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Die Musik und die Moral
Die Musik und die Moral
Als sie erwachte, lag der Raum im Halbdunkeln. Nur einzelne Sonnenstrahlen hatten es geschafft, sich ihren Weg durch die heruntergelassenen Rollläden zu bahnen. Der in der Luft liegende Staub wurde erhellt, sodass man ihn sehen konnte. Doch nicht das Tageslicht stellte den Grund für ihr Erwachen dar. Durch die einfachen Scheiben konnte sie es genau hören. Ein E - kurze Pause - ein falsch gegriffenes A - erneute Pause - beim zweiten Versuch klappte es – Ein sanft gezupftes C. Sie setzte sich im Bett auf. Der Wecker zeigte neun Uhr 18 an. Das Gitarrenspielen wurde lauter. Ihre nackten Füße berührten den namibischen Teppich, der vor ihrem Bett lag. Anhaltendes Gitarre spielen. Sie knipste das Licht an und guckte sich im Raum um, ohne die Erwartung zu hegen, etwas Ungewöhnliches darin zu entdecken. Das Zimmer, in welchem sie schlief, war groß für ein Schlafzimmer. Umso karger wirkte die Einrichtung. Nichts weiter außer einem Schreibtisch samt Stuhl, einem Schrank und ein paar Werken afrikanischer Künstler, die sie schon seit Jahren als Erinnerungsstücke aufhob. Den halbhohen Schrank, den man auch als Kommode hätte bezeichnen können, zierte nur ein einziges Foto. Es zeigte ein junges Paar, das voller Zuversicht in die Kamera lächelte.
Das Spiegelbild, das sie in ihrer Schlafzimmerscheibe sehen konnte, zeigte den Umriss einer in die Jahre gekommenen Frau. Ihr graues Haar schimmerte selbst bei der spärlichen Beleuchtung, die der Raum bot. Sie trat auf den Flur. Die Gitarre war verstummt. Kurz lauschte sie, dann stieg sie die Treppe hinab in die Küche, jedoch nicht ohne sich zuvor einen Bademantel von der Garderobe zu nehmen. Ein Kaffee: drei Löffel Kaffeepulver, kein Zucker, keine Milch. Die Musik setzte wieder ein. Unerwartet empfand sie ein Gefühl der Erleichterung. Diesmal würde sie ihn auf frischer Tat ertappen. Ruhestörung um 20 nach Neun und das am Sonntag. Nicht, dass nicht jeden Tag für sie Sonntag gewesen wäre, aber heute stand es eben auch im Kalender. Sie öffnete die schwere Tür aus dunklem Mahagoniholz.
Es war erstaunlich mild für einen Märzmorgen. Der Wind wehte leicht und nahezu keine Wolke verdeckte die Sonne, die heute so fröhlich schien als hätte sie vor, sie noch von ihrem Vorhaben abzubringen. Doch ihr Beschluss war gefasst. 15 Schritte dann stand sie vor der Tür des Nachbarhauses. Es war ein altes Haus, so wie beinahe alle Häuser in der Straße. Erbaut in den fünfziger Jahren. Leute, die sich solche Häuser leisten konnten, hatten immer Geld, auch in der Nachkriegszeit. Von drinnen konnte sie noch immer das Spielen der Gitarre hören. Sie legte ihren Daumen auf den gusseisernen Klingelknopf. Zwei Namen standen darunter, obwohl nur eine Familie das Haus bewohnte. Einer der üblichen Tricks zum Verschrecken von Einbrechern. Sie wartete einen Moment, dann drückte sie den Knopf.
Sie vernahm das Bimmeln einer alten mechanischen Schelle. Es klang etwas gedämpft. Ein solches Schellen, wie man es erwarten würde, wenn man sich ein altes, großes Haus mit einem gewissen Charme vorstellte. Ein elektronisches Summen hätte nicht dazu gepasst. Der Gitarrenklang war sofort verstummt. Schritte auf dem Gang. Die Türklinke wurde heruntergedrückt. Die Gitarre hielt er noch in seiner rechten Hand. Eine Sekunde lang schaute sie in ein Paar stahlblauer Augen.
Dann knallte es kurz laut; alles war erhellt. Danach hörte sie nichts mehr; keinen Laut. Sie sah nur noch. Sie sah Menschen. Menschen in Sanitäteruniformen, Feuerwehrleute, vertraute Gesichter aus der Nachbarschaft zur beängstigten Grimasse verzerrt. Dann sah sie nichts mehr. Als sie im Krankenhaus erwachte, erfuhr sie was, passiert war. Aufgrund einer defekten Leitung hatte sich im hinteren Teil der alten Villa Gas angestaut welches anschließend explodiert war. Nur sie und der Junge hatten überlebt. Einen Moment lang versuchte sie das Geschehene zu überdenken, zu verarbeiten, sie war eine rationale Persönlichkeit redete sie sich ein. Dann wurden ihre Augenlieder schwer. Überwältigt vom Holzhammer ihrer eigenen Moral schlief sie ein.