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Die Mission
So unerträglich heiß die Tage hier waren, umso kälter konnte es in den Nächten werden. Oft kam es vor, dass die Temperatur innerhalb weniger Stunden um zwanzig Grad fiel, oft auch unter null Grad. Dennoch lagen Frank und ich nachts draußen, in Decken gehüllt, an einem kleinen Feuer, das wir mit getrocknetem Mist und kleinen Holzscheiten am Brennen hielten. Unsere Feuerstelle befand sich etwa einhundert Meter außerhalb des Dorfes auf einer kleinen, kahlen Anhöhe, von der aus man das ganze Dorf überblicken konnte. Aber wenn es dunkel war, sah man nur schwarze Umrisse und hier und da, in vereinzelten Holzhütten, den schwachen Glanz einer Kerze. Alles war still, bis auf das elende Summen des Generators, der neben der Hütte des Missionsleiters am Rande des Dorfes aufgebaut worden war. Man konnte ihn sogar noch bis hierhin hören. Ich hatte nie verstanden, wie Vater Beling diesen unterschwelligen Summton, der einen ständig glauben ließ, eine besonders dicke Fliege schwirre einem um den Kopf, aushalten konnte.
Aber abgesehen davon herrschte auf unserem kleinen Hügel selige Ruhe. Es gab keine Menschen außer uns beiden und wenn die letzten Kerzen im Dorf gelöscht wurden, gab es gar keine Menschen mehr auf der Welt, außer uns.
Ich blickte in den schwarzen Himmel, der vollkommen wolkenlos war, was eigentlich nur nachts vorkam und versuchte ein paar Sternbilder zu erkennen.
„Warum bist du eigentlich hier?“, fragte Frank. Er lag in seine dicke Felldecke gehüllt auf dem Rücken und hatte sich die Arme unter den Kopf geschoben. Seine Augen starrten zum Himmel auf.
Ich überlegte kurz und richtete mich halb auf.
„Ich will helfen“, sagte ich, “helfen und dabei meinen Horizont erweitern, wie man das so schön sagt. Ein paar neue Erfahrungen machen und dabei ein wenig mehr von der Welt kennen lernen.“
Er starrte weiter nach oben und ich fragte mich, ob er mir zugehört hatte. Er schwieg einfach.
Ich überlegte, was ich gerade gesagt hatte. Natürlich war ich hier um zu helfen. Aber ich wusste nicht, ob ich hier war, um mir zu helfen, oder den Menschen, die hier lebten. Vielleicht schloss das eine das andere nicht aus, aber irgendwo spürte ich, dass ich nicht aus reiner Menschenliebe in die Mission gekommen war. Ich wollte etwas von der Welt sehen, natürlich. Aber ich wollte mich auch von etwas überzeugen. Ich wollte das Leid, das man mir zu Hause immer vorgehalten hatte, im Fernsehen, auf Plakaten und auf Flugblättern, selbst sehen, mich mit eigenen Augen davon überzeugen, wie schlecht es Menschen auf dieser Welt gehen konnte, welche Sorgen hier herrschten, welche Verzweiflung. Ich wollte den ewigen Besserwissern, die mir, wenn ich mich über irgendwas beschwerte, vorhielten, wie schlecht es doch anderen Menschen ginge, sagen können: Ich weiß es. Ich war da, ich habe all das Elend gesehen, dass du nur aus deinem Fernsehkasten kennst.
Und ich wollte mein Leid mit dem Leid dieser Menschen hier vergleichen.
Die Menschen hier waren arm, krank und hatten keine Hoffnung auf irgendwas. Wenn es wieder eine Trockenperiode gab, verdursteten zuerst die Babys. Dann, infolge der ausbleibenden Ernte, starben die Kinder und die Alten an Unterernährung. Und dazu kam noch AIDS. In unserem Dorf, in dem etwa 500 Menschen lebten, gab es so viele Infizierte, dass sie ein eigenes Krankenhaus benötigt hätten. Die durchschnittliche Lebenserwartung war, wie mir Vater Beling nach meiner Ankunft berichtet hatte, auf siebenunddreißig Jahre zurückgegangen. Es musste die Hölle sein, hier zu leben, hier leben zu müssen.
Trotzdem wagte ich einen Vergleich zwischen dem Leid hier und meinem persönlichen Leiden.
Mir ging es gut. Ich konnte es nicht anders sagen. Ich war gesund, hatte eine gute Ausbildung, war finanziell abgesichert und ich hatte alles, was ich brauchte und noch mehr, was ich nicht brauchte. Bevor ich hier herkam bewohnte ich eine achtzig Quadratmeter große Wohnung im zweiten Stock eines neu errichteten Mehrfamilienhauses. Ich hatte geregelte Arbeitszeiten, Freunde und ein unbegrenztes Angebot an Freizeitaktivitäten. Dienstags Kino, mittwochs Kneipe, donnerstags Bowling oder Billard, freitags eine Feier eines Freundes, samstags Sport, sonntags Erholung. Ich hatte einen Fernseher, eine Stereoanlage, ein Mobiltelefon, einen Computer, eine Mikrowelle, usw. Wenn ich hungrig war, ging ich an meinen Kühlschrank oder in ein Restaurant, wenn mir langweilig war, sah ich fern und ließ mich vom herrlich dummen Programm berieseln, bis es Zeit war, schlafen zu gehen.
Ich hatte wirklich alles. Und damit war ich keine Ausnahme. Mein Gehalt im Referendariat war klein. Was hatten erst die Menschen, die wirklich viel Geld verdienten?
Aber alles war nur Langeweile. Ich fühlte mich einsam, fehl am Platze, gerade zu vermasst. In meiner Post lagen Werbeangebote für Möbel, für Bücher, für Münzen und Briefmarken, einfach für alles. Beigelegt waren oft Briefe, die einen kurzen Anschein von persönlicher Nähe geben sollten, wenn mein Name oben drauf stand und mich der Geschäftsführer des Unternehmens persönlich ansprach.
Wenn ich durch die Straßen ging, sprangen mir Leuchtreklamen ins Gesicht, Plakate warben für Reisen, junge Menschen sprachen mich an und drückten mir Zettel mit Adressen in die Hand, die neusten Clubs. In den Schaufenstern der Geschäfte hingen große rote Schilder mit der Aufschrift „Sale“, was eigentlich nur Verkauf heißt, aber darauf hinweisen soll, wie billig die Angebote waren. Zeitungsverkäufer sprachen mich auf der Straße an und wollten mir Probeabonoments aufdrängen. Sonderaktion, nur diese Woche. Wenn Sie jetzt unterschreiben, bekommen Sie ein halbes Jahr gratis. Einmalige Aktion. Drei Wochen später gab es das Angebot immer noch.
Ich ärgerte mich jeden Tag über das Leben, das ich führte. Natürlich hätte ich den Fernseher auslassen können, natürlich brauchte ich keine Mikrowelle und natürlich musste ich auch nicht jede Woche ins Kino gehen. Alles Dinge, die ich hätte abstellen können. Aber was hätte das für einen Sinn gehabt? Die Welt außerhalb meiner Wohnung hätte sich dadurch nicht verändert. Man schwimmt einfach in der Masse mit, ob man will oder nicht. Man muss Amtsgänge machen, damit man von allen möglichen Dingen verschont bleibt. Man muss Rechnungen zahlen, man muss Dinge kaufen, auch Dinge, die man wirklich braucht, aber auch da schon spürte ich einen inneren Widerstand. Trotzdem kaufte ich. Ich hatte alles, wirklich alles. Außer irgendeinen Funken Sinn. Alles was ich tat, hatte keine Bedeutung. Man funktionierte in einem komplizierten Netz aus sozialen Bindungen, Rechten und Pflichten. Und ich hasste das alles.
„Weißt du eigentlich, warum ich hier bin?“, fragte Frank.
Über meinen Gedanken hatte ich ihn ganz vergessen. Er lag immer noch unverändert auf dem Rücken, den Blick auf den Himmel gerichtet. Seine Stimme war ruhig, als würde jetzt etwas kommen, das er schon hundertmal erzählt hätte.
Ich richtete mich auf um ihm zu zeigen, dass ich ihm zuhörte. Es war wirklich kalt geworden und ich versuchte meine Wolldecken neu zu ordnen. Das Feuer war ein wenig herab gebrannt und ich fragte mich, wie lange wir geschwiegen hatten. Mit einem Stock schob ich ein paar Stücke von dem Mist ins Feuer.
„Weißt du“, fing er an, „eigentlich kann ich mich gar nicht beschweren. Ich komme aus Hannover. Mein Vater war auch Architekt und hatte ein eigenes Büro, das ganz gut lief. Meine Mutter war Hausfrau. Wir lebten mit meinen zwei Schwestern in einem wirklich schönen Haus etwas außerhalb der Stadt. Mein Vater hatte es natürlich selbst entworfen. Es war ein wirklich großes Haus. Jedes Kind hatte sein eigenes Zimmer und zusätzlich gab es einen Spielraum im Keller, so mit Legokisten, Bausteinen, einem Regal voller Stofftiere, die meinen Schwestern gehörten und ein Tischfussballspiel. Ich glaube, später hatten wir auch einen Billardtisch. Das Haus hatte einen riesigen Garten, der von einem extra eingestellten Gärtner gepflegt wurde, weil meine Mutter genug damit zu tun hatte, hinter uns her zu räumen.“
Er lachte kurz auf und schüttelte den Kopf, wie man es tut, wenn man an seine eigenen kleinen Sünden zurückdenkt. Ich legte mich wieder hin und zog mir die Decke bis zum Hals. Es fiel mir schwer, mir Frank als Kind vorzustellen. Ich weiß nicht warum, aber ich setzte einfach mich selbst an seine Stelle. Während er erzählte und ich zuhörte, stellte ich mir vor, wie ich in Franks Kindheit lebte, wie ich in dem großen Haus spielte.
„In dem Garten spielte ich oft mit meinem Hund, einem Collie, der Hasko hieß. Typischer Hundename, ich weiß, aber wir hatten ihn schon, bevor ich geboren wurde und mein Vater war nicht sehr kreativ, was Namen anging. Es gab Kirschbäume, Apfelbäume und Pfirsichbäume und wenn die Früchte reif waren, durften wir Kinder mit Leitern in die Bäume steigen und sie pflücken. Einmal, weiß ich noch, fiel ich von der Leiter und brach mir ein Bein. Da konnte ich eine Woche nicht in die Schule, was mich sehr ärgerte. Ich ging gerne in die Schule. Erst auf eine katholische Grundschule, dann auf ein Gymnasium. Dass Lernen fiel mir, im Gegensatz zu meinen Schwestern, leicht. Ich war ein paar Mal Klassenbester, aber trotzdem kein Streber. Ich hatte viele Freunde und ich war der erste, der eine Freundin hatte. Na ja, du kennst ja sicher das Spiel mit den Zetteln, auf denen steht, willst du mit mir gehen. Davon hatte ich Dutzende und ich bewahrte sie immer auf und gab sie manchmal erst beantwortet zurück, wenn mit meiner aktuellen Freundin Schluss war. Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft das noch geklappt hat.“
Wieder musste er lachen.
„Aber na ja, das sind ja auch keine richtigen Partnerschaften gewesen, ich meine, da waren wir so zwölf oder dreizehn. Meine erste richtige Freundin hatte ich mit sechzehn. Sie war schon in der Oberstufe und drei Jahre älter als ich, was die anderen Jungs ein bisschen neidisch machte. Es ging eigentlich auch nicht sehr lange, vielleicht ein halbes Jahr. Ich glaube, sie hieß Franka oder Franziska. Also, da war ich sechzehn. Ich hatte auch nicht diese pubertäre Phase, in der man sich gegen seine Eltern auflehnt und rebelliert. Meine Eltern ließen uns in Ruhe unser eigenes Leben führen. Wenn wir sie brauchten, waren sie immer da. Klar habe ich auch mal Mist gebaut, aber nie etwas wirklich Schlimmes. Nach dem Abitur studierte ich dann Architektur in Hannover. Es machte Spaß und du hast ja selbst studiert, also muss ich dir nicht erzählen, wie wild die Partys waren und was man da alles für Frauengeschichten erleben konnte. Ich schloss ein Semester vor der Regelstudienzeit ab und bestand das Diplom im ersten Anlauf. Während des Studiums hatte ich ein Mädchen kennen gelernt, Petra. Nachdem ich bei meinem Vater eingestellt worden war, zogen wir zusammen in eine nette Wohnung mitten in Hannover. Ich verdiente ganz gut und sie arbeitete als Sozialarbeiterin in einer Einrichtung für Straßenkinder. Vielleicht daher meine soziale Ader.“
Er zuckte die Achseln. „Fünf Jahre später heirateten wir und schon nach einem Jahr bekamen wir unser erstes Kind. Ein wirklich strammer Junge, den wir Timo nannten.“
Er machte eine kurze Pause und griff zu der Feldflasche, die neben ihm auf dem Boden gelegen hatte. Ich wusste, dass Wodka darin war. Irgendwie war seine Geschichte mir merkwürdig vertraut. Es kam mir vor, als hätten wir fast identische Leben geführt. Zwar war mein Vater nicht Architekt und ich hatte keine Geschwister, aber auch ich hatte eine wirklich schöne Jugend. Wir hatten Geld, ein großes Haus und ich war auch gut in der Schule gewesen. Die gleiche schöne Idylle wie bei Frank. Erst als er von seiner Hochzeit und seinem Kind zu erzählen begonnen hatte, konnte ich unsere Lebenswege nicht mehr vergleichen. Es fiel mir jetzt auch schwer, mein Gesicht auf seine Geschichte zu übertragen. Irgendwie konnte ich mir mich selbst nicht als Ehemann und Vater vorstellen.
Am Himmel glaubte ich den großen Wagen entdeckt zu haben, das einzige Sternbild, das ich kannte. Ich überlegte kurz, ob ich Frank darauf hinweisen sollte, entschied mich dann aber dagegen, weil ich nicht sicher war, ob es sich wirklich um den großen Wagen handelte. Mit ein bisschen Phantasie konnte man aus jedem Sternengewirr einen großen Wagen zaubern.
Frank nahm einen großen Schluck aus der Feldflasche und atmete tief ein, um das Brennen des Wodkas im Hals ein wenig zu lindern. Dann wischte er sich den Mund ab, obwohl gar nichts daneben gelaufen war und stellte die Flasche wieder neben sich auf den Boden. Er sah zu mir herüber und ich nickte ihm zu. Ich weiß nicht mehr warum, aber es schien mir angemessen. Er missverstand mich, deutete fragend auf die Flasche, aber ich winkte ab.
„Na ja, wo war ich stehen geblieben?“, fragte er niemand bestimmten. „Ach ja, Petra und Timo. Weißt du, Petra war wirklich eine tolle Frau und ich beziehe das jetzt nicht nur auf Äußerlichkeiten, obwohl sie wirklich hübsch war. Schulterlanges blondes Haar, eisblaue Augen und einen kleinen zierlichen Mund, so richtig zum Küssen gemacht. Aber wie gesagt, sie war nicht nur äußerlich eine Schönheit. Auf das Innere kommt es ja an“, sagte er und klopfte sich zum Beweis mit dem Zeigefinger auf die Brust. Ich nickte, ganz seiner Meinung und er klopfte noch mal auf seine Brust.
„Sie war wirklich klug, interessierte sich für Kunst und Musik und die Gespräche mit ihr waren einfach unglaublich. Es gibt nur verdammt wenige Menschen, bei denen man das Gefühl hat, vollkommen verstanden zu werden und sie war so jemand. Sie arbeitete mit Straßenkindern und half ihnen einen Einstieg ins Leben zu finden. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was die Kids alles durchgemacht hatten. Dass ging von Scheidungskindern über Misshandelte bis zu Missbrauchten. Schrecklich.“
Ich hatte mich wieder hingelegt und versuchte mir vorzustellen, wie man sich fühlt, wenn man von seinen Eltern missbraucht oder geschlagen wird. Mir war klar, dass meine Vorstellungen nicht mit dem übereinstimmten, was diese Kinder wirklich durchgemacht hatten, aber irgendwie fühlte ich mich verpflichtet, es wenigstens zu versuchen.
„Aber für Petra war das alles kein Problem. Also, ich meine jetzt nicht, dass es sie nicht berührt hätte, aber sie war eine sehr starke Frau. Sie ist mit allem zurecht gekommen.
Und dann kam Timo und machte unser Glück noch perfekter. Ich war mittlerweile Juniorchef unserer kleinen Firma und das nicht, wie du jetzt vielleicht denkst, weil ich der Sohn vom Chef war, sondern, weil ich wirklich einen ganz guten Job machte. Es gab also keine finanziellen Probleme und die Leute, die sagen, ein Kind stelle eine Beziehung auf die Probe, haben alle Unrecht. Wir wuchsen nur noch enger zusammen. Ich meine, natürlich war das alles anstrengend und nicht immer schön, also wenn der Kleine mal krank war, zum Beispiel, aber im Großen und Ganzen war alles in Ordnung.“
Frank griff wieder zu der Flasche und nahm diesmal mehrere Schlücke. Er starrte zum Dorf, das man mittlerweile nicht mehr sehen konnte. Wir waren vollkommen isoliert von der Welt.
„Und dann verließ sie mich“, sagte er, als wäre dies der nächste logische Schritt in seiner Geschichte vom glücklichen Leben. Ich war irritiert, starrte noch immer in den Himmel und überlegte krampfhaft, wie ich diese überraschende Wendung in die nette Geschichte, die ich mir in meinem Kopf ausgemalt hatte, einbringen sollte. Frank sagte nichts mehr. Ich richtete mich auf und sah zu ihm herüber. Er saß steif in seine Decke gehüllt, in der einen Hand die Feldflasche mit Wodka, mit der anderen seinen Bart streichend.
„Sie hat dich verlassen?“, fragte ich so mitfühlend wie nur möglich.
„Ja, sie hat mich verlassen.“
Ich bemerkte, dass seine Augen feucht waren und überlegte, ob er wollte, dass ich ihn weiter befragte, oder ob ich einfach still sein sollte.
„Eines Abends, als ich nach Hause kam“, sagte er dann, “saß sie auf dem Sofa. Die Koffer standen schon im Flur. Wir müssen reden, Frank, sagte sie. Und wir redeten die ganze Nacht.“
Er schüttelte den Kopf und trank, verschluckte sich, spuckte aus und trank wieder.
„Und weißt du, warum sie mich verlassen hat?“, fragte er.
„Nicht wegen eines anderen Mannes, nicht, weil ich sie schlecht behandelt hatte, sondern einfach, weil sie mich nicht mehr liebte. Das war der ganze Grund. Sie liebte mich nicht mehr.“
Er fing an zu weinen, fasste sich aber schnell wieder, wischte sich mit dem Hemdsärmel die Tränen ab und starrte auf die Feldflasche. Ich wusste nicht, was tun. Wenn Männer anfangen zu weinen, bekomme ich immer weiche Knie. Ich erinnerte mich an das einzige Mal, dass ich meinen Vater weinen sah. Das war, als meine Eltern eine schwere Krise in ihrer Ehe hatten. Es war der schlimmste Moment meines Lebens, glaube ich.
„Sie konnte sich einfach nicht mehr vorstellen, mit mir zusammen zu leben. Sie möge mich weiterhin als Menschen, aber sie liebe mich nicht mehr als Mann. Kannst du dir das vorstellen?“
Seine Finger spielten am Verschluss der Flasche, öffneten ihn, schlossen ihn, öffneten ihn wieder …
„Und dann sagte sie das Schlimmste“, stotterte er.
„Sie sagte, es sei nicht meine Schuld, ich könne nichts dafür. Es wäre nicht zu ändern.“
Er brach erneut in Tränen aus und sein Körper zuckte in Weinkrämpfen.
Ich begriff, was er meinte.
Ich überlegte, was ich ihm sagen sollte, aber mir fiel nichts ein. Ich war genauso hilflos wie er. In Gedanken versuchte ich die Geschichte zu wiederholen um wenigstens irgendwas sagen zu können. Erst jetzt fiel mir auf, dass er von Petra immer nur im Präteritum gesprochen hatte. Petra war eine starke Frau, Petra war schön, Petra war. Es ist schon merkwürdig, dass man von Menschen, die noch leben in der Vergangenheitsform spricht, nur weil sie im eigenen Leben keine Rolle mehr spielen. Vielleicht ist es der verzweifelte Versuch, sich so von der Vergangenheit zu verabschieden, wohl wissend, dass diese Vergangenheit immer noch da ist, egal wie man sie ausdrückt.
Während ich noch unschlüssig abwägte, was ich tun sollte, bemerkte ich, dass Frank sich hingelegt hatte. Ich beobachtete eine Weile seine ruhige Atmung. Er war eingeschlafen. In einem Bericht hatte ich einmal gelesen, dass das Weinen wie eine Droge zur Beruhigung wirkt. Im Körper werden irgendwelche Stoffe ausgeschüttet, die eine entspannende Wirkung haben. Ich überlegte, wann ich das letzte Mal geweint hatte. Es wollte mir nicht einfallen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Frank schon wieder bei der Arbeit. Ich schaute auf mein Handgelenk, an dem sonst immer meine Uhr war, aber die Uhr hatte ich ja nicht mehr. Ich konnte es noch nie leiden, wenn ich nicht wusste, wie spät es ist. Hier spielte die Zeit eigentlich keine Rolle und daran konnte ich mich nur schwer gewöhnen. Der Unterricht begann dann, wenn ich die Kinder zu mir riefen ließ und er endete, wenn ich spürte, dass ich ihre Aufmerksamkeit nicht mehr halten konnte, was an manchen Tagen früher, an anderen später geschah. Auch die anderen machten sich keine Sorgen um irgendwelche zeitlichen Termine. Man arbeitete eben, so lange es dauerte oder bis man keine Lust mehr hatte. Keine Spur von deutscher Disziplin und Ordnung.
Mir fiel es schwer, mich an diese Lebensweise zu gewöhnen, die die anderen Missionsarbeiter schon für sich verinnerlicht hatten. Ich überlegte, woher ich hier eine neue Uhr bekommen könnte und wie ich überhaupt herausfinden sollte, wie spät es denn genau ist. Meine eigene Uhr hatte ich gar nicht erst auf die neue Zeit eingestellt. Sie hatte auch nach sechs Wochen noch die Uhrzeit in Deutschland angegeben. Hier musste ich ja keine Termine beachten. Die genausten Zeitangaben, mit denen hier gehandelt wurde, waren morgen, übermorgen und nächste Woche. Es ärgerte mich auch, dass ich nicht wusste, welches Datum wir hatten. Ich schätzte etwa den 21. Aber was für eine Bedeutung hatte das hier schon. Vater Beling wusste immer ganz genau, welcher Tag war. Er hatte einen Kalender, den er brauchte, wenn er Besorgungen außerhalb des Dorfes erledigen musste. Wir anderen verließen das Dorf selten. Es gab genug zu tun.
Ich stand auf und klopfte meine Decken aus. Egal, ob man im Freien oder in der Hütte geschlafen hatte, hier fühlte man sich nach dem Aufstehen immer schmutzig. Es war wieder warm, obwohl es noch früh am Morgen sein musste. Ich sah, wie Frank mit ein paar anderen Missionsarbeitern, ich glaube, es waren Klaus und Michael, an einer der neuen Hütten arbeitete. Frank stand in einigem Abstand von der halbfertigen Unterkunft und betrachtete sie nachdenklich, während die beiden anderen ihn fragend anstarrten. Man musste kein Architekt sein, um aus den paar Brettern, die wir hatten, eine halbwegs schützende Hütte zu bauen, aber wir anderen hielten uns immer an Frank. Seine Hütten waren nicht viel besser, als diejenigen, die schon vor seiner Ankunft errichtet worden waren, aber er war nun mal der Architekt.
Ich schlenderte zum Brunnen um mich zu waschen und grüßte die einzelnen Dorfbewohner mit einem freundlichen Nicken. Da der Brunnen nur wenig Wasser hatte, beschränkte ich mich darauf, mein Gesicht zu waschen und mir die Haare zu richten. Insgesamt gab es vier Spiegel hier im Dorf, die natürlich hauptsächlich von den weiblichen Helfern genutzt wurden. Ich fragte mich, für wen man sich hier hübsch machen sollte. Den ganzen Tag über liefen wir mit freiem Oberkörper herum, arbeiteten im staubigen Wüstenwind und schwitzten wie die Tiere. Trotzdem versuchte jeder am Morgen ein halbwegs anständiges Aussehen an den Tag zu legen. Ich schüttelte den Kopf und strich mir noch einmal durchs Haar, das schon wieder viel zu lang war. Ein Mädchen kam zu mir an den Brunnen und fragte mich in akzeptablem Englisch, ob denn heute keine Schule sei. Es war anscheinend doch schon etwas später. Ich nickte ihr zu und sagte, dass sie die anderen holen solle. Sie lächelte mich an und rannte los. Ihr Name war Judith und ich schätzte sie auf etwa 14 Jahre. Mit dem Alter der Menschen hier war das so eine Sache. Den genauen Geburtstag wusste man nur, wenn am gleichen Tag irgendetwas Besonderes außerhalb des Dorfes passiert war. Judith war geboren wurden, einen Tag nachdem die Soldaten durch das Dorf gezogen waren und den Stromgenerator konfisziert hatten. Das war die genaueste Auskunft, ansonsten musste man die Menschen einfach schätzen, was schwer fiel, da sie schwarz waren und ich weiß und ich nicht bestimmen konnte, ob man anders altert, wenn man eine dunkle Haut hat und ständig in der Sonne sitzt.
Judith war klug und hatte Spaß an der Schule. Sie war so etwas wie die Klassensprecherin, was auch die älteren Kinder akzeptierten. Es gab natürlich keine richtigen Klassen, sondern alle Kinder wurden zusammen unterrichtet, egal wie alt sie waren. Ihr Wissensstand war ja gleich niedrig.
Ich sah ihr nach, wie sie zwischen den Hütten hin und her rannte und die Namen der anderen Kinder schrie: Hans, Maria, Johannes, Peter …
Ein Dorf mitten in Afrika, bewohnt von Schwarzen, die alle deutsche Namen hatten.
Der Unterricht begann immer mit einem gemeinsamen Gebet auf Lateinisch. Ich hatte mir den Text von Vater Beling aufschreiben lassen müssen, da mein Lateinunterricht schon etwas her war und ich das Gebet nicht kannte. Die Kinder konnten es perfekt. Ich fragte mich, ob sie die Bedeutung der Worte kannten oder ob es ihnen einfach gefiel, wie sich die fremde Sprache anhörte. Nach dem Gebet wurde geklatscht und alle lachten.
Ich unterrichtete nicht lange. Geschätzte zwei Stunden. Danach konnte ich einfach nicht mehr und gab für den Rest des Tages frei.
Während ich meine Unterlagen zusammensuchte, kam Judith zu mir. Sie lächelte mich wieder mit ihren strahlend weißen Zähnen an und fragte mich in gebrochenem Deutsch: „Schlafen lange?“
Ich lachte und antwortete ihr auf Englisch: „Very long, yes. I was very tired.“
„Krank?“
„No, just tired.“
Wenn wir abends noch mit allen Missionshelfern zusammen saßen, leistete uns Judith hin und wieder Gesellschaft. Ein paar Brocken Deutsch hatte sie sich angeeignet und Frank bemühte sich, ihr noch mehr beizubringen. Im Vergleich zu den anderen Kindern spielte sie wenig mit Gleichaltrigen, sondern war lieber mit einem von uns zusammen. Nach der Schule half sie oft bei den Arbeiten, die wir verrichten mussten und hörte uns zu, wie wir uns auf Deutsch unterhielten. Natürlich konnte sie den Gesprächen nicht folgen, aber das schien ihr nichts auszumachen.
Frank erklärte ihr immer wieder, wie man eine richtig schöne Hütte baute. Während wir anderen das Holz schleppten, hämmerten und sägten, stand er etwas abseits und erklärte ihr unsere Arbeitsschritte und warum man ab einer gewissen Größe der Hütte einen Stützbalken brauchte. Sie nickte dann immer und starrte mit großen Augen, als habe man ihr die Offenbarung auf einem Silbertablett geliefert, auf unsere Arbeit.
„When I leave, you are going to do my job“, sagte er immer, wenn sie seine Ausführungen mit einem Nicken bestätigte.
„You´ll never leave“, sagte sie dann und Frank streichelte ihr lachend über das schwarze Haar.
Heute war mir nicht nach arbeiten. Ich überlegte, ob ich vielleicht doch eine Erkrankung vortäuschen sollte, um mich irgendwo in den Schatten zu legen. Ich schwitzte, obwohl ich mich nicht besonders viel bewegt hatte. Mit dem Ärmel wischte ich mir über das Gesicht. Es war einfach zu heiß hier. Ich trank einen Schluck Wasser aus einer Flasche, die jemand in den Schulraum gestellt hatte. Ich wusste nicht, woher die Flasche kam, aber es war mir auch egal. Das Wasser kam in jedem Fall aus dem Brunnen und war dreckig. Man gewöhnt sich an alles.
Für heute Abend war wieder eine Besprechung geplant. Einmal in der Woche trafen wir uns alle in der Schule und besprachen die Dinge, die für die nächste Woche erledigt werden mussten. Vater Beling legte großen Wert darauf, dass wir untereinander kommunizierten und soweit ich es beurteilen konnte, lief die Kommunikation ganz gut. Man hatte zu bestimmten Mitarbeitern mehr Kontakt, zu anderen weniger. Wie in einer ganz normalen Firma. Streitigkeiten hatte ich bisher noch nicht erlebt. Es war einfach zu heiß zum Streiten.
Den Rest des Tages verbrachte ich damit, den Unterricht vorzubereiten. Aber eigentlich starrte ich nur auf die Blätter und Bücher vor mir und dachte an nichts. Niemand kam in die Schule oder suchte nach mir. Die Arbeit schien heute auch ohne mich auszukommen, wofür ich dankbar war. Ich fühlte mich schlecht und war einfach zu nichts zu gebrauchen.
Diese Tage hasste ich. Man hat tausende Dinge zu tun. Die Küche muss aufgeräumt werden, der Müll aus dem Haus, man muss einkaufen, man muss zu einer Verabredung. Man muss unterricht geben, man muss Hütten bauen, man muss die rotte Leine am Brunnen ersetzen, damit es auch weiterhin Trinkwasser gibt. Man muss so vieles tun und kann es doch nicht. Es fehlt einfach der Antrieb, der Wille, die Fähigkeit sich überhaupt zu bewegen, überhaupt irgendwas zu tun. Wie eine Maschine, die man in den Standby-Modus geschaltet hat. Man ist noch da, aber nicht richtig.
Ich stapelte die Bücher auf dem Tisch und ordnete die Zettel vor mir, so dass genau Kante auf Kante lag. Dann nahm ich ein Blatt hoch, ein zweites, ein drittes und legte sie wieder Kante auf Kante zurück auf den Tisch. Von draußen hörte ich das Geräusch der Hämmer, die auf Holz schlugen, ich hörte die Kinder, die durch das Dorf rannten und sich gegenseitig etwas zuriefen, ich hörte das laute Gespräch einiger Dorfbewohner, in ihrer Sprache, die ich nicht verstand und ich hörte das immer gleiche Summen des Generators. Aber genauso wie ich die Sprache der Eingeborenen nicht verstand, verstand ich auch nicht die Bedeutung der anderen Geräusche. Was bedeutete das Hämmern, was das Schreien, was das Brummen? Alles war der gleiche Kauderwelsch, der sich hartnäckig weigerte, mir seine Bedeutung zu offenbaren. Wie es wohl sein muss, ohne Sprache zu leben?
Dann wurde es dunkel und nach und nach ebbten die Geräusche ab. Zuerst endete das Gespräch der Dorfbewohner, dann das Hämmern und zuletzt das Schreien der Kinder. Der Generator brummte weiter.
Nach und nach kamen die Missionsarbeiter in die Schule. Ich nickte ihnen zu und tat, als wäre ich mit meiner Arbeit noch nicht fertig. Frank kam, zusammen mit Vater Beling, als letztes. Er lächelte mir zu und rückte sich einen Stuhl neben mir zurecht. Nichts deutete auf unser Gespräch von letzter Nacht hin. Kein Zeichen, dass es überhaupt stattgefunden hatte. Das schätzte ich sehr an Männergesprächen. Egal, was man sich erzählt hatte, am nächsten Tag tat jeder so, als wäre nichts gewesen.
Mir war nicht nach Gesellschaft, aber ich ließ mir nichts anmerken und wechselte ein paar Worte mit Michael.
Wir saßen alle im Kreis und Vater Beling informierte uns über die vergangene Woche. Es gab vier Tote zu beklagen, keine Geburt, das Benzin für den Generator war wieder aufgefrischt worden, drei neue Hütten gebaut, vier ausgebessert. Ansonsten keine besonderen Vorfälle. Er bedankte sich, wie immer, für unseren Einsatz und für die geleistete Arbeit. Dann gab er bekannt, wer uns in der nächsten Woche verlassen würde und das vorerst niemand Neues käme. Die Aufgaben für die nächste Woche wurden besprochen und verteilt und dann trennte man sich wieder. Einige blieben noch sitzen und unterhielten sich weiter. Ich wollte aufstehen und gehen, aber aus irgendeinem Grund blieb ich sitzen und hörte den Gesprächen zu.
Plötzlich stand Judith neben mir. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie herein gekommen war. Sie lächelte mich an und setzte sich zwischen Frank und mich in die Hocke. Ich lächelte zurück und nickte ihr zu. Als Frank sie bemerkte, drehte er sich von seinem Gesprächspartner weg und streichelte ihr über den Kopf.
„Na, wen haben wir denn da?“, fragte er und Judith lachte.
Sie zeigte mit einem kleinen zierlichen Finger auf mich.
„Thomas müde“, sagte sie und strahlte mich an. Ich nickte ihr zu und schloss zum Spaß die Augen, um mich schlafend zu stellen. Sie lachte wieder und schaute zu Frank herüber.
„Nein, der ist nicht müde, der ist einfach nur faul“, sagte er.
Obwohl Judith ihn nicht verstand, schüttelte sie sich vor Vergnügen.
Aber ich war wirklich müde. Müde von all der Arbeit, von all den Gesprächen, von all dem Nichtstun. Ich entschuldigte mich und verließ die Schule. Auf dem Weg in meine Hütte begegnete ich Vater Beling, der mir eine gute Nacht wünschte.
Aber ich konnte nicht schlafen. Dösend lag ich auf meiner Liege und starrte an die Holzdecke. Ich fragte mich, was ich hier machte. Seit sechs Wochen war ich hier und arbeitete und half und arbeitete und half. Aber alles schien mir sinnlos zu sein.
Ich musste an Franks Geschichte denken. Sie liebte mich einfach nicht mehr, hatte er gesagt. Es war schon merkwürdig, wie sich ein Gefühl vom einen auf den anderen Moment ändern konnte, wie aus Freude Trauer, aus Mut Angst oder aus Liebe Gleichgültigkeit werden konnte. Und Gleichgültigkeit war das Schlimmste. Oder nein, nicht die Gleichgültigkeit, sondern die Hilflosigkeit, mit der man ihr gegenüberstand. Was hätte Frank tun können? Nichts. Das war die traurige Antwort. Gar nichts.
Am nächsten Morgen fehlte Judith in der Schule. Die anderen Kinder sagten, sie wäre krank. Erst nach drei Tagen saß sie wieder an ihrem Platz. Sichtlich geschwächt und ohne jegliche Beteiligung. Ich hatte bei unserem Arzt nachgefragt, der mir erzählte, sie habe sich wohl mit irgendwas den Magen verdorben. Da sie ohnehin mager war, verwunderte es mich nicht, dass es ein wenig dauerte, bis sie wieder zu Kräften kam.
Aber trotzdem schien irgendetwas an ihr verändert zu sein. Wenn wir abends zusammen saßen, kam sie nicht mehr, um sich zu uns zu setzen. Früher war es mir oft nicht aufgefallen, ob sie da war oder nicht, aber jetzt spürte ich ihre Abwesenheit umso deutlicher. Ich fragte Frank, ob er von etwas wisse, aber er war genauso ratlos wie ich. Er bot sich an, mit ihr zu reden und ich war dankbar dafür, da er einen besseren Draht zu ihr hatte.
Aber auch bei diesem Gespräch kam nichts heraus, was uns Aufschluss über ihr plötzliches Verhalten geben konnte.
„Glaubst du, man hat ihr etwas angetan?“, fragte ich Frank, als wir wieder auf unserem Hügel saßen. Er dachte nach und schüttelte dann den Kopf.
„Wer sollte das denn gewesen sein. Einer von den Jungen?“
„Ich weiß nicht, aber es wäre möglich.“
„Mh, das kann ich mir nicht vorstellen. Hier sind doch überall Leute. Du kannst hier doch gar nicht vergewaltigt werden, wenn es keine einzige ruhige Ecke im Dorf gibt.“
Ich zündete mir eine Zigarette an. Heute hatten wir ein paar Schachteln von einem Lieferanten bekommen, der neues Holz für die Ausbesserung der Hütten brachte.
„Ich weiß auch nicht“, sagte ich, “ aber möglich wäre es vielleicht doch.“
„Ich glaube nicht, dass die Menschen hier überhaupt dazu fähig wären. Du kennst doch diese Zeremonien, die die hier machen, um jemanden zu heiraten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier einer so aus dem Ruder schlägt.“ Er griff zu der Schachtel und zündete sich auch eine Zigarette an. Langsam sog er den Rauch ein und beobachtete den grauen Qualm.
„Homo homini lupo“, sagte ich, „ warum sollte es hier anders sein. Nur weil man arm ist, ist man kein guter Mensch.“
Er schüttelte den Kopf und drehte die Zigarette zwischen den Fingern.
„Ich werde noch mal mit ihr reden. Vielleicht deute ich das mal an und schaue, wie sie darauf reagiert.“
Ich nickte, zufrieden, dass wir in der Sache einer Meinung waren. „Sag mir dann Bescheid, wie es gelaufen ist.“
„Mach ich.“
Wir rauchten auf und verabschiedeten uns in unsere Hütten.
Aber auch das zweite Gespräch zwischen Judith und Frank brachte nichts heraus. Wir waren einfach hilflos. Auch Vater Beling hatte mehrmals mit ihr gesprochen, aber auch er kam einfach nicht zu ihr durch.
In den folgenden Wochen änderte sich ihr Verhalten wieder leicht zum Besseren, aber trotzdem blieb sie für sich und redete wenig. Wir bemühten uns weiter um sie, sahen aber auch ein, dass es ihr angenehmer war, wenn wir sie nicht dauernd bedrängten. Sie kam regelmäßig in die Schule, machte ihre Aufgaben und lebte vor sich hin. Frank wies mich besorgt auf ihre Gewichtszunahme hin, aber ich führte das noch auf ihr neues Verhalten zurück.
Zwei Monate später mussten wir uns alle eingestehen, dass sie schwanger war. Die Aufregung war groß, obwohl wir insgeheim schon alle daran gedacht hatten. Nur sagen wollte es keiner. Keiner wollte zugeben, dass mitten in unserem Eingeborenenparadies etwas nicht in Ordnung war. Keiner wollte zugeben, dass die gleichen Dinge, die in der ganzen Welt tagtäglich passierten, auch hier in unserer kleinen Käseglocke passierten. Wir waren doch hier um zu helfen. Wir wollten den Menschen hier doch ein besseres Leben ermöglichen. Wir bauten ihnen Häuser, halfen ihnen beim Bestellen der kärglichen Felder, wir brachten ihnen Lesen und Schreiben bei und gaben ihnen sogar deutsche Namen, aber dass sie so werden würden wie wir, das wollten wir nicht. Wir wollten nicht, dass sie genauso verdorben werden, wie wir verdorben waren. Sex- und Gewaltverbrechen waren ja schließlich nur in unserer kranken Gesellschaft vorhanden. Natürlich. Hier hatte man ein paar Eingeborene gefunden, die man mit Gottes Hilfe zu guten Menschen heranziehen konnte. Und jetzt so was.
Ich weiß nicht, ob wir alle so dachten, aber die allgemeine Entrüstung sprach dafür.
Vater Beling bildete eine Art Verhörtrupp und befragte die Leute, ob denn niemand etwas bemerkt hätte, aber sie schienen genauso verstört zu sein wie wir. Die Aufregung wollte sich nicht legen. Wir versuchten, mit Judith zu reden, sie zum Reden zu bringen, aber sie weinte nur verängstigt, als sie begriff, dass wir wussten, was mit ihr los war. Sie wurde in Vater Belings Hütte einquartiert und wir anderen gingen mit einem flauen Gefühl im Magen unserer Arbeit nach. Weitere Wochen verstrichen, ohne dass sich etwas ergab. Wir machten weiter, was wir auch vorher gemacht hatten, bauen, unterrichten, helfen. Aber der Enthusiasmus, der Elan und der Wille, der uns zuvor angetrieben hatte, waren verloren. Wir taten, was getan werden musste, mit nichts dahinter. Nachdem Judiths Schwangerschaft bekannt geworden war, hatten vier Leute die Mission verlassen, weil sie es nicht mehr aushielten, noch länger hier zu sein. Unser aller Traum vom kleinen Paradies war jäh beendet worden. Natürlich gab es auch einige, die die Geschichte besser wegsteckten und damit schneller zurechtkamen. Aber denen, denen es wie mir ging, die hier waren, um vor dem ganzen vom Menschen geschaffenen Elend zu fliehen und hier einen Sinn zu finden, fiel es schwerer. Man traute sich anfangs nicht mehr zu lachen, was sich später wieder änderte, aber trotzdem war es nicht mehr dasselbe. Es war Dienst nach Vorschrift. Genau wie zu Hause.
Das Dach der Schule war an einer Stelle undicht geworden und es ging auf die Regenzeit zu. Zumindest sagte das der Kalender von Pater Beling. Ob es wirklich regnen würde, konnte keiner sagen. Es gab Jahre, in denen es auch in der Regenzeit hier trocken blieb. Trotzdem wollte ich das Loch abgedichtet haben.
Ich suchte nach Frank, der nicht beim Bau der Hütten half. Auf Nachfrage erzählte man mir, dass man ihn heute noch nicht gesehen habe. Es war schon nach Mittag. Ich ging zu seiner Hütte und fand sie verschlossen vor. Er hatte eine der wenigen Hütten bekommen, die sich von innen verriegeln ließen. Ich klopfte an die Holztür und rief seinen Namen. Keine Antwort. Ich überlegte, ob er vielleicht heute mit dem Lieferanten in die Stadt gefahren war, um neues Material zu bestellen, aber dann hätte er mich sicher gefragt, ob ich hätte mitkommen wollen. Vielleicht war er bei Vater Beling oder auf unserem Hügel oder sonst wo. Dann fiel mir der Riegel ein. Von zu Hause war ich natürlich gewohnt, dass man eine verschlossene Tür vorfand, wenn der Bewohner nicht da war. Aber die Hütten hier konnte man nur von innen verriegeln. Erneut klopfte ich an die Tür. Erst mit der flachen Hand, dann, als keine Antwort kam, mit der Faust. Nichts. Ich wurde wütend, warum weiß ich nicht. Mit ein paar festen Tritten brach ich die Türe auf.
Es war dunkel hier drin. Die Fenster waren mit Brettern verschlossen, was ich von außen nicht gesehen hatte. Ich fragte mich kurz, warum ich überhaupt gar nicht erst versucht hatte, durch ein Fenster in die Hütte zu kommen. Ich war es nicht gewohnt, durch ein Fenster in ein Haus zu steigen.
Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, betrat die die Hütte mit klopfendem Herzen. Auf einem kleinen Tisch stand Franks Spiegel, merkwürdigerweise der größte, den es hier im Dorf gab. Er war zerschlagen worden und das Glas lag verteilt über den Tisch und den Boden. Auf dem Bett lag Frank. Das Gesicht ins Kissen gedrückt, einen Arm aus dem Bett hängend, den anderen unter seinem Bauch. Er trug seine Arbeitskleidung und seine Schuhe. Erst beim Näherkommen konnte ich das Blut sehen, dass sich unter seinem Arm zu einer großen dunklen Pfütze gesammelt hatte. Langsam ging ich auf das Bett zu. Neben der Lache lag ein Stück des gesplitterten Spiegels. Vorsichtig fasste ich nach seinem Rücken und schüttelte ihn. Aber er war tot. Der Körper war schon kalt und steif und blass. Ich drehte ihn auf den Rücken und sah ihm ins Gesicht. Seine Augen waren geschlossen, als würde er schlafen. Er hatte versucht sich zu rasieren, vielleicht mit dem Spiegelstück. Überall auf seinen Wangen und an seinem Kinn waren Schnittwunden. Trotzdem hatte er sich den ganzen Bart abrasiert.
Ich setzte mich neben ihn auf das Bett, betrachtete die Blutpfütze, die bei dem schwachen Licht nur schwarz aussah. Schwarz wie altes Öl, das aus einer Maschine ausgelaufen ist. Er hatte sich die Pulsader am linken Handgelenk aufgeschnitten. Die Wunde war groß und er hatte vermutlich mehrere Versuche gebraucht, um mit dem recht stumpfen Glas bis an die Ader heranzukommen. In seiner rechten Hand, die unter seinem Bauch gelegen hatte, fand ich einen Zettel. Ich nahm ihn aus den steifen Fingern und las.
Frank war kein Architekt. Er hatte nicht einmal studiert.
Ich stand auf, den Zettel in der Hand, weiter lesend und verließ die Hütte um besseres Licht zu haben. Draußen setzte ich mich vor der Hütte auf den Boden.
Er kam aus Hannover und war verheiratet.
Soweit stimmte die Geschichte.
Alles andere stimmte nicht.
Er war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, irgendwo in einer Hochhaussiedlung mitten in der Stadt. Sein Vater arbeitete als normaler Angestellter bei einem Elektrohändler. Kein Architekt, keine kleine Firma, kein großes Haus mit großem Garten.
Frank selbst hatte nach dem Besuch der Realschule eine Schreinerlehre gemacht. Petra gab es wirklich, aber ob sie wirklich die Petra war, die er mir beschrieben hatte, konnte ich dem Brief nicht entnehmen. Er hatte nicht nur einen Sohn, sondern auch eine Tochter. Ihre Namen erwähnte er nicht. An seiner Tochter hatte er sich vergangen, darum die Trennung.
Ich stand auf. Mir war schwindelig und mein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt.
Er hatte sich an seiner Tochter vergangen und deswegen hatte seine Frau ihn verlassen. Nichts mit ich liebe dich nicht mehr. Nichts mit du bist nicht Schuld. Sie hatte ihn verlassen, weil er ein Perverser war, ein Pädophiler. Er hatte hier einen Neuanfang versucht. Weg von alldem, weg von seiner Familie, weg von Hannover, weg von allem.
Aber so etwas wie einen Neuanfang gab es nicht. Wie hatte er sich das vorgestellt? Man kann sich nicht einfach in ein Flugzeug setzen und sagen, so, jetzt mache ich einen Neuanfang. Man kann vor seinen Problemen weglaufen, aber nicht vor sich selbst. Die eigene Biografie lässt sich nicht neu schreiben. Wie hatte er sich das vorgestellt?
Am Ende des Briefes bedankte er sich bei mir für meine Freundschaft und bat um Entschuldigung. Aber was gab es da zu entschuldigen? Er war tot. Was bringt die Entschuldigung eines Toten? Gar nichts.
Über Judith stand kein Wort in dem Brief, aber ich wusste, dass er sie geschwängert hatte, dass er uns alle hinters Licht geführt hatte. Wie hatten wir nur so blind sein können?
Ich fühlte mich schuldig, obwohl mir klar war, dass ich keine Schuld hatte. Warum hätte ich ihm nicht glauben sollen? Dazu bestand kein Grund. Ich spürte ja selbst jetzt noch, jetzt, wo ich sein Geständnis in der Hand hielt, wie sehr es mir widerstrebte, mein altes Bild von Frank aufzugeben und der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Ich konnte nicht glauben, dass der gleiche Mann, mit dem ich seit Monaten hier unten saß, mit dem ich so eng befreundet zu sei schien, der Mann war, der ein vierzehnjähriges Mädchen schwängerte. Ich konnte nicht glauben, dass er so feige gewesen war.
Michael kam zu mir, sah mich an, sah auf die aufgebrochene Tür und ging in die Hütte. Von Innen hörte ich einen kurzen Aufschrei, dann stand er neben mir und fragte mich, was passiert sei.
Ich schüttelte den Kopf und er rannte los um den Arzt zu holen.
Am nächsten Tag wurde Frank außerhalb des Dorfes beerdigt. Es gab einen kleinen Friedhof, der etwa einen Kilometer entfernt lag. Eigentlich war es kein Friedhof, sondern nur ein Platz mit Kreuzen. Es gab keine Blumen, woher denn auch, und keinen Zaun. Man hätte die Toten auch irgendwo vergraben können. Vater Beling las eine bewegende Messe und viele von uns weinten. Frank war sehr beliebt gewesen. Über die Gründe für seinen Selbstmord wusste nur ich Bescheid und ich sagte es niemandem. Nicht, weil ich Frank schützen wollte, aber was hätte es noch gebracht. Ich wollte niemanden mit der Wahrheit belasten. Es war für alle schon schwer genug nach Judiths Schwangerschaft.
Judith selbst war nicht bei dem Begräbnis dabei, aber fast der ganze Rest des Dorfes. Die älteren Eingeborenen führten ein Trauerritual auf, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen.
Auch ich weinte. Ich weinte, weil mein Freund tot war. Ich weinte, weil mein Freund ein Perverser war und ich weinte, weil ich es nicht mit ansehen konnte, wie alle um denjenigen weinten, der unser kleines Paradies zerstört hatte. Aber am meisten weinte ich, weil ich wusste, dass ich Judith verraten hatte. Ich deckte ihren und unseren Schänder. Ich konnte nur hoffen, dass ihr sein Tod ausreichende Genugtuung war, denn Wahrheit würde sie nicht bekommen.
Eine Woche später reisten sieben Missionsarbeiter ab. Und ich war einer von ihnen.