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Die Muse
Der Wald breitet über sich schon die Schattendecke des nahenden Abends. Die Tierstimmen, welche am Tage die Säulengänge des Waldes belebt haben, verstummen eine um die andere und machen der Stille Platz, die ihr immer nachfolgt. Einer Stille, welche aus dem Rauschen der Blätter besteht, dem trägen Knarren alter Stämme, dem Atmen des Windes, der die Äste sanft wiegt, dem gelegentlichen Heulen einer Böe. Einer Stille, welche bald schon dem Erwachen der Nachtstimmen des Waldes weichen muss, nachdem sie für eine kurze Weile regieren durfte.
Eine solche Stille wohnt jedem Wald inne. Und so auch diesem, in welchem Kaschker sitzt: im Marwald, unweit der Weininsel, die westlich im breiten Strom des Bansheeban liegt. Im Marwald, nördlich der zerstörten Feste Kef, die einst die Heimat Kaschkers war, die ihn, den Sänger am Hofe der Edlen, barg und behütete. Im Marwald, am Rande einer Lichtung sitzt er, gehüllt in einen wollenen Mantel, auf einem gefallenen Findling, den Kopf geneigt, die Augen geschlossen und doch sehend, den Geist im Fluge, den Zeilen eines Liedes nachjagend, welches diesen Augenblick der Stille erfasst.
Das Heulen des Windes dringt in sein Ohr, das Scharren der Büsche, das Reiben der Äste, das Ächzen der Stämme, das Auf? und Abschwellen dieses Gesangs der Natur. Ein trockener Ast zerbricht.
„Ich habe euch wohl gehört, Freunde“, sagt Kaschker ruhig, noch bevor ihm der Hüne das Messer an die Kehle setzt. Kaschker blickt nicht auf, er rührt sich nicht. Auch der Hüne ist erstarrt. Das Messer in seiner Faust ist klein, nein, es wirkt nur klein, es ist ein Messer wie jedes andere, aber die Faust des Hünen ist groß, wie alles an ihm. Sein Messer erscheint klein, aber so ist es nicht. Es ist scharf. Es kann töten.
„Setzt euch zu mir“, sagt Kaschker weiter und weist mit einer langsamen Geste auf die freie Lichtung vor sich. Seine Hand ist fein und weiß und rein, und sie ist schmal, denn er ist ein Sänger, Kaschker, der Sänger, der Lieder singt und Oden spricht, der Epen erzählt und niederschreibt, mit einer Feder. Daher ist seine Hand schmal, langfingrig. Sie hält kein Messer, kein Schwert, keine Axt, sie bietet an, sie gebietet dem Hünen und seinen zwei Kumpanen, die noch im Schutz des Waldes verharren, ins abendliche Licht seines Kreises zu treten und sich ihm zuzugesellen.
Der Hüne zögert noch und so tun es seine Begleiter, denn er ist ihr Anführer, Grom, der Räuber, welcher seit Jahren und Jahren, seit dem Fall des Dorfes Felshain, in welchem er lebte, den Marwald durchstreift und Reisende beraubt und tötet. So kommt er auch hierher, um zu töten und zu rauben, aber nun zögert er. Ebenso seine Begleiter. Sie warten darauf, dass Grom entscheidet, was geschehen soll. Dass er raubt und tötet, oder dass er es nicht tut.
„Mein Freund“, spricht Kaschker ruhig weiter, die Messerklinge an der Kehle. „Es bedarf Eurer Klinge nicht, mich zu beherrschen. Steckt also Euer Messer zurück in den Gürtel und leistet mir Gesellschaft. Ich sitze an dieser Lichtung und warte auf den Kuss meiner Muse. Leistet mir eine Weile Gesellschaft, und vielleicht –„ Kaschker lächelt versonnen, „– wer mag es ermessen, vielleicht fällt auch ein Kuss für Euch ab.“ Er sitzt reglos und nur die Augen öffnet er, ansonsten bewegt er sich nicht. Seine Augen sind grün und groß, seine Lider und Wimpern mit einem feinen Kohlestrich markiert, was seinen Blick tiefer und schwerer macht. Er kann Grom nicht anschauen, denn der Räuber steht hinter ihm, seinen rechten Arm über der rechte Schulter des Sängers liegend, sein Messer von dort an die Sängerkehle drückend.
Grom kämpft mit sich um die Entscheidung. Gewiss, der schlanke, schwächliche Schönling, der Sänger, ist keine Gefahr für ihn. Und der Schwächling ist allein. Grom hingegen ist nicht allein, im Dunkel der Bäume am Rande der Lichtung lauern noch Khel und Fringit, beides kräftige Burschen, beide mit Keulen bewaffnet, beide schnell und gefährlich. Gefährlicher als der schlanke Barde, dessen Leben Grom in seiner Hand hält.
Außerdem wartet dieser Sänger auf einen Kuss, den Kuss einer Muse, einer Frau, und lange schon hat Grom keine Frau mehr gehabt. Heißes Verlangen durchdringt ihn. Vielleicht, so sagt der Schlanke, wer wisse es, vielleicht fiele auch ein Kuss für ihn ab. Und nicht nur vielleicht wird sich Grom diesen Kuss nehmen. Zuerst den Kuss und dann die Frau. Ein breites Grinsen legt sich um seine Mundwinkel.
Er entfernt das Messer von der Kehle des Sängers und winkt Khel und Fringit zu. Zu dritt treten sie vor Kaschker, der unter seinem Mantel in kunstfertige und wertvolle Gewänder gekleidet, auf dem moosbewachsenen Stein sitzt.
Grom ist wahrlich ein Hüne. Schon vor Jahren, als sein Leben noch ehrbar und zufrieden war, in Felshain, als er seine Tage noch mit dem Fällen von Bäumen und dem Bau von Fässern verbrachte, ein Küfer war, lobten die Männer und Frauen seines Dorfes schon seine kräftige Gestalt und die Stärke seiner Arme. Er war ihre Stimme gegenüber Fremden und Reisenden. Und als das Dorf von wilden Kriegern und Berittenen in schwarzen Rüstungen zerstört wurde, da war er, Grom, der einzige, der davonkam; Felshains Stimme aber starb mit seinen Menschen. Auch seine Kumpane, Khel und Fringit, können von ähnlichen Schicksalen berichten. Auch sie sind durch Waffen heimatlos geworden, auch sie haben sich in die Wälder geflüchtet, auch sie fristen ihr Leben als Räuber.
Dort stehen sie nun, auf der Lichtung, im Marwald, vor Kaschker, dem Sänger, der auf einem Felsen sitzt und sie eindringlich mustert. Seine grünen Augen ruhen auf jedem von ihnen und blicken in ihre Seelen.
„So setzt euch doch“, sagt Kaschker und seine ausgebreiteten Arme laden die drei Schurken dazu ein, sich zu seinen Füßen niederzulassen. Grom setzt sich als erster, denn er ist der Anführer und Khel und Fringit warten zunächst ab, was ihr Hauptmann tut, bevor sie selbst handeln. So geschieht es immer. Grom steckt sein Messer griffbereit in seinen Hosenbund, und auch seine Gefährten legen ihre Keulen neben sich ab, wo sie schnell nach ihnen greifen können, um schließlich doch zu tun, was sie zu tun gekommen sind. Zu rauben und zu töten.
Neben Kaschker liegt ein Beutel am Boden, und als er danach greift, grunzt Grom und knurrt bedrohlich, und Khel und Fringit greifen nach ihren Knüppeln. Kaschker hält inne und wirft dem Räuberhauptmann seinen Beutel zu, in dem sich ein kleiner Schlauch guten Weines von der Weininsel befindet sowie einige getrocknete Trauben. Kaschker bietet sie an und nachdem Grom den Sänger einen Schluck Wein trinken und eine handvoll Trauben verspeisen hat sehen, greift auch er zu. Ebenso Khel und Fringit. Alle schweigen, bis Kaschker zu sprechen beginnt.
„Die Abenddämmerung auf einer Waldlichtung zu erleben, ist eine besondere Gnade“, spricht er. „Diese Stille, die regiert, wenn der Tag stirbt und die Nacht geboren wird, so als halte die Welt einen Augenblick inne. Dieser Augenblick, in dem die Nacht aus ihrer Schale bricht, ist wertvoller noch als die Geburt eines neuen Tages. Wie eigentümlich, dass die Sterbensmomente so ungleich angenehmer sind als die Geburtsmomente.“
„Was redest Du für Zeug!?“ brummt Grom mit traubenvollem Munde. „Dass Sterben ein Spaß ist? Kannst mir glauben: ich sah viele sterben, ich selbst brachte sie um, und nicht ein einziger von ihnen hatte Spaß dabei! Nicht einer!“
„Aber bedenkt, niemand tötet den Tag“, erwidert Kaschker. „Der Tag vollendet sich selbst, er geht seinen Weg, jenen Weg, welchen alle Dinge gehen, bis an sein Ende. Der Tag wird geboren, er lebt und er stirbt. Dieser Lauf ist auch unser Schicksal. Doch das Ende ist allezeit auch der Beginn eines Neuen. Nennt es die Nacht, nennt es den neuen Tag, immerzu folgt etwas nach, immer erwächst aus dem Ende des einen der Beginn des anderen.“ Kaschkers Blick schweift über die Köpfe der vor ihm sitzenden Banditen über die Lichtung, Khel und Fringit schauen unsicher hinter sich, erblicken aber nichts. „Das Ende des Tages weist uns auf, wie das Leben ist. Wie das Leben sein sollte. Und es weist uns vor allen anderen Dingen auf, was der Tod uns sein sollte: ein Teil des Lebens, sein bedeutsamster, letzter Teil.“
„Du sagst also, Du freust Dich auf den Tod?“ fragt Grom und zieht misstrauisch seine Brauen nieder und seine Lippen hoch.
„Da haste aber Glück, dass wir vorbeigekommen sind!“, lacht Khel glucksend, während Fringit breit grinst und einen Schluck Wein nimmt.
„Wenn es so weit sein wird, dass mein Tod an der Zeit ist, werde ich ihn als meinen Gast empfangen. Ich werde ihn als den meinigen erkennen, als etwas, das zu mir und meinem Leben gehört. Mein Tod ist jenes Ziel, an welches das Schicksal mich geführt hat und welches das Ende meines irdischen Weges bezeichnet. Ich werde ihn genießen, wie ich diese Abenddämmerung genieße."
Grom lächelt böse. "Du bist ja völlig wahnsinnig. Ha. Und ich muss Dich enttäuschen. Nicht das Schicksal, sondern wir ...“ – spöttisch breitet er die Arme aus und neigt das Haupt leicht, wie in einer Verbeugung – „... werden Dich töten. Wir nehmen Dein Geld, und wir nehmen Dein Leben.“ Das Lächeln wird noch breiter, als Bestürzung sich im Antlitz des Sängers zeigt. „Ach, guck doch nicht so! Wir sind Räuber, meine Freunde und ich. Nicht wahr? Und wie Du sagst, wenn Du tot bist, entsteht doch etwas Neues. Du redest doch so schöne Sachen. Hör mal, wenn wir Dich da drüben verscharren …“, Grom weist mit dem Arm auf einen letzten, von der Sonne beschienenen Fleck am Rande der Lichtung. „… dann wachsen sicher sehr schöne Blumen auf Deinem Grab! Habe ich recht?“ Khel grinst und Fringitt lacht kehlig.
Kaschker ist blass, vor Bestürzung oder vor Wut, doch beides beeindruckt die Räuber nicht. „Ihr Schurken wollt mir also mein kostbarstes Gut rauben, das Euch zu gar nichts nutzt?“
„Natürlich nutzt es uns! Bist Du tot, kannst Du uns nicht verraten! Außerdem sind wir Räuber. Man fürchtet uns. Wir rauben nicht nur, wir töten auch. Darum fürchtet man uns. Dich auszurauben ist ein Ding, aber Dir das Leben zu nehmen ist noch viel besser. Und denk immer an die schönen Blumen, nicht jeder hat es so gut. Meist verscharren wir die Leute nicht mal. Und was dann Neues aus ihnen wird, ist Krähenschiss und Fliegendreck.“ Grom brüllt vor Lachen und die kostbare Stille der Dämmerung zerschellt daran. Der Moment ist vorüber.
„Aber ihr nehmt mir nicht mein Leben“, presst Kaschker zwischen bleichen, dünnen Lippen hervor. „Ihr nehmt mir meinen Tod.“
„Ach was! Den geben wir Dir", kichert Khel. Er besudelt sein schmutziges Leinenhemd mit Wein, als das Kichern ihn unverhofft schüttelt. Der Sänger amüsiert ihn.
„Nein. Ihr nehmt mir meinen Tod!“ fährt Kaschker unbeirrt fort. „Und gebt mir den eurigen!“
„Freundchen, Du drohst uns?!“ knurrt Grom und packt sein Messer. Auch Khel und Fringit fassen ihre Keulen. Die drei Räuber spannen sich, aus Khels Bart tropfen einige Trauben.
Kaschker atmet tief ein, er unterdrückt das Beben in seiner Stimme. „Nein“, erwidert er und blickt quer über die Lichtung, über die Köpfe seiner Mörder hinweg. Khel und Fringit schauen sich um, aber sie erblicken nichts. „Wie könnte ich euch drohen?“ Kaschker wirkt mutlos. Doch dann stiehlt sich ein Glimmen in seinen fast schon erloschenen Blick. „Aber hört! Wenn mein Tod von euch schon unbedingt beschlossen ist, so erbitte ich nur wenige Augenblicke. Da ich nun weiß, dass ich bald sterben werde, schenkt mir noch eine Frist, auf dass ich meine Seele wappne, meinen Tod zu erleben.“
„Was für ein Blödsinn! Warum sollen wir Dir Zeit geben? Wir können es doch ganz schnell machen, Du merkst es dann nicht einmal.“ Fringit schnaubt kopfschüttelnd.
„Aber ich will es merken. Ich will das Ende meines Lebens, meinen Tod erleben. Ich gab euch Wein und Trauben, ist eine kurze Frist dafür ein zu hoher Preis?“
„Ha. Wir hätten uns den Wein und die Trauben auch einfach nehmen können.“ Grom schnauft und seine Hand, seine gewaltige Pranke öffnet und schließt sich um den Griff seines Messers.
„Ja, das ist wahr. Aber ich gab sie euch. Und ebenso werdet ihr mir etwas Zeit geben. Vielleicht könnte auch ich sie mir nehmen.“ Kaschker lächelt versonnen und blickt Grom in die Augen. Seltsamerweise glaubt Grom diesem dünnen, schwachen Mann, dass dieser sich die Zeit nehmen kann. Er vermag nicht zu sagen, warum er dies glaubt und ebenso vermag er nicht zu erkennen, wie der Sänger sich Zeit nehmen will. Aber der Glaube daran, das Gefühl ist stark.
Grom legt sein Messer wieder neben sich und diesem Beispiel folgen Khel und Fringit. „Na gut. Wieviel Zeit brauchst Du?“ fragt Grom ungeduldig. „Es wird dunkel. Wir haben nicht die ganze Nacht.“
„Ich warte auf den Kuss meiner Muse. Gebt mir diese Zeit.“ Kaschker schließt die Augen und sein Geist begibt sich erneut auf die Reise in eine Welt jenseits der körperlichen.
„Wann die wohl auftaucht“, murrt Khel, der besorgt den immer dunkler werdenden Himmel betrachtet. Auch Fringit zweifelt: „Lass ihn uns jetzt berauben und töten, Grom. Wer weiß, wann die Muse sich blicken lässt. Du kennst doch die Weiber.“ Überhaupt glauben Khel und Fringit, dass Grom den Schönling ohne Zaudern hätte töten sollen, doch das sagen sie nicht, sie wagen es nicht zu sagen, Grom ist der Anführer und er trifft die Entscheidungen. Groms Begleiter zweifeln, doch in ihre Augen hat Kaschker auch nicht geschaut.
Sein Blick traf Groms Augen. Und in diesem Blick las der Hauptmann die Erwartung des nahenden Todes, der unter sie fahren wird. Grom schaudert beim Gedanken an diesen Blick. Schließlich bedroht er den Barden, er hält das Messer, er ist der Räuber. Schließlich hält er das Leben des Sängers in seiner Hand. Er entscheidet über Leben und Tod. Er entscheidet über den Zeitpunkt.
Mit geschlossenen Augen spricht ihn Kaschker an: „Wisst Ihr, einmal, vor langer Zeit, verlor ich mein Leben, mein Freund. Und doch starb ich nicht. Ich verlor alles, was mir lieb und wert war, mein Heim, meine Gefährten, meine Hoffnung, mein Vertrauen. Alles wurde mit der Feste Kef zu Trümmern zerschlagen, und auf ihren Ruinen gerann das Blut, das ihre Mörder vergossen hatten. Kef war mein Leben und es wurde mir genommen.“
„Was jammerst du rum?!“ fährt ihn Khel an und Fringit fletscht die Zähne. „Meinst Du, uns ist es anders gegangen? Wir haben auch unsere Familien und unsere Freunde verloren. Wir haben selbst keine Heimat mehr, wir leben im Freien, wir schlafen im Dreck. Du bist nicht der einzige, dem das Schicksal das Leben versaut hat.“
„Fürwahr. Aber ich beklage mich nicht. Ihr seid es, die sich beklagen. Denn ihr habt nicht allein eure Leben verloren, sondern – was weit schwerer wiegt – ihr verlort eure Seelen“, erwidert Kaschker, die Augen weiterhin geschlossen. „Denn wenn ihr lebt, wie ihr lebt, wenn ihr tötet, wie ihr tötet – dann sind eure Seelen in der ewigen Nacht der Verdammnis gefangen. Ihr kennt das Leid, den Schmerz, die Verzweiflung, welche das Nichts mit sich bringt, wenn einem nur die bloße Lebendigkeit bleibt. In euch brennt ein alles verzehrender Hass, und weil er nicht jene verzehren kann, denen er gilt, verzehrt er statt ihrer eure Seelen. Ein Schatten, dunkler als die Nacht bei Pechmond, hält eure Seelen umfasst.“ Fringit schluchzt, hält sich erschrocken die Hand vor den Mund, aber dann sieht er, dass auch Khels Lippen zittern. Nur Grom sitzt reglos da, nein, ein Beben fährt durch seinen hünenhaften Leib.
„Ich jedoch habe mich von dieser Finsternis errettet,“ fährt Kaschker unerbittlich fort und blickt über die Räuber hinweg auf die Lichtung. Khel und Fringit sind zu betäubt von den Worten des Sängers, um hinter sich zu blicken, wozu auch, sie haben die vorigen Male ja doch nichts erblickt. „Ich habe in der Asche des Gewesenen die Glut des Neuen gesucht und gefunden. Ich habe im Tod meines vergangenen Lebens den Beginn meines künftigen Lebens erblickt.“ Kaschker richtet den Blick wieder auf die bebenden Banditen, die schwer atmend, rot vor unbändiger Scham und Wut, vor ihm sitzen. „Eure Seelen hingegen sind in der finsteren Stille gefangen, die das Alte mit dem Neuen verbindet. Obschon ihr euch als die Urheber des Übels wähnt, seid ihr zugleich seine entwürdigtsten, erniedrigtsten Opfer.“
„Halt Dein verdammtes Maul, Dreckskerl!“ donnert Grom und springt auf. „Nie wieder werde ich ein Opfer sein!“ Auch Khel und Fringit springen auf, denn Grom ist der Anführer. „Ich habe geschworen, nie wieder ein Opfer zu sein! Und ein blöder Schwätzer wie Du wird mich nicht wieder daran erinnern, wie es sich anfühlt, Opfer zu sein. Ich bin es, der andere zu seinen Opfern macht! Du wirst Dir in Dein hübsches Hemd scheißen, bevor ich Dir Dein verlogenes Herz rausschneide. Und dass du es weißt: Deine Muse werde ich mir vor Deinen Augen vornehmen." Ohnmächtig schüttelt er die gewaltige Faust, in der sein Messer fast verschwindet, wütend aber unentschlossen stehen Khel und Fringit hinter ihm.
Die grünen Augen des Sängers schließen sich, öffnen sich erneut. Weder Furcht noch Hass steht in ihnen geschrieben, nur Schmerz, solcher, wie ihn Grom nicht kennen will und doch immer wieder erinnert, in den kalten Nächten unter einem mondhellen Himmel. Es ist ein Schmerz, wie ihn nur jene kennen, die einst ihr Leben verloren und doch zum Weiterleben verdammt wurden. „Aus Euch spricht jene Angst, die Euch zu ihrer Geisel gemacht hat. Vielleicht wecken meine Worte in Euch den Schmerz der Erinnerung, aber sie können Euch auch den Weg zur Erlösung weisen. Ihr tragt keine Schuld an jenen Geschehnissen, die Euch zu dem gemacht haben, das aus Euch geworden ist. Aber Ihr tragt die Schuld daran, dass Ihr zugelassen habt zu werden, was Ihr nun seid. In Euch brennt die Verzweiflung, aber wenn Ihr Euch diesem Feuer stellt, dann gibt es noch Hoffnung für Eure Seele.“
„Mit diesem Geschwafel ziehst Du Deinen Kopf nicht aus der Schlinge, Freundchen!“ speit Grom, dessen Kiefer vor innerer Wut malmen, vor dessen Lippen schaumiger Speichel tritt. Weniger noch als die Worte des Sängers kann er den Anblick der schrecklichen grünen Augen ertragen, in denen sich das furchtbare Brennen spiegelt, welches seine Seele zugrunde richtet.
Kaschker bleibt ruhig vor den aufgebrachten Banditen sitzen, um seine Lippen spielt ein leises Lächeln. „Ihr habt die Wahl. Stellt Euch dem Schmerz, und ihr werdet ein neues Leben finden. Lasst die Vergangenheit hinter Euch, nehmt von Euren Lieben im Frieden Abschied und die Erinnerung an sie wird Euch ein treuer Gefährte sein.“
„Genug, Schwätzer. Du wirst sterben. Und wenn Deine Muse kommt, um über deinem toten Leib zu weinen, werden wir sie uns nehmen. Sie wird uns küssen, und sie wird uns Freude bereiten, und sie wird leiden, und sie wird sterben." Groms Augen brennen vor Hass und Angst, Hass auf den schmächtigen, bleichen Sänger, der ihn erinnert an seinen Tod, Angst vor seinen Worten, die ihm die Sinne nehmen, ihn schwindeln lassen.
Kaschker, der Sänger von Kef, das Jahre und Jahre in Trümmern liegt, erhebt sich langsam von seinem moosbewachsenen Stein. Sein Lächeln wird breiter, er hebt die Arme und legt den Kopf in den Nacken. Seine grünen Augen schließen sich erneut und seine Stimme ruft nach seiner Muse. „Eile herbei, o Muse. Wir schwachen Sterblichen vermögen nicht zu erkennen, wem Leben und wem Tod beschieden sind – wähle also Du, wer dem Licht gehört und wer der Finsternis!“
Grom, der den Sänger hat gewähren lassen, anstatt ihn sogleich zu erdolchen, platzt nun endgültig der Kragen. Der Schrei, den er ausstößt, entringt sich dem brodelnden Inferno seiner Seele, er packt sein Messer fester, holt aus und eine scharfe Klinge dringt in seinen Rücken, schiebt sich durch sein Herz, ragt aus seiner Brust.
Grom ist überrascht. Ebenso Khel und Fringit, denn Grom ist ihr Anführer. Grom stirbt. Ein Messer zerfetzt Fringits Kehle, durchstößt dann Khels Auge, beide sterben, drei sinken tot zur Erde. Über ihnen steht Lucka, eine schlanke Klinge in der Linken, ein Messer in der Rechten.
„Kaschker“, sagt sie, wirft ihm einen verärgerten Blick zu und schüttelt den Kopf. „Du bist unmöglich! Ich kann Dich nicht einmal einen Tag alleine lassen.“
Kaschker öffnet die Augen und blickt auf die Toten herab. Er seufzt, dann lächelt er und deutet nach jener Stelle hin, an der das letzte Licht der Sonne sich soeben verliert und an der die Räuber seinen toten Leib verscharren wollten. „Dort drüben ist eine schöne Stelle für diese armen Burschen, findest Du nicht auch? Ich glaube, das hätte ihnen gefallen.“
Lucka steht da, mit offenem Mund. Dann steckt sie ihre Waffen weg, schnaubt und stampft zornig auf. „Kaschker, ich rede mit Dir! Die Kerle wollten Dich umbringen? Warum wehrst Du Dich nicht? Was, wenn ich nicht rechtzeitig gekommen wäre?“
Kaschker lächelt immer noch, er schaut Lucka an, und sie merkt, wie ihr Zorn unter diesem Blick dahinschmilzt. Unwillig schüttelt sie mit dem Kopf, steckt ihre Waffen weg und versucht vergeblich, sich gegen das Lächeln zu sträuben, das nun um ihre Lippen spielt, versucht, es wenigstens vor ihm zu verbergen. Es gelingt ihr nicht.
„Ich habe mich doch gewehrt“, sagt Kaschker und tritt über die Leiber der Toten hinweg zu ihr. „Und Lucka: Du bist nicht zu spät gekommen. Du bist noch nie zu spät gekommen.“ Er haucht ihr einen Kuss auf die Stirn und der letzte Funke ihres Zorns verlischt. Sie legt ihre Hände an seine Wangen und schaut ihm tief in seine grünen Augen. Er schließt sie in seine Arme, sie küssen sich, halten sich eng umschlungen.
„Meine Muse.“