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Die Mutprobe
Hubert Wexler betrat die Gaststube. „So ein Sauwetter!“, sagte er, als er seine pitschnasse Jacke auszog und an die Garderobe hängte. Dann sah er sich um. Der Wirt stand hinter der Theke und sah mißmutig drein.
„Ich habe mich verfahren … Hätten Sie ein Zimmer für heute Nacht?“, fragte Hubert.
Der Wirt nickte. „Sicher“, sagte er und widmete sich wieder irgendwelchem Kram, der vor ihm lag.
Hubert setzte sich an einen der leeren Tische. Am Nebentisch saßen die einzigen Gäste, drei Männer. Sie wirkten unfreundlich. Mißtrauisch sahen sie zu ihm herüber.
Hubert war kein furchtsamer Mensch. Er bestellte ein Abendessen und dazu ein Bier.
Als er mit dem Essen fertig war, hörte er dem Gespräch der Einheimischen zu. Deren Dialekt war ihm kaum verständlich. Aber es reichte, um zu merken, dass sie über ihn redeten.
„Der traut sich das nie.“
„Sollen wir ihn fragen?“
„Blödsinn. Sieht aus wie ein Feigling. Ein Stadtmensch. Sieh dir seine Hände an. Wie bei einer Frau.“
„Darf ich fragen, worum es geht?“, unterbrach Hubert die drei Hinterwäldler und setzte sich ungefragt zu ihnen.
Sie sahen ihn mit großen Augen an. Es dauerte ein wenig, dann begann einer zu reden.
Wie primitiv, dachte Hubert, als er den Mann sprechen hörte, wahrscheinlich das Ergebnis jahrhundertelanger Inzucht!
„Dass Stadtmenschen in der Regel eher ängstliche Menschen sind. Das liegt daran, dass sie mit der Natur und ihren Bewohnern selten zu tun haben.“
„Ihren Bewohnern? Sie meinen Tiere?“
„Nicht nur. Es gibt noch mehr da draußen.“
„Was sollte es sonst noch geben? Wollen Sie mir einen Bären aufbinden?“ Allmählich wurde Hubert ein wenig ärgerlich. Die hielten ihn für einen Trottel, dem sie Märchen erzählen konnten.
„Es gibt hier in der Nähe einen alten Stollen. Da drin haust ein wilder Dämon. Ich habe mit meinen Kollegen gewettet, dass Sie sich nicht trauen, da hinein zu gehen.“ Der Dörfler sah Hubert direkt an. „Und ich wette, ich gewinne.“
Hubert sah die Drei der Reihe nach an und überlegte. Was ging hier vor? Wollten Sie ihn hinauslocken und ausrauben?
„Ich sehe schon, Sie sind ein feiger Hund. Ich gewinne meine Wette.“ Der Mann wandte sich von Hubert ab.
Das war ein Fehler. Hubert war nicht feige. Und das musste er beweisen. Er ergriff den Arm des Mannes, der ihn erstaunt ansah.
„Wo ist dieser Stollen?“
„Wir führen Sie hin.“
* * *
Hubert war allein. Die Lampe, die sie ihm gegeben hatten, beleuchtete glitschige Steinmauern und kahlen Fels. Wassertropfen fielen von der Decke des Ganges und erzeugten die einzigen Geräusche mit Ausnahme seiner Schritte, die durch die kahlen, leeren Räume hallten. Es roch nach Moder und Schimmel.
„Hallo?“, rief er unsicher in die Dunkelheit. Keine Antwort. Seit vielen Jahren war dieser Ort verlassen, hatten sie ihm erzählt.
Angst war ihm fremd. Warum, wusste er nicht. Es war einfach so. Er hatte sich schon als Kind mehr getraut als Andere. Nachts in den Wald zu gehen oder über den Friedhof zu schleichen, hatte ihm nie etwas ausgemacht. Und was sollte hier schon so besonders schrecklich sein? Alles nur Gerüchte, Legenden. Kobolde, menschenfressende Bestien — Hubert jedenfalls hatte sie noch nie gesehen.
Er ging weiter und tastete sich an den glitschigen, feuchten Wänden entlang. Mit der Lampe leuchtete er in den Gang, der sich vor ihm erstreckte.
Wie weit er wohl in die Tiefe führen mochte? Er würde noch ein Stück weit gehen und dann umkehren. Er hatte seinen Mut bewiesen.
Auf einmal sah er etwas vor sich auf dem Weg hocken. Eine nackte Frau kauerte auf dem Boden. Langes, blondes Haar bedeckte sie wie ein Mantel. Ihr Körper glänzte feucht im Schein seiner Taschenlampe. Da drehte sie ihren Kopf zu ihm um. Ihre Augen wirkten hypnotisch auf Hubert. Sie starrte ihn an. Wie gelähmt blieb er stehen.
„Hallo … wer sind Sie? Was tun Sie hier?“ Seine Stimme klang unsicher. Die Frau drehte sich ganz zu ihm um. Sie stand auf und entblößte ihren makellosen Körper. Ihre vollen Brüste schaukelten und wippten bei jeder ihrer Bewegungen hin und her. Sie mochte vielleicht zwanzig oder dreißig sein. Und sie war schön — auf den ersten Blick. Nun jedoch breitete sie ihre Arme aus und Hubert erkannte lange Krallen an ihren Fingern. Als sie ihren Mund öffnete, sah er große Reißzähne aus ihren Kiefern wachsen. Sie duckte sich, spannte alle Muskeln ihres wohlgeformten Körpers und sprang mit solcher Kraft auf ihn zu, dass ihn die Wucht ihres Aufpralls glatt umwarf. Genießerisch schlug sie ihre Zähne in sein Fleisch. Er schrie laut auf.
Vor dem Eingang zum Kellerverlies standen Huberts Begleiter aus dem Gasthaus und lauschten hinein. Auf einmal hörten sie unmenschliches Kreischen und Schmerzensschreie aus dem Inneren der Gänge. Es ging eine ganze Weile so, bis die Schreie allmählich leiser wurden und schließlich in einem leisen Gurgeln verebbten.
Einer der Männer sagte: „Sie scheint fertig zu sein.“
„Ja, fertig“, erwiderte ein Anderer.
„Der Wievielte war das?“, fragte der Dritte.
„Der dritte diesen Herbst“, antwortete der Erste.
„Lasst uns nach Hause geh’n, morgen ist auch noch ein Tag. Wir müssen uns ranhalten. Der Winter steht vor der Tür. Sie ist noch lange nicht satt“, sagte der Zweite.