Die Mutprobe
Michael hatte wirklich alles versucht, um sich vor dem Schullandheimaufenthalt zu drücken.
Aber seine Eltern blieben unerbittlich, ebenso wie seine Lehrer. Er konnte ihnen nicht verraten, warum er auf keinem Fall dorthin wollte, und sich eine Krankheit ausdenken war nichts für ihn.
Er hatte gehofft, Ruhe vor ihnen zu bekommen, wenigstens für eine Woche. Aber nun saß er hier am Lagerfeuer und starrte grübelnd in die Flammen, während der dicke Georg vor seiner Clique in einiger Entfernung lautstark prahlte. Zwei Tage steckte er schon im Schullandheim fest, und sie hatten noch nichts unternommen, um ihm das Leben schwer zu machen. Doch Michael traute dem Frieden nicht. Wahrscheinlich ließen sie ihn nur in Ruhe, weil sie dabei waren, eine besondere Gemeinheit zu planen. So etwas wie einen vernichtenden Schlag. Deshalb hatte er permanent das Gefühl, auf einem Haufen zerschlagener Flaschen zu sitzen. Was heckten sie bloß aus? Er wollte es wissen, nicht etwa in der naiven Hoffnung, es verhindern oder sich gar wehren zu können – aber er wollte nicht schon wieder so überraschend gedemütigt werden.
Seit Michael zurückdenken konnte, hatte es Georg, dieser bullige Junge mit dem strohblonden Igelhaarschnitt, auf ihn abgesehen, ohne einen ersichtlichen Grund. Zumindest ohne einen Grund, der ihm logisch erschien. Michael war zurückhaltend, unauffällig, interessierte sich für Bücher mehr als für Fußball – das war für Georg Grund genug. Und sein Gefolge, bestehend aus Kurt und Werner, freuten sich, jemanden zum Piesacken gefunden zu haben. Ihre Palette an Schikanen war groß und bunt, jeder der drei hatte sein eigenes Repertoire. Meistens bestand es aus verletzenden Sprüchen, oft genug auch grausamen Streichen. Handgreiflich wurden sie so gut wie nie, denn egal wie vorlaut sich Georg gab, fürchtete er sich doch vor den Lehrern. Auch wenn er nicht so aussah, war er listig genug, sodass nie etwas von dem Mobbing ans Licht kam.
„Hey, Arschgesicht!“, rief Georg Michael zu, als gerade kein Lehrer hinhörte. Michael, der unwillkürlich hoch geschreckt war, presste die Lippen zusammen in dem Versuch, Taubheit vorzutäuschen. Wie er diesen vulgären Spitznamen verabscheute! Georgs bester Freund Kurt, ein schlaksiger bebrillter Junge, hatte eine gewisse Intelligenz bewiesen, als er ihn erfand. Denn sogar die Lehrer lasen, vor allem am Anfang, Michaels Nachnamen „Hintner“ manchmal aus Versehen als „Hintern“, was in der angespannten Klasse jedes Mal für Lacher sorgte. Das war Georgs Kumpanen nicht entgangen, und von „Hintern“ war es zu „Arschgesicht“ nicht mehr weit.
„Ich red’ mit dir, du Arschgesicht!“, fuhr ihn Georg an. Im Lagerfeuerschein sah Michael, wie sein Gesicht rot anlief, wie immer, wenn Seiner Majestät etwas nicht passte.
Werner legte nach: „Freu dich, dass überhaupt jemand mit dir redet!“
Michael fasste sich ein Herz. „Was“, stieß er leise hervor, „ist denn?“
„Du musst doch deine Mutti ziemlich vermissen“, sagte Kurt mit einem giftigen Lachen. Dann raunte er Georg etwas zu, dieser rief seinerseits: „Aber wenn ich’s mir recht überleg’, Arschgesicht, will dich nicht mal deine Mutter haben! Is’ wohl nur scharf aufs Kindergeld.“
„Sonst müsste sie unter der Brücke leben“, ergänzte Werner, „oder anschaffen gehen – aber dafür is’ sie wohl zu hässlich!“
Ein Gegröle brach aus, das Michael zweifeln ließ, ob er sich auf dem Gelände eines Schullandheims oder eines Affengeheges befand.
„Seid still“, zischte er. Obwohl er recht weit vom Lagerfeuer entfernt saß, schien sich dessen gesamte Hitze auf Michaels blasses Gesicht übertragen zu haben.
„Wie war das, Muttersöhnchen?!“
Georg wollte noch eine Beleidigung loslassen, wurde aber von einer anderen Stimme unterbrochen: „Lasst ihn einfach in Ruhe! Michael hat euch gar nichts getan!“
Die Inhaberin dieser Stimme war Laura, ein etwas pummeliges Mädchen, deren mahagonifarbene Locken das runde Gesicht umrahmten und im Licht des Feuers zu glühen schienen. Lauras graue Augen funkelten wütend, doch das beeindruckte die drei Jungen nicht.
„Guckt mal, die fette Laura!“, johlte Georg.
„Krass, sogar so ’ne Schwuchtel wie du reißt ’ne Freundin auf!“, spottete Werner.
„Sieht dir total ähnlich, dich hinter ’nem Weib zu verstecken“, bemerkte Georg.
„Lädst du uns zur Hochzeit ein?“, setzte Kurt hinzu. „Oder besser nicht, ich kann mir schon vorstellen, was für ’ne gammlige Fete das wird! Wenn deine Mutti kocht und…“
„Hört doch auf!“
Als Georg wieder sprach, was seine Stimme radikal verändert: Nun klang sie freundlich, einschmeichelnd und beinahe aufrichtig. „Du Arschgesicht willst also, dass wir dich in Ruhe lassen?“
„Ja doch!“
„Dass wir dich nicht zum Heulen bringen?“, fuhr der Dicke fort.
„Ich habe noch nie –“
„Klasse! Ich hab da ’ne Idee!“
Ein Unbehagen beschlich Michael. Es war offensichtlich, dass sich das Trio eine neue Schikane ausgedacht hatte… aber schon der Gedanke an eine zweite Chance, an Ruhe von ihnen, war zu verführerisch.
Deshalb fragte er zaghaft: „Welche Idee?“
„Eine Mutprobe! Wenn du beweist, dass du kein Weichei bist, sind wir ganz nett zu dir!“
„Das ist doch nur wieder eine von euren…“, wollte Laura einwerfen, doch Kurt unterbrach sie grob: „Wer hat dich gefragt, fette Kuh?!“
Bevor Laura etwas erwidern konnte, fing Georg mit seinem Plan an: „Du weißt doch, dass es hier in der Nähe diesen alten Wald gibt, oder, Arschgesicht?“
Michael nickte widerwillig. Trotz seines noch kurzen Aufenthalts im Schullandheim hatte auch er die Geschichten aufgeschnappt, die sich um diesen Wald rankten. Lustig waren sie nicht.
„Dort soll es Geister geben…“, flüsterte Werner mit seiner unheimlichsten Stimme, bevor Georg großspurig fortfuhr: „Klar haben wir ihn während der Freizeit ’n wenig erkundet. Und das sollst du jetzt auch tun!“
„Aber ‚erkunden’ meinen wir nicht, dass du nach zwei Minuten wieder ’rausrennst und den nächsten Zug nach Hause zu deiner Mami nimmst!“, warnte Kurt.
„Im Wald gibt’s ’nen Sumpf, und dahinter ’ne alte Hütte. Da ist nix drin außer ’nem Tisch, und drauf liegt eins von diesen Schinken, die du beim Flohmarkt mitgehen lässt.“
Jetzt wusste Michael zumindest, wo sein bereits verzweifelt gesuchtes Lieblingsbuch steckte. Es kostete ihn Mühe, mit der aufsteigenden Wut und dem Unbehagen fertig zu werden. Beschimpfungen gingen ja noch, aber mussten sie auch seine Sachen stehlen?!
„Du willst dein Buch bestimmt wiederhaben?“
Michael nickte so heftig, dass ihm die etwas längeren, dunkelblonden Haare ins Gesicht fielen.
„Heute um Mitternacht, wenn die Lehrer und alle andren pennen, gehst du hin und holst es!“, befahl Georg.
„Aber –“
„Hast du etwa Schiss, Muttersöhnchen?!“
„Nein, aber –“
Kurt schnitt ihm das Wort ab: „Wenn du kneifst oder uns verpetzt, kannst du dich auf was gefasst machen!“
Seine Drohung war ernst zu nehmen. Obwohl Michael es glücklicherweise noch nie am eigenen Leib erlebt hatte, wusste er, dass der hagere Junge harte Fäuste besaß und sie zu gebrauchen wusste.
„Hör nicht auf sie! Sie wollen dich nur –“
„Ich mach’s“, sagte er und betete, dass seine drei Peiniger und Laura nicht das Zittern in seiner Stimme gehört hatten.
„Wow, unser Arschgesicht ist mutig!“, johlte Werner.
Mit ungewohnter Ernsthaftigkeit wiederholte Georg: „Heute um Mitternacht. Wir werden dich wecken. Und versuch nicht, ohne das Buch zurückzukommen!“
Um zehn Uhr war Bettruhe. Michael blieben zwei Stunden, in denen er sich unruhig von der einen Seite des Etagenbetts auf die andere wälzte, mit dem Schlaf kämpfend. Er beneidete Christian, den Jungen, der unter ihm schlummerte. Zwar war dieser auch nicht sonderlich beliebt, doch ihm gönnte das berüchtigte Trio wenigstens seine Ruhe.
Der Schlafmangel machte ihm nicht sonderlich viel aus. Doch beim Gedanken an die bevorstehende Suche wickelte Michael, ein Zittern unterdrückend, die Decke fester um sich. Er fröstelte, obwohl er vollkommen angezogen im Bett lag.
Die Zeit schien schwankend im Raum zu hängen. Einerseits verging sie viel zu langsam, um ihn mit der Aufregung zu quälen, doch gleichzeitig schien sie ihm rasend die Mutprobe und ihre Gefahren entgegen zu tragen. Das Zimmer, das sich Michael mit Christian teilte, lag im Erdgeschoss, also würden Georg mit seinen Kumpanen keine Probleme haben, hineinzukommen. Wie lange würde es noch dauern?
Um sich abzulenken, dachte der Junge an den Inhalt seines Buches, so weit wie er gelesen hatte, Georg und seine Bande es stahlen. In der Dunkelheit sah er den Geschichtenband vor seinem inneren Auge schweben: Obwohl es die Spuren eifrigen Lesens trug und Michael ganze Regale voller schönerer, spannenderer Bücher hatte, lag ihm an eben diesem Schmöker besonders viel. Es war das Letzte, was ihm sein Vater geschenkt hatte, bevor ein Autounfall sein Leben beendete. Und wenn Michael nach längerer Lektüre die Augen schloss, konnte er Papas lächelndes Gesicht sehen.
Ein klopfendes Geräusch riss ihn aus den Grübeleien, sodass sich Michael ruckartig im Bett aufsetzte. Er suchte nach dem Ursprung des Lärms und sah Georg im Fenster. Offenbar hatte der Dicke gerade mit einem Stein gegen das Fenster geworfen. Noch mal Glück gehabt, dass das Fensterglas nicht zerbrochen war!
Georg gab Michael zu verstehen, dass er herauskommen sollte. Lautlos formte Michael die Frage „Wie?“, woraufhin ihm Georg bedeutete, er solle aus dem Fenster klettern. Als Michael den Kopf schüttelte, schien er wütend zu werden und streckte den Mittelfinger.
Michael erkannte, dass er keine Wahl hatte, und kletterte so lautlos wie möglich vom Etagenbett herunter. Er warf Christian einen verstohlenen Blick zu, doch der Junge hatte ihm den Rücken zugedreht und schnarchte kaum hörbar. Da schluckte Michael und öffnete vorsichtig das Fenster. Er hatte das Gefühl, sein Herzschlag könnte das gesamte Haus wecken; beinahe waren ihm die Beine weggesackt. Das Zirpen der Grillen draußen klang wie Spott und eine Warnung zugleich.
In Georgs bösartiges Grinsen blickend, stieg er auf die Fensterbank und hüpfte schließlich nach draußen auf das Gras. Er wollte noch zurückschauen, doch Georg zischte: „Was, hast du jetzt schon Schiss, Arschgesicht?! Oder willst du in die Heia?!“
„N-nein, ich wollte nur –“
„Dann komm mit!“
Georg führte ihn hinter das Gebäude des Schullandheims, auf die Wiese, wo schon die beiden anderen Jungen warteten.
„Ey, die Schwuchtel hat sich doch getraut!“, johlte Kurt und knuffte Werner. „Ich hab die Wette gewonnen, rück die Knete raus!“
Mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck holte Werner einen zerknitterten Fünfeuroschein aus der Tasche seiner Baggy Pants hervor und drückte ihn seinem Freund in die Hand.
„Klappe! Ihr weckt noch die Pauker!“, warnte Georg.
„Ach die! Ist doch klar, was die grad treiben!“, entgegnete Kurt und lachte schmutzig.
„Bevor die damit fertig sind, müssen wir aber los!“
Als befürchteten sie, Michael könnte es sich anders überlegen und weglaufen, packten Kurt und Werner ihn am Arm und zogen ihn mit sich. Die vier Jungen verließen das Gelände des Schullandheims und gingen die Landstraße entlang in Richtung des Waldes.
Michael war dabei so zumute, als ginge er nicht nur einer Mutprobe, sondern seiner Hinrichtung entgegen. Es half auch nichts, dass er sich einredete, die Geschichten rund um den Wald wären nichts als Schauermärchen. Augen zu und durch, dann würden ihn seine Peiniger auch in Ruhe lassen. Für immer. Aber war der Preis nicht zu hoch? Nein, mahnte er sich, schließlich musste er nichts weiter tun, als dieses Buch zu finden…
Bald, viel zu bald, hatten sie den unheilvoll wirkenden Wald erreicht. Wie eine undurchdringliche Mauer ragten die Bäume vor Michael in den Himmel hinauf; dunkler, als dass sich dafür eine Beschreibung finden ließ.
„Tja, Arschgesicht, latsch nur rein!“, rief Georg. Seine Stimme wirkte beinahe aufmunternd gegen die nervenzerfetzende Stille, die sich für einen Moment aufgebaut hatte. Wie konnte es in einem Wald nachts nur so still sein, als hätte etwas auf einen Schlag alle Geräusche ermordet? Und dieses Etwas streckte schon seine eisigen Fangarme nach Michael aus…
„Wenn du dir in die Hose machst, Muttersöhnchen, wechseln wir aber nicht deine Windeln!“, fuhr ihn Werner an. „Was ist? Gehst du endlich?!“
„Ich… bekomme ich denn nicht wenigstens eine Taschenlampe?“
„Eine Taschenlampe!“, äffte ihn Kurt nach, während er Michael einen harten Stoß versetzte. „Die Schwuchtel will noch ’ne Taschenlampe!“
„Taschenlampen sind nur was für Weicheier! Und wolltest du uns nicht beweisen, dass du keins bist?“, fragte Georg beinahe drohend.
„Doch, schon… aber ich dachte… wie soll ich das Buch in dieser Dunkelheit finden?“
„Bist du ’n blinder Spast? Oder hast du Angst, die Bäume fressen dich?“
„Nein… überhaupt nicht!“
„Gut so! Selbst diese Bäume würden von dir das Kotzen kriegen!“, stellte Kurt fest.
„Jetzt hört auf zu labern, Arschgesicht will doch nur Zeit klauen! Also los, rein mit dir!“
Georg schubste Michael so fest, dass er sofort in die Dunkelheit stolperte. Als er zurückschaute, befahl der Dicke: „Geh weiter, bevor ich dir in den Arsch trete!“
Michael schluckte und tat wie geheißen. Bei jedem Schritt schien sich die Finsternis zu verdichten, obwohl er noch gar nicht so weit vorgedrungen war. Allerdings hatte der Junge Angst, anzuhalten; er bildete sich ein, den Atem seiner Peiniger noch im Nacken zu spüren. Vor allem, als sie ihn anfeuerten: „Los, verschwinde!“
„Such’s Büchlein!“, fügte Georg hinzu. Dafür erntete er lautstarken Beifall; und der Spruch wirkte nicht einmal wie einer von seinen üblichen, schlechten Scherzen. Michael hatte den Eindruck, dass ihn der bullige Junge tatsächlich für kaum mehr hielt als einen Hund, mit dem sich nach Belieben böse Scherze spielen ließen.
Und doch gehorchte er, ließ sich Schritt für Schritt von der unheimlichen Umgebung gefangen nehmen. Er fühlte sich dabei, als bedeckten Dutzende von spinnenförmigen Eiswürfeln seinen Körper. Hatte der Junge Fieber oder erlebte nur den kältesten Sommer aller Zeiten? Er wollte es gar nicht wissen.
Nach einigen Metern – Michael kam es jedoch vor, als wäre er schon dreimal um einen schwarzen Äquator gelaufen – traute er sich, zurückzublicken. Die drei Gestalten waren nirgends zu erkennen. Es schien, als rückten die Bäume hinter ihm zusammen, als wollte ihn dieser düstere Wald nie wieder freilassen.
Die unheimliche Stille war inzwischen einer Fülle von Geräuschen gewichen, die wie unzählige kleine Albträume in Michaels Ohren krabbelten. Überall ein Rauschen und Knistern, als würde sich ein Monster mit leichtfüßiger Präzision einen Weg durch den Wald bis zu dem verängstigen Jungen bahnen, um…
Nein, nicht daran denken. Das durfte Michael nicht, schon gar nicht, weil das hier eine Mutprobe war. Wenn er sich schon von allen anderen täuschen und vorführen ließ, dann wenigstens nicht von seinen eigenen Sinneseindrücken! Das hier war doch viel harmloser als in den zahlreichen Gruselgeschichten, die er gelesen hatte. Doch wünschte sich Michael in diesem Moment, er hätte nie in seinem Leben ein Buch angerührt. Hätte er seine Freizeit durchs Gras kickend oder durch die Stadt streunend verbracht, würde seine Phantasie jetzt keine Chance haben, sich bei ihm für seine Pflege zu bedanken…
Die Fledermaus, die urplötzlich aus dem Gehölz geflogen kam und kreischend Michaels Gesicht mit dem Flügel streifte, hatte er sich aber keineswegs eingebildet! Er taumelte und schnappte nach Luft; beinah hätte er gekreischt wie ein Mädchen! Was würden wohl die drei Quälgeister dazu sagen?
Nachdem sich Michael von dem Schrecken erholt hatte, setzte er schaudernd seinen Weg fort. Obwohl er sich weit vom Schullandheim, von Georg und seinem Gefolge entfernt hatte, fühlte er sich beobachteter denn je zuvor. Augen, schwarz in schwarz, schienen ihn hinter jedem bizarren Gebilde, das tagsüber wohl wie ein normaler Strauch aussah, seinen Bewegungen zu folgen.
In der Dunkelheit stolperte Michael ständig über Baumwurzeln, und einmal hatte er sein Gesicht an einem Ast gekratzt. Den leichten Schmerz verdrängte die ständige Frage: Hatte er schon den Sumpf erreicht? Es wurde stickiger, die Rufe der Nachtvögel lauter und warnender. Bei jedem Schritt sanken seine Turnschuhe immer mehr ein, aber das war nicht der einzige Grund, warum ihm das Gehen immer schwerer fiel. Eine unsichtbare Barriere aus Luft und seinen Ängsten schien sich auf Michaels Weg aufzubauen, schwach genug, damit er vordringen konnte, aber dennoch verstärkte sie seinen Wunsch, umzukehren… davonzurennen und diesen grausigen Ort hinter sich zu lassen…
Aber Michael konnte nicht zurück. Dass ihn Georg, Kurt und Werner im Falle einer Flucht noch mehr piesacken würden, war zweitrangig. Es schien aus einem unfassbaren, grausigen Grund, physisch wie auch vom Willen her, unmöglich, zurückzukehren. Etwas, das stärker und geheimnisvoller war als diese Barriere, trennte ihn von dem Ort, wo er am liebsten sein würde: Die obere Etage des Bettes in seinem winzigen Schullandheimzimmer.
Aber eigentlich ließ sich kein Ort festlegen, überall wäre er jetzt lieber als hier, in diesem Wald, der ihm wie eine schlecht getarnte Hölle vorkam. Warum musste er auch ins Schullandheim fahren, warum zur gleichen Schule gehen wie Georg und seine Gang, warum in diesem Land leben, warum…? Warum war er Michael, das Arschgesicht, das Muttersöhnchen, das sich von den anderen alles gefallen, sich selbst hierhin treiben ließ? Warum konnte er nicht wie Christian friedlich schlafen, als Unterlage für seinen Kopf das Wissen, dass es keinen schlimmeren Albtraum geben konnte, als den, den er jetzt erlebte?
Michael schüttelte den Kopf, wie um die unsichtbaren Dämonen loszuwerden, die sich an seinen Haaren festklammerten. Gleichzeitig wunderte er sich, warum er es überhaupt zuließ, so etwas zu denken. Das hier war nur ein verdammter Wald, alles andere bildete er sich ein... als wäre er auf Angst, auf Gänsehaut aus! Vielleicht hatte sein Vater, ein hagerer, strenger Mann, Recht, als er schimpfte, Michael könnte die Realität kaum von dem unterscheiden, was er in seinen geliebten Büchern las.
Bücher! Das brachte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurück – den schlammigen Boden, dort, wo der Sumpf anfing. Jetzt erst sah Michael den Nebel, der sich wie ein Leichentuch über dem Sumpf ausbreitete. Es kostete den Jungen eine unglaubliche Anstrengung, albtraumhafte Gedanken von Moorleichen und anderen Grausigkeiten zurückzudrängen, stattdessen sich das weitere Vorgehen zu überlegen. Er war beinahe am Ziel… bei einer weiteren Unmöglichkeit angekommen. Nirgends war eine Brücke zu sehen, die ihn hinüberführen würde, zu der Hütte, wo sein Buch versteckt war. Die Hütte sah er auch nicht, dafür war der Nebel zu dicht. Sollte er etwas blindlings durch den Sumpf schreiten? Durch diese dunkle, dicke, faulig stinkende Brühe hindurch, die so gierig blubberte wie der Bauch einer Bestie, die sich auf eine frische Mahlzeit freute?
Michael hatte keine Wahl, und Angstzustände brachten ihn auch nicht weiter. Praktisch gesehen bestand seine Aufgabe nur daraus, den Sumpf zu überqueren und das Buch zu finden. Er versuchte, sich zu beruhigen: Bestimmt war dieser Sumpf nicht einer wie aus den Schauergeschichten, wo ein Schritt reichte, um in der zähen Substanz für immer zu versinken. Nein, redete sich Michael ein, das Moor hier war kaum mehr als eine überdimensionale Schlammpfütze, er musste nur seinen Ekel und sein Unbehagen überwinden, und dann…
Er wagte einen Schritt hinein. Sofort schloss sich die Masse schmatzend um seine Turnschuhe. Einen Moment lang machte sich Michael Sorgen, was seine Mutter wohl dazu sagen würde, wenn er das ehemals weiße Paar als zwei Drecksklumpen aus dem Schullandheim zurückbrachte. Doch dann riss er sich zusammen, wütend auf sich selbst. Das, genau dieses kindische Denken war doch der Grund, warum ihn Georgs Gang Muttersöhnchen schimpfte! Jetzt war es egal, was seine Mutter sagte – er war kein Weichei, der sich vor Mamis Schimpfen fürchtete. Und wenn dieses unheimliche Spielchen überstanden war, würde er auch nie mehr in seinem Leben ein Buch anrühren, schwor sich der Junge, als er mühsam den Fuß aus dem Sumpf zog und nach vorne setzte.
Je weiter er sich hineinwagte, desto schwerer fiel ihm jeder Schritt. Immer fester umklammerte das Moor, wie ein einziger bösartiger Organismus, jeden Teil von Michael, der sich in seine Fänge wagte. Ihm stand der Schlamm bis zum Knöchel, bald schon bis zu den Schienbeinen, und ohne es zu merken, watete Michael irgendwann knietief in der dicken Brühe. Das Ende des Moors und die Hütte waren jedoch nicht in Sicht. Das Unbehagen verstärkte sich mit jedem Zentimeter, den der Junge zurücklegte.
Als Michael noch eine mühsame Bewegung versuchte, stellte er entsetzt fest, dass er seinen Fuß nicht mehr aus dem Sumpf ziehen konnte! Kein Weg vor, kein Weg zurück. Alles gab unter ihm nach, das klebrige Zeug war zu instabil, als dass er sich noch fortbewegen konnte, und doch seine Umklammerung stark genug, um Michael festzuhalten – für immer?
Während der eisige Griff der Angst sich immer fester um seinen Nacken schloss – simultan mit dem des Sumpfes um seine Beine – wurde Michael klar, dass er einen furchtbaren, dummen Fehler begangen hatte. Was hatte er sich dabei gedacht, einfach mitten ins Moor hineinzuschreiten, als würden all die Warnungen, all die Gruselgeschichten um diesen verwunschenen Sumpf nicht mehr existieren? Als verlor dieser lebensgefährliche Ort jede Tücke, nur weil… nur weil Arschgesicht sein Büchlein suchte?
Es kostete Michael eine ungeheuere Anstrengung, nicht in Tränen auszubrechen. Immer heftiger wurden seine Befreiungsversuche, durch die er jedoch nur immer weiter einsank. Bis zur Hüfte steckte er schon im Sumpf, der ihn langsam verschluckte. Schlagartig hörte er auf, zu strampeln. Es musste doch einen anderen Weg geben! Wenn er nur irgendeinen Halt fand, einen Stein, einen Zweig, an dem er sich festklammern und sich aus dem Moor ziehen konnte! Aber nichts sah er, außer diesem Nebel, dessen Gestank sich mit dem von Michaels Angst vermischte. Ihm wurde übel vor Todesangst. War es gleich aus?
Nicht einmal um Hilfe rufen konnte Michael noch. Er wusste, dass es nichts bringen würde, außerdem versagten ihm seine Stimmbänder den Dienst, genau wie der Rest seines Körpers. Eine eigenartige Resignation, furchtbarer als alles, was er in diesen Minuten bereits durchgemacht hatte, ergriff von dem Jungen Besitz. Als wollte er, wenn ihm schon nichts übrig blieb als sich von der dunklen Masse verschlucken zu lassen, wenigstens die letzten Augenblicke nicht durch einen sinnlosen Kampf vergeuden.
Als gäbe es in seiner Situation nicht schon genügend Schrecken, sah Michael nun im Nebel eine Gestalt auf sich zuschweben. Der Würgegriff des Sumpfes, in dem er inzwischen bis zu den Ellbogen feststeckte, hinderte Michael daran, die Augen zu reiben. Spielte ihm sein, durchs Entsetzen terrorisierter, Verstand einen Streich? Er wollte nicht als letztes eine Halluzination sehen, die ihn durch ihr Erscheinen, durch ihre Verschwommenheit auslachte.
War diese Gestalt, die ein Teil des Nebels zu sein schien, eins dieser Gespenster, um die sich die schaurigsten Geschichten rankten? Genau konnte er es nicht sagen, denn dieses Etwas erschien viel zu zittrig hinter dem milchigen Vorhang. Seine Konturen waren teilweise von dem lügnerischen Weiß verborgen, aber Michael sah genug, um sich noch verlorener zu fühlen. Kam es, um ihn zu holen? Michael wollte es gar nicht wissen, viel zu schwer drückte die Gleichgültigkeit auf ihn. Wenn er nicht im Sumpf erstickte, würde er das Opfer dieses Geistes werden…
Gerade als er in seiner Verzweiflung glaubte, es gäbe keine Rettung mehr, hörte er plötzlich eine Stimme – und verspürte eine gewisse Erleichterung, so weit, wie es in seiner Situation möglich war. Diese Stimme klang nicht so, wie man sich die eines Gespenstes vorstellte; es war sogar eine vertraute Mädchenstimme, die rief: „Halte durch, Micha!“
Im selben Moment, wo dieser Ruf die Geräuschkulisse des Sumpfes unterbrach, zerriss die Gestalt den Nebel weit genug, um erkannt zu werden. Jetzt begriff Michael, dass es Laura war, die auf ihn zurannte. Aber aus irgendeinem Grund kam ihm nicht einmal in den Sinn, dass sie ihn retten konnte; im Gegenteil, auf einmal verstärkte sich seine Angst – dass nun auch sie, die nichts mit dem grausamen Streich zu tun hatte, hier im Moor ihr Ende finden könnte. Er hatte kaum noch genug Kraft, um zu schreien: „Geh nicht weiter!“
Gerade noch rechtzeitig blieb sie stehen, aber nicht so sehr, weil sie auf Michaels Warnung hörte, sondern, weil sie nach etwas suchte, um ihn herauszuholen. In diesen schrecklich langen Momenten, als sie sich umsah und suchend am Boden tastete, sank Michael immer weiter ein. Obwohl er es wie durch ein Wunder schaffte, die Arme aus dem Sumpf zu ziehen, stand ihm die Masse bis zu den Achseln. Wenn er nicht sofort etwas zum Festhalten fand…
„Ich hol dich doch hier raus!“, versicherte Laura, was Michael mit einer Mischung aus Skepsis und Aufregung aufnahm.
Er konnte sie im Nebel nicht völlig scharf erkennen, doch bildete er sich voller Schrecken ein, zu sehen, wie auch sie langsam einzusinken begann. Ein bedenklich großer Teil ihrer Schuhe – wie die seinen nicht besonders modisch – war inmitten des Schlamms nicht mehr zu erkennen.
Aber gerade noch rechtzeitig richtete sich Laura wieder auf, einen großen Ast in der Hand. Vermutlich war dieser durch das ungewöhnlich heftige Sommergewitter letzte Nacht abgebrochen worden. Michael wunderte sich, ob Lauras Fund nicht zu schwer für sie war, immerhin war der Ast fast genauso groß wie sie selbst. Georg (aus dessen Munde diese Beleidigung besonders lachhaft klang) und seine Clique schimpften das Mädchen eine fette Kuh, obwohl sie höchstens kräftig war. Und dafür bedankte sich Michael jetzt bei allen nichtvorhandenen Göttern, die ihm diese Hoffnung schenkten: Vielleicht war sie sogar stark genug, um ihn herauszuziehen!
Entschlossen näherte sich Laura ihm, mit der Gefahr des Moores spielend. Sie kniete sich halb hin, um stabiler zu stehen, und hielt vorgebeugt den Ast Michael entgegen. Verzweifelt steckte er seine Hände danach aus, doch da seine Arme kaum noch aus dem Sumpf ragten und ihm die Brühe den Hals hinaufschlich, war sein Bewegungsvermögen spürbar eingeschränkt. Automatisch wollte Laura näher kriechen, damit er den Stock endlich zu fassen gekriegt hatte.
„Nein, nicht! Du versinkst! Geh zurück!“
„Einen Teufel werd’ ich tun!“, erwiderte sie und bewegte sich vorwärts, bis Michaels Fingerkuppen beinahe das Holz berührten. Nur noch ein kleines bisschen… aber der Sumpf schien ihn gerade jetzt besonders schnell zu verschlingen, als wollte sein boshafter Intellekt den Jungen gerade vor der Rettung…
Laura streckte sich, so gut es ging. Da! Michaels Hand klammerte sich an das Ende des Astes, er zog es näher zu sich, um sich auch mit der anderen Hand festhalten zu können.
„Zieh!“, rief er, ohne zu überlegen, Laura zu, denn er spürte die Schlammmassen schon unangenehm um sein Kinn rumoren.
Sie tat wie geheißen, und Michael merkte, wie das Versinken gebremst wurde. Doch der Sumpf wollte seine Mahlzeit nicht kampflos der Freiheit überlassen. Der Junge blieb zwar stecken, aber das Herauskommen war problematischer als gehofft. Nur millimeterweise, unter angestrengtem Zerren – selbst von hier aus hörte Michael das Keuchen seiner Retterin – kämpfte er sich aus der Umklammerung. Dennoch, es war ein Wunder, langsam kam sein Hals wieder zum Vorschein, dann die Schultern… schließlich war Michaels Oberkörper zur Hälfte frei! Seine Arme, die schon zu schmerzen anfingen, ragten vollständig aus dem Sumpf. Jetzt könnte er sich deutlich besser bewegen, kam immer schneller heraus. Michael versuchte sogar, seine Beine zu bewegen, wie um sich abzustoßen, allerdings brachte das im Moment wenig.
Doch gerade als er sich völlig sicher war, bald freizukommen, wurde Lauras ziehender Griff schwächer. Wurde sie müde? Die Angst schwappte zurück, zeitgleich mit dem Moor, das sich über den plötzlichen Vorsprung spürbar freute. Sie konnte jetzt doch nicht aufgeben, ihn im Stich lassen! All der Mut verpuffte plötzlich, denn auch seine Arme wollten ihm bald den Dienst verwehren.
„Kein Sorge“, brachte Laura hervor, als hätte sie Michaels Panik bemerkt, „ich lass nicht locker!“
Sie holte tief Luft und zog mit doppelter Kraft. Schmatzend, quälend langsam, gab der Sumpf Michaels Körper bis zur Taille frei. Auch er sammelte sich, setzte seine Hände weiter vorne um den Stock, kam dadurch wieder ein Stück vorwärts.
Auf einmal bestand die Welt nur aus Ziehen und Bangen und Kräftesammeln, aufgelöst im Nebel, eingegrenzt von dunklen Bäumen und dieser schwarzen Masse. Doch auch Michaels Oberschenkel waren nun davon befreit, wenn er sich heftiger bewegte, auch die Knie… Bald geschafft! In Gedanken flehte der Junge Laura an, jetzt nicht schlapp zu machen. Inzwischen kamen auch seine Schienbeine zum Vorschein. Einen Augenblick lang besonders kräftig ziehen – und Michael war frei!
Er richtete sich auf, bemüht, nicht gleich wieder einzusinken. Sein Körper, an dem die Kleidung völlig verschmutzt klebte, fühlte sich an, als würde er ihm noch nicht ganz gehören. Doch Michael taumelte vorwärts. Den Schmerz in den Gliedmaßen, die Schwäche ignorierend, rannte er auf Laura zu – wenn man überhaupt von „rennen“ reden konnte, so angestrengt, wie sich Michael bewegte. Aber trotz des allgegenwärtigen Schlamms, der sein Gewicht verdoppelte, bemerkte er sofort diese Leichtigkeit. Was machte schon so ein bisschen Dreck aus – er lebte! Und das hatte er diesem pummeligen Mädchen zu verdanken, das mit einem erleichterten Lächeln den Stock fallen ließ.
Gemeinsam kehrten sie zu der Stelle zurück, wo der Boden halbwegs stabil war. Und dann tat Laura, was keine ihrer zierlichen, nach der neuesten Mode gekleideten Klassenkameradinnen tun würde: Sie umarmte Michael. Dabei schien es ihr völlig egal, dass der Gestank des Sumpfes an ihm haftete, dass sie auch den Schmutz abbekam…
„Danke“, flüsterte Michael, zu mehr war er in diesem Moment nicht fähig.
Laura ließ ihn los und… schrie ihn an: „Du hast dein Gehirn wohl daheim vergessen! Warum bist du bloß in diesem beschissenen Sumpf gelatscht?“
„Du weißt doch, ich wollte…“
„Du wolltest Georg eine Freude machen, schon klar! Hast du nicht gewusst, dass es hier weit und breit keine Hütte gibt?“
Nein, das hatte Michael wirklich nicht gewusst. Er freute sich über die Dunkelheit, die sein Erröten verbarg.
Mit etwas weicherer Stimme erklärte Laura: „Nachdem dich Georg zu dieser komischen Mutprobe überredet hat, hab ich mich in sein Zimmer geschlichen und das Buch gefunden.“
Für einen Moment verschlug es Michael die Sprache. Dass Georg und seine Clique nicht die Nettesten waren, hatte er noch nie angezweifelt – aber dass sie ihn absichtlich haben ins Messer rennen lassen? Ein unsichtbarer Hieb der Empörung traf ihn. Wie konnten sie eine Mutprobe planen, die nicht nur unerfüllbar war, sondern ihm beinahe das Leben gekostet hatte? Seinen Unglauben, seine Entrüstung ließ sich nicht in Worte fassen, alles, was er zustande brachte, war die lasche Erwiderung: „Mädchen dürfen doch gar nicht in Jungenzimmer“.
„Ich weiß“, sagte sie ungeduldig, „aber es war doch klar, dass da was faul war! Warum bist du von selbst nicht draufgekommen?“
„Ich –“
„Ist ja auch egal. Komm, wir müssen zur Schule zurück, du wirst schon überall gesucht!“
Michael nickte nur schwach.
„Ich kann nur hoffen, dass diese Arschlöcher von der Schule fliegen.“ Zum ersten Mal hörte er Laura fluchen.