Kinder, denen ich meine Malaktion vorschlagen will, reagieren nicht auf meine Rufe.
Gegen Mittag registriere ich, dass meine Arbeit von Musik begleitet wird. Nach einer Weile erkenne ich erfreut, dass es Pink Floyd ist. Ein Lied zu Ehren meiner Mauer - vielleicht haben sie es doch endlich verstanden. Ich beeile mich, sie hochzuziehen, unter Darbietung all meiner Anstrengung, schleppe Steine, trage Mörtel auf, positioniere die Steine akkurat, Stein auf Stein, Reihe um Reihe, stundenlang. Jeder einzelne Handschlag ist ihr gewidmet. Wir verschmelzen miteinander, ich schenke ihr meinen Körper, sie gewinnt immer mehr Profil und wird zum Abbild meines Ichs. Meine Energie verteilt sich zusammen mit dem Mörtel zwischen den Steinen, meine Hände bewegen sich automatisch, ich existiere in einer Intensität wie niemals zuvor. Wenn einer der anderen zumindest die Steine vornässen würde, dann müsste ich sie nicht selbst in den Wassereimer tunken, aber es ist niemand da. Und feucht müssen sie gemacht werden, damit sie den Mörtel nicht aufbrennen, das hatte mir Tom vor einigen Tagen erläutert. Gut, dass ich seine Erklärungen jetzt nicht mehr brauche. Wenn die Steine so saugfähig sind, vielleicht saugen sie dann nicht nur meine Arbeitskraft und das Wasser, sondern auch das Böse auf der anderen Seite auf. Ich schmunzle, der Gedanke gefällt mir. Mein Rücken wehrt sich gegen jedes Bücken, mein ganzer Körper schmerzt. Ich sage mir immer wieder, dass er ein Mittel zur Überwindung des Bösen ist und in den Dienst der Mauer gestellt werden muss. Meine physischen Grenzen müssen nochmals erweitert werden. Ich bin zornig. Die Qualen sind nicht schlimm, schlimm ist nur, dass sie den Fortschritt der Arbeiten beeinträchtigen und ich langsamer werde. Im Gegenteil: Leiden ist wundervoll, wenn man weiß, dass man es für etwas Großes tut. Meine Schmerzen sind Zeugnis für das Gute in dieser Welt, ein Opfer für die Überlegenheit des Guten und die Überwindung des Bösen. Die Mauer ist größer als all meine profanen Gebrechen, die in wenigen Tagen Geschichte sein werden.
Es wird viel zu früh dunkel, ich bin eigentlich noch nicht fertig. Meine Schmerzen spüre ich nicht mehr, meine Aufgabe stärkt mich von innen und gibt mir den Halt, den mein Körper mir nicht mehr geben kann, ich bin eins mit der Energie. Ich versuche, mir mit der linken Hand zu leuchten und mit der rechten zu arbeiten, aber es funktioniert nicht. Ich werde die anderen nicht bitten, mir zu helfen, ganz bestimmt nicht. Sie sind der Arbeit an meiner Mauer nicht würdig. Aufgebracht werfe ich die Lampe von mir und sehe ein, dass es das war für heute. Wenigstens kann man jetzt kaum noch über die Mauer schauen. Sie wären auch zu schwach, um noch länger dieser Versuchung standzuhalten. Wie herrlich, dass ich sie ausgerechnet durch so etwas Schönes vom Bösen trennen kann. Vielleicht kann das Böse angesichts dieser makellosen Mauer gar nicht mehr existieren? Das wäre wunderbar. Die Mauer wird sie erziehen. Menschen müssen ein Leben lang erzogen werden, das war mir schon immer klar. Es reicht nicht, ihnen zu sagen, sie sollen dieses oder jenes unterlassen. Sie müssen daran gehindert werden, das Falsche zu tun. Das Verhalten der Menschen lässt sich nur regulieren, wenn man die äußere Realität verändert und sie darauf reagieren müssen, notgedrungen. Ich habe nie verstanden, warum Gott den Menschen ihren freien Willen gelassen hat, auch nach dem Sündenfall noch. Der Mensch, so wie er ihn geschaffen hat, ist gar nicht in der Lage, mit seiner Freiheit verantwortlich umzugehen. Ständig macht er sich schuldig, weil er vom Weg abkommt. Nun, einige wenige Menschen gedenke ich mit Hilfe dieser Mauer auf die richtige Spur zu bringen. Was für eine erhabene Mission. Erschöpft schleppe ich mich in die Hütte zurück und schlafe ein mit der Sicherheit, der Rettung heute ein gutes Stück näher gekommen zu sein und der Menschheit gedient zu haben.
In der Nacht vom siebten auf den achten Tag werde ich durch ungewöhnliche Geräusche geweckt. Ich integriere sie in meinen Traum, mein entkräfteter Körper weigert sich einige Sekunden lang, seinen erholsamen Schlaf zu beenden. Langsam werde ich wach und lausche irritiert den Klängen, die von der Wiese hereindringen. Ein Schlagen und Klopfen, wie von Metall auf Stein, dann immer wieder lautes Gepolter. Zwischendurch Töne, die mir irgendwie bekannt vorkommen. Sie kommen eindeutig von meiner Mauer. Sie erinnern mich an einen Bohrhammer. Von einem Moment auf den anderen bin ich munter und sitze senkrecht im Bett. Ein Bohrhammer? Alarmiert springe ich hoch, verheddere mich beim Losrennen mit den Füßen in meiner Decke, falle auf den Boden, raffe mich wieder auf. Hanno ist nicht in seinem Bett. Ich laufe im Pyjama aus der Hütte, blicke auf die Wiese und sehe Menschen vor der Mauer. Ich bleibe wie erstarrt stehen. Eine Frau hangelt sich an ihr hoch, ein Mann reicht ihr Kinder an.
„Schnell! Kommt schnell her, die Mauer! Helft mir!“, brülle ich, um sie aus ihren Hütten hervorzuholen. Niemand rührt sich, ich renne weiter Richtung Mauer, Gesichter zeichnen sich in der Dunkelheit ab. Ich erkenne die anderen, Annetta, Luise, Tom. Ich habe sie seit Tagen nicht mehr gesehen, das fällt mir jetzt auf. Ich erblicke nur noch Annettas linkes Bein, und auch das verschwindet hinter der Mauer. Ungläubig starre ich es an. Was tut sie da bloß? Nun sehe ich auch den Grund für die Geräusche. Hanno und Hans bearbeiten meine Mauer mit einem Bohrhammer. Hanno. Stein um Stein kracht zusammen, Brocken um Brocken fällt zu Boden. Tom hilft mit seinen Händen nach, ich höre die Musik von gestern Mittag wieder. Annetta tanzt mit den Kindern bereits auf dem Feld, als der letzte Stein fällt und die anderen in Jubelschreie ausbrechen. Ich stehe immer noch bewegungslos ein paar Meter entfernt und bin nicht in der Lage zu handeln. Dann sinke ich langsam auf die Knie und bitte um Vergebung für ihr Vergehen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Während die anderen ihrem Untergang entgegen laufen, dringt ein markerschütternder Schrei aus meinem Mund.