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Die nächste Haltestelle
„In was bin ich denn hineingeraten?“ Breitbeinig versuchte sie, das Gleichgewicht zu halten.
Der kleine Raum war unangenehm warm und roch leicht nach Urin.
Ihr Spiegelbild zeigte durch die Schlieren eine krause Stirn. Sie starrte auf ihren Mund.
„Deine Oberlippe... so schön...wie ein breites u....zwei Kamelhöckerchen....“.
Dieser Vergleich ging ihr durch den Kopf, während sie feststellen mußte, dass er mit seinen Worten, die er vor ein paar Minuten mit leiser Stimme sprach, in ihr etwas bewegte, mit dem sie nicht umzugehen wußte.
Es kam nur ein Stammeln aus ihr heraus: „Ich muss mal, entschuldige“. Nun starrte sie in diesen Spiegel.
Es klopfte vehement gegen die Türe. Sie mußte sich aus ihrem Versteck bewegen.
Als sie sich in das Abteil zurückzwang, saß er erwartungsvoll mit offenem Blick da.
„Wenn wir Glück haben, bleiben wir alleine. Es ist Mittwoch, da reisen nicht soviele“, mutmaßte er als vielversprechende Prophezeiung in die neubegonnene Unterhaltung.
„Ich betrachte immer sehr genau das Gesicht der Menschen, die mich interessieren. Du hast eben diese wahnsinnigen Wellen in deinen Oberlippen, das lockt so....so...“ , murmelte er wie beiläufig, während er mit seinem Gesicht so nahe an ihres kam, dass sie seinen Kaffee ausdünstenden Atem wahrnahm. Sie roch das gerne.
Er strich mit seiner Zungenspitze die senkrechte Furche zwischen den Höckern nach. Kurz vor den Lippen hielt er inne.
Stumm saß sie da. Er kniete vor ihr und hielt mit seinen Händen ihre Arme, damit er im Gleichgewicht blieb. Sie konnte sich nicht rühren. Dafür zog und rumorte es in ihrem Schoß, der immer weicher und weiter wurde.
Sie glühte; Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Oberlippe.
Mit seiner Zunge tupfte er eine nach der anderen ab.
„Komm, küss mich, berühre meinen Mund“, schrie sie innerlich, aber die Stimme folgte nicht.
Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen. „Die Fahrkarten bitte“, sang der Schaffner mit einer Melodie, die an eine Litanei erinnerte.
Er ließ sie widerwillig los, um seine Fahrkarte hervorzukramen; in dieser Zeit konnte sie sich etwas ordnen.
„Du weißt doch nichts von mir“, sagte sie mit belegter Stimme, als der Schaffner seine Pflicht hinter sich gebracht hatte , „was hast du mit mir vor?“.
„Muß man denn immer ein Ziel haben?“ fragte er sie und strich sich dabei seine dunklen Locken aus der Stirn. „Mir reicht deine wunderschöne Oberlippe, mit der werde ich mich nun vergnügen, das ist mein Ziel.“
Ihr kam plötzlich ein Satz von Markus, ihrem Mann, in den Sinn: „ Immer eine glückliche Familie sein, das ist mein Ziel.“
Sie saß ruhig da. „Wohin fährst du eigentlich?“ fragte er in ihre Gedanken hinein.
„Die nächste Haltestelle muß ich raus“, antwortete sie spontan, ohne zu wissen, welche Stadt das sein würde.