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Die minzgrüne Tür
Mit eiligen, gleichmäßigen Schritten näherte er sich der minzgrünen Tür am Ende des Gangs.
Der hallenartige Flur echote das Auftreffen seiner Absätze auf dem kühlen, glatten Steinfußboden während er die hohen, rechteckigen Fenster zu seiner linken und die Türen der Klassenzimmer zu seiner rechten passierte.
Seine rechte Hand umfasste einen Lederkoffer, der mit seinen Bewegungen mitschwang.
Als er bei der Tür angekommen war, blieb er stehen und blickte auf seine Armbanduhr: Es war sieben nach Acht.
Er streckte die freie Hand nach der Klinke aus, als er hinter sich die hölzerne Eingangstür der Schule zufallen hörte, woraufhin er sich umdrehte.
Ein Junge mit erdgrüner Kappe bog in den Gang ein, rannte ihn keuchend entlang, passierte den Mann ohne ihn anzusehen und wollte die Stufen hinauflaufen.
„Halt!“
Der Schüler erstarrte in der Bewegung.
„Komm’ her!“
Er gehorchte, den Blick gesenkt.
„Wie spät ist es?“
Der Junge antwortete nicht.
„Sieh’ mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“
Der Junge gehorchte erneut und sah nun eingeschüchtert in die himmelblauen, aus den Höhlen quellenden Augen des rotgesichtigen Mannes.
„Wie spät ist es?“
Der Mann hatte sich zu ihm hinuntergebeugt, sodass er nur noch dessen harten Blick wahrnahm.
An der Wand hing eine der tortenförmigen Funkuhren, zu welcher der Junge nun aufblickte.
„Sieh’ mich gefälligst an!“
Das Kind zuckte erschrocken zusammen, aus den Tränenkanälen quoll das erste Nass.
„Hör’ auf zu weinen! Wie heißt du?“
„ . . . niel . . . Daniel“, presste er seinen Namen aus der trockenen Kehle.
„Warum bist du zu spät?“
„ . . .“
„Antworte!“ Die Stimme des Mannes brach.
Eine der Türen am Gang öffnete sich, als er Daniel die Mütze vom Kopf riss.
„Was ist hier los, Herr Einwaller?“, fragte eine kleine, rundliche Frau, deren schwarze Haare bis zu ihrem Kreuz hinabhingen.
Einwaller richtete sich auf und starrte sie wortlos an, weswegen sie näher kam.
Auf Daniels feuchten Handrücken spiegelte sich das überflüssige Deckenlicht, während er mit gebeugtem Körper stoßweise atmend vor dem Lehrer stand.
„Es ist schon gut,“ tröstete ihn die Frau, die ihm zärtlich über den Kopf strich.
Dann riss sie Einwaller die Kappe aus der Hand, beugte sich ein wenig zu dem Jungen hinab, setzte ihm die Mütze auf und wischte ihm lächelnd seine Tränen weg.
Daniels Atmung wurde entspannter und gleichmäßiger.
Die Lehrerin versuchte seinen Blick aufzufangen.
„Wie heißt du?“
„Daniel“, murmelte er.
„In welche Klasse gehst du?“
„1b.“
Sie legte ihren Zeigefinger unter sein Kinn und zog es leicht nach oben, sodass er nun in ihre freundlichen Augen sehen konnte.
„Geht’s dir besser?“
Daniel nickte leicht.
Die kleine Frau griff in ihre Jackentasche und gab ihm eine Münze.
„Geh’ hinunter zum Cola-Automaten und kauf’ dir was zum Trinken.“
Sie kniff Daniel sanft in die Wange, dann ging er die Stufen hinab ins Untergeschoss.
Einige ihrer Schüler hatten die Szene durch die offene Tür beobachtet, die sie ihnen mit einer Handbewegung zu schließen befahl.
Dann wandte sie sich Einwaller zu, der die ganze Zeit nur ratlos schweigend daneben gestanden war.
„Was soll das? Sie können doch ein Kind nicht so anschreien!“
„Aber er war zu spät“, murmelte er, den Blick gesenkt.
„Ja und! Deswegen müssen Sie ihn doch nicht gleich zum Weinen bringen!“
„Tut mir Leid“, antwortete Einwaller mit fast unbewegten Lippen.
Wie zuvor bei Daniel, versuchte die Lehrerin nun seinen Blick aufzufangen.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie mit besorgter Stimme, woraufhin Einwaller mit einem leichten Nicken antwortete.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und drehte ihn leicht Richtung minzgrüner Tür.
„Gehen Sie zu Ihren Schülern, ich kümmere mich um den Kleinen.“
Ohne Gruß schlich Einwaller auf die Tür zu, vor der er wieder etwas Haltung annahm.
Als er die Klasse betrat, erhoben sich die blauuniformierten Schüler zögernd von ihren Sitzen und verfolgten ihren Lehrer mit fragenden Blicken auf dem Weg zu seinem Tisch.
„Setzt Euch“, befahl er in schwachem, fast bittendem Ton.
Er nahm einige Unterlagen aus seinem Koffer und stellte ihn dann unter den Schreibtisch, auf dem er etwas suchte.
„Wo ist das Klassenbuch?“, sagte er mehr zu sich selbst.
Schweigen.
„Hol’ bitte das Klassenbuch aus dem Lehrerzimmer, Anna.“
Von ihrem Platz, der sich direkt gegenüber dem Lehrertisch befand, erhob sich ein brünettes Mädchen mit freundlichen, tiefbraunen Augen und verließ mit weiten Schritten das Zimmer.
Einwaller warf einen schnellen Blick auf seine Uhr, überlegte einen Moment, dann befahl er den Schülern sich zum Gebet zu erheben.
Es war dreizehn nach Acht.
An der Wand hinter dem Lehrertisch hing links von der Tafel ein Kreuz, dem sich Einwaller mit betenden Händen zuwandte, um dann ein hastiges Kreuzzeichen zu machen.
„Vater unser, der du bist . . .“, setzte er an und gemeinsam mit der Klasse sprach er das Gebet zu Ende.
Bei den letzten Worten war das Mädchen mit dem Klassenbuch zurückgekommen und hatte, bei der Tür stehend, mitgebetet.
Danach übergab sie es ihrem Lehrer und setzte sich wieder auf ihren Platz.
Einwaller führte eine Anwesenheitskontrolle durch und trug einen krankgemeldeten Jungen ein.
„Nehmt bitte Eure Hausaufgabenhefte heraus.“
Die meisten hatten die Hefte bereits auf ihren Tischen liegen, manche kramten noch in ihren Schultaschen und Bankfächern, begleitet von Gemurmel.
„Das geht auch ohne reden.“
Nachdem alle ihre Hefte vor sich liegen hatten und es still geworden war, ließ Einwaller seinen skeptischen Blick durch die Klasse gleiten.
„Wer hat die Hausaufgabe nicht gemacht?“
Zwei Hände wurden gehoben.
Eine gehörte einem anämischen Mädchen mit langem, filzigem Haar, das zu einem Zopf gebunden war, die andere einem schmächtigen Jungen mit femininen Zügen, der abwesend vor sich hin starrte.
„Meine zwei Lieblinge“, sagte Einwaller mit zynischer Boshaftigkeit.
„Was sind denn diesmal eure Entschuldigungen? Cornelia!“
Das Mädchen zuckte erschrocken zusammen.
Sie hatte die Ärmel ihres Pullovers bis zu den Fingern gezogen, die nun, beobachtet von ihren schuldbewussten Augen, nervös miteinander spielten.
„Na, was is’! Wird’s bald!”
“Ich hab’ keine Zeit gehabt”, murmelte sie ohne aufzublicken.
„Sieh’ mich gefälligst an, wenn du mit mir redest!“
Wie wenige Minuten zuvor Daniel, gehorchte auch sie.
„Also, warum hast du keine Zeit gehabt?“
Anna sah wieder auf ihre Finger, nur hatte sie mittlerweile ihre Schultern etwas nach vor gezogen und ihre Hände zurück.
„Antworte!“
„Tut mir Leid.“
„Was!“
„Tut mir Leid“, murmelte sie erneut.
„Dir wird’s erst leid tun, wenn du deinen Eltern erklären musst, warum du durchgefallen bist!“
Dann wandte er sich dem Jungen zu, der in der letzten Reihe am Eck saß.
„Und, was is’ deine Ausrede, Alexander!“
„Ich heiß’ Alex.“
„Was!“
Einwaller schritt zügig auf den frechen Schüler zu.
„Was hast du gesagt!“, brüllte er Alex, neben ihm stehend, an.
„Ich heiß’, Alex“, wiederholte der, gleichgültig seinen Lehrer ignorierend, während er dessen Speicheltropfen mit seinem Ärmel vom Tisch wischte.
Einwaller schlug wütend mit der flachen Hand auf die Tischplatte, sodass alle Schüler erschrocken zusammenzuckten. Auch Alex.
„Was hast du gesagt!“
In dem Moment wurde die Tür geöffnet und ein unrasierter, ernster Mann mit schwarzer Brille betrat den Raum.
„Was ist hier los, Gerd?“ Sein strenger Blick wechselte zwischen Einwaller und Alex.
„Nichts, ich erledige das schon“, beschwichtigte ihn Einwaller.
„Komm’ bitte kurz raus.“
Der Mann verließ das Klassenzimmer.
Einwaller folgte ihm unbehaglich. Schweiß rann seinen heißen Körper hinab.
„Warum schreist du so mit deinen Schülern, Gerd?“
Der Mann sprach, sich des Halls bewusst, mit gesenkter, ruhiger Stimme.
Einwaller stand mit hängenden Schultern und gerötetem Gesicht vor ihm.
„Sie haben keinen Respekt vor mir, Martin.“
„Warum glaubst du das?“, fragte sein Gegenüber, strammstehend wie ein Armeeoffizier.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“
Die Lehrerin mit den langen Haaren war aus ihrer Klasse gekommen, deren Tür sie dieses Mal hinter sich geschlossen hatte.
„Haben Sie vorher so geschrieen, Herr Einwaller?“
Der andere Lehrer beantwortete ihre Frage mit einem bestätigenden Blick.
„Was ist denn heute mit Ihnen los?“ Sie legte Einwaller ihre Hand auf die Schulter.
Da er weiterhin schwieg, übernahm Martin die Initiative.
„Geh’ wieder in die Klasse und mach’ die Stunde fertig, Gerd. Ich rede mit Frau Graumann und sag’ ihr, dass du dich nicht wohl fühlst.“
Dann fiel ihm ein: „Hast du heute überhaupt noch eine Klasse?“
„Die 2b in der zweiten Stunde“, antwortete Einwaller mit schwacher Stimme.
Als Einwaller wieder das Klassenzimmer betrat, musterten ihn die Schüler. Manche fragend, irritiert, andere verachtend, aber keiner sagte etwas.
Die Stille wurde nur von passierenden Autos durchbrochen, die auf der Hauptstraße neben der Schule entlangfuhren.
„Anna, bitte lies vor, was du geschrieben hast.“
Einwaller hatte mit dem Läuten grußlos das Klassenzimmer verlassen, musste aber warten, bis sein Freund den Unterricht beendet hatte.
Einige Schüler aus seiner Klasse, größtenteils Raucher, stürmten kurz nach ihm auf den Gang und von dort die Stufen hinunter, da sich im Halbstock die Tür zum Hof befand.
Andere blieben in der Klasse oder standen davor und tratschten, manche gingen in den ersten Stock zum Buffet.
„Du kannst gehen. Ich hab’ mit Frau Graumann gesprochen. Die Wondratschek vertritt dich die eine Stunde“, sagte Martin, nachdem er endlich herausgekommen war.
Einwaller nickte: „Danke.“
Martin packte freundschaftlich seinen Oberarm.
„Geh’ nach Hause, ruh’ dich aus und mach’ dir keine Sorgen. Jeder hat einmal einen schlechten Tag.“
Einwaller nickte wieder, verabschiedete sich und schlenderte mit hängendem Kopf den Gang entlang.
Den Heimweg legte er zu Fuß zurück, wohnte er doch unweit der Schule.
Zu Hause angelangt, öffnete er die Tür des hüfthohen Metallzauns, ging die wenigen Schritte über den mannbreiten Betonweg, der durch den Vorgarten führte und schloss die Haustür auf, nachdem er die drei Stufen davor überwunden hatte.
Im Vorraum tauschte er seine eleganten Lederschuhe gegen Pantoffel und ging am Wohnzimmer vorbei zur Treppe, die in den ersten Stock führte.
In seinem Schlafzimmer entledigte er sich seines Anzugs, den er sorgfältig aufhing und schlüpfte in einen bequemen Hausanzug.
Dann begab er sich wieder auf den, mit einem Teppich verschönerten, Flur, der durch ein Fenster an seinem Ende erhellt wurde und betrat das Zimmer neben seinem.
Obwohl es draußen taghell war, waren die Vorhänge geschlossen und die, von Nikotin gebräunten, Wände bekamen durch das gelbe Licht einer Nachttischlampe einen noch kränklicheren Farbton.
Das Zimmer war praktisch eingerichtet: ein altmodischer, schwerer Eichenschrank, ein Fernseher und ein Doppelbett.
Als Einwaller den Raum betrat, blickten ihn die ängstlichen Augen einer alten Frau an, deren Hände die Fernbedienung krampfhaft festhielten.
„Guten Morgen, Mutter.“
Sie schleuderte die Fernbedienung nach ihm, traf aber nur die Wand einen Meter neben ihm. Das Gerät blieb unversehrt, nur die Batterieverdeckung sprang heraus.
„Bist du wahnsinnig! Warum erschreckst du mich so! Ich könnte tot sein!“, kreischte die alte Frau Einwaller.
„Tut mir leid, Mutter“, entschuldigte sich ihr Sohn, während er die Fernbedienung reparierte.
„Warum bist du überhaupt schon zu Hause? Du hast gesagt, dass du heute bis zehn in der Schule bist.“
„Ich hab’ mich nicht wohl gefühlt. Eine Kollegin ist eingesprungen.“
„Nicht wohl gefühlt! Nicht wohl gefühlt! Arbeitet eine Stunde und fühlt sich krank! Was glaubst du wie oft ich mich nicht wohl gefühlt hab’ und trotzdem gearbeitet hab’! Totkrank war ich und hab’ gearbeitet! Glaubst du, ich hätte dich und deine Geschwister allein durchbringen können, wenn ich so ein Waschlappen wie du gewesen wär’? Sicher nicht! Du kommst ganz nach deinem Vater: Zeugt drei Kinder und fallt dann tot um, wie’s draufankommt! Wenigstens das Haus hat er mir hinterlassen, aber du, du kannst nicht einmal eine Stunde auf ein paar Bälger aufpassen, ohne dass du dich nicht wohl fühlst!“
Einwaller bewegte sich mit hängendem Kopf auf das Fenster zu, um die Vorhänge zu öffnen.
„Was machst du da, Bub? Lass’ die Vorhänge in Ruh’!“
„Aber es ist schon Tag.“
„Widersprich’ mir nicht! Warum bist du so rücksichtslos! Bringst deine Mutter fast um und widersprichst ihr dann auch noch! Du bist ja nicht einmal ein richtiger Mann, wohnst in deinem Alter immer noch bei deiner Mutter, weilst keinen richtigen Job findest. Aushilfslehrer! Ein Aushilfslehrer bist’, nicht einmal gut genug um ein paar dummen Kindern unsere Sprache beizubringen!“
Einwaller stand kraftlos zwischen Bett und Fenster, wirkte wie eine Schildkröte, die sich in ihren schützenden Panzer zurückziehen wollte.
„Komm’ her.“
Sie nahm eine Schüssel vom Nachttisch.
„Schau’ dir das an!“
Er blickte von der linken Bettseite in die halbvolle Schüssel.
„Komm’ ins Bett hab’ ich gesagt!“
Einwaller zog die Pantoffeln aus und kroch zu seiner Mutter unter die Decke.
„Schau’ dir das an! Das hast du mir heute zum Frühstück vorgesetzt!“
Er nahm die Schüssel und fuhr mit dem Löffel durch das Müsli, in dem aufgeschnittene Mandarinen, Kiwi, Bananen und Äpfel mit Haferflocken in, von geschmolzener Schokolade, verfärbter Milch schwammen.
„Na, was sagst denn nix?“
„Ich weiß nicht, warum du das Müsli nicht gegessen hast. Es sieht doch ganz normal aus.“
„Ganz normal? Dann kost’ einmal! Die Kiwi und der Apfel sind sauer, die Banane gatschig, die Mandarinen zäh und die Schokolade war schon geschmolzen wie du mir das Müsli gebracht hast, weil die Milch viel zu heiß war!“
„Tut mir Leid.“
Die Milch war nicht zu heiß gewesen, als Einwaller sie seiner Mutter auf das Zimmer gebracht hatte.
Als er sich zu ihr hinabgebeugt hatte, um sie aufzuwecken, war ihm der Geruch von Fäkalien und getrocknetem Urin in die Nase gestiegen.
Er trug seine Mutter, die aufgrund ihres beschämenden Malheurs noch mehr keifte als sonst, ins Badezimmer, wo er sie entkleidete und wusch.
Nachdem er ihr beim Abtrocknen und Ankleiden geholfen hatte, scheuchte sie ihn aus dem Raum, um sich die Haare föhnen zu können.
Daraufhin war Einwaller in ihr Zimmer gegangen, hatte das Bett abgezogen und die Matratze gewendet.
Da auf der anderen Seite bereits ein Fleck gewesen war, drehte er sie seitwärts, sodass die linke zur rechten Bettseite wurde.
Er nahm eine frische Decke, die er vorsorglich besorgt hatte, sowie Bettwäsche aus dem Eichenschrank und machte das Bett.
Als er merkte, wie spät es bereits war, lief er in sein Zimmer, kleidete sich hastig an, nahm seinen Koffer und verabschiedete sich rufend von seiner Mutter, bevor er die Treppen hinabstolperte.
„Tut mir leid, tut mir leid. Wegen dir lieg’ ich seit Stunden hungernd im Bett! Du willst mich umbringen! Glaubst du, ich merk’ das nicht?“
Einwaller schlug die Decke zurück.
„Was machst du jetzt wieder?“
„Ich geh’ runter und mach’ dir was zum Essen.“
Er schlüpfte in die Pantoffeln und verließ das Zimmer.