Was ist neu

Die Nacht, als die Toten zu singen aufhörten

Seniors
Beitritt
31.10.2003
Beiträge
1.543
Zuletzt bearbeitet:

Die Nacht, als die Toten zu singen aufhörten

Die Nacht, als die Toten zu singen aufhörten

Es war, lassen Sie mich einen Moment lang überlegen, ja, ich glaube es muß so Anfang bis Mitte Herbst des Jahres 1929 gewesen sein. Die ersten goldenen Blätter bedeckten die Wege und Wiesen, und die Temperaturen waren bereits merklich zurückgegangen. Ab und an legte sich ein feiner Nieselregen über die Landschaft, und wenn ich aus dem Fenster sah, überzog mich bei Weilen ein leichter Schauer, wenn ich an den bevorstehenden Winter dachte.
Der Ort, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, befindet sich auf einer kleinen Insel, etwa zweihundert Seemeilen vom britischen Festland entfernt. Und diese Insel war für mich der Mittelpunkt der Welt. Es gab hier alles, was wir zum Leben brauchten. Wir stellten unsere Lebensmittel zum größten Teil selbst her, wir züchteten Rinder und Schafe, und da war der alte Mr. Hickock, der gemeinsam mit seinem Sohn für den notwendigen Bedarf an Meeresfrüchten sorgte.
Ein Frachter, der etwa alle vier bis sechs Wochen hier halt machte, versorgte den kleinen Laden von Malcom Cropper und seiner Frau mit dem, was sonst noch so im Alltag unentbehrlich war, wie zum Beispiel Töpfe, Eisenwaren, Kleider, Spielzeug und alle möglichen Tinkturen und Pillen für alle möglichen Leiden und Gebrechen. Obwohl, ich muß zugeben, daß die Beiden mit Letzterem kein großes Geschäft machten, denn hier auf der Insel wurde so gut wie niemand krank. Das beklagte auch immer der alte Doc Ashbourne. Er sagte des öfteren, hätte er damals bei seinem Studium gewußt, daß er einmal als eine Mischung aus Hebamme und Veterinär enden würde, hätte er sich mit Sicherheit alles zweimal überlegt. Aber insgeheim, das wußte eigentlich jeder hier, machte ihm seine Arbeit doch Spaß.
Das Haus meiner Eltern befand sich in der Nähe der großen Nordklippe. Meine Eltern waren ziemlich vermögend, was damalige Verhältnisse betraf, und so war unser Haus das einzige auf der Insel, welches neben dem Erdgeschoß noch ein zusätzliches Stockwerk besaß. Mein Vater war Dachdecker, und er hatte wahrhaftig viel zu tun; denn wenn die jährlichen Winterstürme mit ihrer schon beinahe unbarmherzigen Kraft über unserer kleinen Insel hinwegfegten, sorgten sie jedesmal dafür, daß er mit Sicherheit niemals arbeitslos werden würde.
Mein Kinderzimmer befand sich in besagtem ersten Stockwerk unseres Hauses, und wenn ich aus dem Fenster sah, konnte ich direkt auf den Inselfriedhof, der keine zwanzig Meter von unserem Haus entfernt lag, blicken. Sie meinen, daß das nicht gerade eine erfrischende Vorstellung sei? Für mich war es der Sinn und Zweck meines damaligen Daseins. Jedesmal, wenn es meine Zeit zuließ und ich mich nicht durch unendliche Berge von Algebra, Grammatik und Geographie kämpfen mußte, saß ich auf meiner breiten Fensterbank und sah auf den Friedhof hinab; oder aber ich wanderte direkt zwischen den Grabsteinen umher, von denen jeder seine eigene Geschichte zu erzählen schien.
Der Friedhof selbst war von einer etwa drei Meter hohen Mauer umgeben, wegen den berüchtigten Winterstürmen, und seit drei oder vier Jahren zierte den Eingang ein riesiges Gittertor, welches bei Nacht fest verschlossen war. Angeblich habe es zu jener Zeit mehrere Fälle von Grabschändungen gegeben; ich konnte mir allerdings keinen der hiesigen Inselbewohner vorstellen, wie er auf den Knie kauernd und mit den Händen im Erdreich wühlend versuchte, an irgendwelche Leichenteile zu gelangen. Aber wie Reverend Ferrel schon immer sagte, man kann den Menschen nur vor die Stirn schauen. Na ja, soll eben jeder glauben, was er für richtig hält ...
Zu jener Zeit ging ich stramm auf die Vierzehn zu und hatte mit den ersten pubertären Problemen zu kämpfen. Ich glaube fast, Melancholie und depressive Stimmung waren meine zweiten Vornamen geworden. Und so war es für mich immer ein gewaltiger Trost, wenn ich nachts für ein paar Stunden an meinem offenen Zimmerfenster hocken konnte, um dem Gesang der Toten zu lauschen. Es war ein beruhigendes Geräusch, mal ein Summen, mal eine Art von Raunen, mal traurig und dann wieder so erheiternd, daß es einen förmlich die Mundwinkel Richtung Ohren drückte. Und immer war es in eine entsprechende Melodie gehüllt.
Als ich meinen Eltern einmal davon erzählte, hatten sie nur mitleidig, sich ein Lachen verkneifend, auf ihren scheinbar verrückt gewordenen Sohn geschaut. Und als ich dann darauf bestand, daß wirklich des Nachts ein Gesang aus der schwarzen Dunkelheit hinter der Friedhofsmauer drang, hatte mich mein Vater auf seinen Schoß genommen und mir mit ernstem Gesicht erklärt, daß es sich dabei nur um den Wind handelte, der hin und wieder zwischen den Grabsteinen und einigen Sträuchern hindurch pfiff. Nun ja, wie ich schon einmal sagte, jeder soll das glauben, was er für richtig hält.
Der Friedhof war also meine zweite Heimat geworden. Tagsüber, meist nach der Schule, wanderte ich zwischen den Gräbern umher, blieb vor den Grabsteinen stehen, von denen einige schon so alt waren, daß man keine Inschrift mehr entziffern konnte, und stellte mir vor, wie die dort in der kühlen Erde Ruhenden einmal gelebt hatten.
Da war zum Beispiel der Grabstein der alten Mrs. McPeak. Sie war 1918 gestorben und stattliche 94 Jahre alt geworden. Manchmal meinte ich, bei den fröhlichen Gesängen, die ich übrigens immer nur des Nachts vernehmen konnte, ihre Stimme ganz besonders heraus zu hören.
Als ich also in besagter Nacht, Anfang oder Mitte Herbst, wieder einmal von einer depressiven Stimmung aus dem Schlaf gerissen wurde, stand ich auf und wanderte mit stark erigiertem Glied zum Fenster. Das war übrigens auch so eine unangenehme Eigenart meines ´neuen´ Körpers, die fast ständig und zu den ungünstigsten Gelegenheiten eintrat.
Langsam, irgendwie noch schlaftrunken, ging ich auf das Fenster zu. Ich hatte das Gefühl, als habe ich noch nie so intensiv die tröstlichen Stimmen meiner begrabenen Freunde gebraucht. Doch als ich das Fenster vorsichtig aufzog, schlug mir eine beängstigende Stille entgegen. Auch das Meer schien heute Nacht besonders ruhig zu sein, denn das gelegentliche tiefe Brummen der Brandung war verstummt. Aber das war mir eigentlich egal, was mir aber ein starkes Zittern durch den Körper jagte, war das brüllende Schweigen hinter den dunklen Friedhofsmauern. Nicht ein liebliches Summen oder fröhliches Jauchzen drang an meine Ohren. Wie versteinert stand ich da, die rechte Hand am Griff des Fensters, die andere auf die breite Fensterbank gestützt. Ich wollte gegen die Stille anschreien: „Singt! Oh bitte singt doch wieder! Gerade heute brauche ich es so!“ Statt dessen packte mich urplötzlich eine eiskalte Angst unter die Arme und strich mit ihren Schauer erzeugenden Fingerspitzen über meine nackte Brust.
SIE WERDEN NICHT MEHR SINGEN! durchfuhr es mich mit Entsetzen. Nie wieder würden ihre erfüllenden Stimmen in meine Seele eindringen!
Ich rannte zurück zu meinem Bett, riß meine Sachen vom Stuhl und zog mich an. Dabei wimmerte ich ununterbrochen wie ein kleines Kind: „Es darf nicht sein! Oh bitte lieber Gott, es darf nicht sein!“
Leise, obwohl ich meine Panik am liebsten hinaus geschrieen hätte, öffnete ich meine Zimmertür und schlich vorsichtig über den Korridor in Richtung Treppe. Die Dielen begannen mit ihrem altbekannten Quietschen, sobald sie von etwas Schwererem als einer Gänsefeder berührt wurden. Es war mir nie so extrem aufgefallen, doch jetzt schien es, als wollten sie mich mit aller Gewalt daran hindern, das Haus zu verlassen. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb, als wolle es die kreischenden Dielen noch übertönen. Ich blieb stehen und lauschte. Doch aus dem Schlafzimmer meiner Eltern drang nur das gleichmäßige Schnarchen von Dad durch die Stille des Hauses. Ich setzte meinen Weg fort und etwa fünf Minuten später berührten meine Hände die eiskalten Gitterstäbe des Friedhoftors.
Der Mond war hinter dicken Wolken verschwunden, und ich konnte nur schemenhaft die ersten Grabsteine erkennen. Der Rest des Friedhofs war in gähnende Schwärze gehüllt. Gebannt lauschte ich, mich der vagen Hoffnung hingebend, daß sie heute Nacht leiser als sonst singen würden, so daß es nicht bis zu meinem Fenster hinaufgedrungen war. Doch die Dunkelheit hinter dem kalten Stahl zwischen meinen Fingern schien jeglichen Laut unter einem dichten, schwarzen Tuch begraben zu haben.
„Hallo?“ hauchte ich zwischen den Gitterstäben hindurch. „Warum singt ihr nicht mehr?“ Doch nur die erbarmungslose Stille der Nacht antwortete.
Noch niemals war ich zu dieser Zeit in der Nähe des Friedhofs gewesen. Ich war immer der Meinung, wenn ich schon das Privileg erhalten hatte, ihnen zuhören zu dürfen, hatte ich bestimmt nicht das Recht, ihnen zu nahe zu kommen und sie dadurch eventuell zu stören. Doch jetzt wurde mir klar, daß ich ihnen gar nicht zu nahe kommen wollte! Nichts auf der Welt hätte mich überreden können, bei Nacht hinter diese Mauern zu gehen, um irgendwelchen Toten gegenüberzustehen. Ein eiskalter Schauer lief mir allein bei dem Gedanken den Rücken hinunter.
Ich bemerkte den kühlen Wind, der durch meine Jacke strich, und ich hätte am liebsten laut gerufen: „Siehst du Dad, das Singen ist nicht der Wind, der des Nachts durch die Sträucher und zwischen den Grabsteinen umherstreift. Denn es kann ja nicht dieser beschissene Wind sein! Denn dann müßte ich ja jetzt auch den Gesang hören ... Und ich höre, verdammt noch mal nichts, Dad! Nichts außer diesem beschissenen Wind!“
Und doch wäre ich in diesem Moment froh darüber gewesen, wenn dieser Wind wenigstens eine kleine Melodie aus der tiefen Schwärze zu mir hinübergetragen hätte. Nur eine ganz kleine Melodie; nur ganz leise ... Diese erdrückende Stille machte mir Angst! Sie machte mir eine unheimliche Angst!
„Hallo!“ versuchte ich es noch einmal. „Könnt ihr nicht wieder anfangen zu singen?“
Ein Käuzchen heulte kurz durch die Nacht, und ich hatte das Gefühl, als wolle es mich verhöhnen. Instinktiv wußte ich, daß es nur eine Möglichkeit gab. Nur eine einzige Möglichkeit, herauszufinden, warum die Toten heute Nacht nicht sangen. Ich mußte hinein!
Wieder durchlief ein tiefer Schauer meine Innereien, und eine unangenehme Gänsehaut überzog meinen Körper wie ein feuchter Film aus Schweiß. ´Reiß dich zusammen!´ flüsterte ich mir zu, doch irgendwie schien es nicht sonderlich viel zu nutzen. Dann blickte ich nach oben.
Die spitzen Enden der Gitterstäbe ragten in den dunkelblauen Nachthimmel empor, als schienen sie nach den versteckten Sternen greifen zu wollen. Nein, über das Tor zu kommen war unmöglich. Es war mit Sicherheit einen Meter höher als die Mauer, und seine Enden sahen nicht gerade einladend aus, sie mit gespreizten Beinen zu überklettern. Mein Hodensack zog sich unwillkürlich zu einem harten Klumpen zusammen. Ich mußte die Mauer nehmen! Ich griff nach rechts, und meine Hand ertastete den rauhen Putz. Erneut schrie das Käuzchen in die Stille der Nacht hinein, und ich zuckte zusammen. ´Was ist, wenn dich jemand dabei sieht?´ Ich mußte schlucken; mit Bestimmtheit hätte ich dann eine Menge zu erklären.
Ich atmete einmal kräftig durch, dann griff ich erneut nach den Eisenstäben. Ich würde versuchen, das Tor bis zum Ende der Mauer zu erklimmen, um dann von dort auf die Mauer selbst zu klettern. Umgekehrt würde ich es dann an der anderen Seite machen.
Ich brauchte etwa eine halbe Minute, bis ich unter Keuchen und Stöhnen den Mauervorsprung erreicht hatte. Ich blickte nach unten und zuckte vor der mir entgegenstarrenden Schwärze zurück. Irgendwie hatte ich auf einmal das Bedürfnis, dringend die Toilette aufsuchen zu müssen.
„Kehr um, Georg!“ schrie mich eine innere Stimme an. „Kehr um Gottes Willen um! Was willst du inmitten einer stockdunklen Nacht alleine auf einem Friedhof?“ Und ich wußte, die Stimme hatte recht. Trotzdem griff ich wieder nach den Eisenstangen und hangelte mich auf der anderen Seite in den Brunnen aus dunklem Nichts hinab.
Ich merkte erst, daß ich die Augen geschlossen hatte, als meine Füße den Boden berührten, doch es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich traute, sie vorsichtig zu öffnen. Ich blickte durch die Eisenstäbe hindurch auf die Umrisse meines Elternhauses, und es schien eine wohltuende Wärme auszustrahlen. Eine Wärme, die mich aber nicht erreichen konnte, denn ich befand mich ja jetzt im Reich der Schatten und der Kälte. Ich befand mich inmitten der Friedhofsmauern, inmitten einer erbarmungslosen Armee unendlich tiefer, schwarzer Gräber, deren vorderste Front nur wenige Schritte hinter meinem Rücken Aufstellung genommen hatte. Vorsichtig drehte ich mich um und erwartete jeden Augenblick eine knochige, weiße Hand, die nach meinen Hals greifen würde.
Allmählich gewöhnten sich meine Pupillen an die Dunkelheit, und wage konnte ich mehrere Umrisse und Formen erkennen. Es waren die Umrisse und Formen der Grabsteine und Sträucher, die mir tagsüber so vertraut waren. So vertraut, daß ich vor einigen oft Stunden verweilte und ihnen meine Sorgen und Probleme anvertraute. Und jetzt auf einmal, war mir alles so fremd. Ich sah mich um, doch meine Augen nahmen beim besten Willen nicht mehr wahr, als diese schwarzen Umrisse und Formen in meiner unmittelbaren Nähe.
Langsam tastete ich mich in die Leere hinein, und kurze Zeit später lag der erste Grabstein zu meiner Linken. Ich wußte, daß es sich um das Grab der Eheleute Sandy und John Stockwell handelte. Sie waren beide vor fünf Jahren ums Leben gekommen, als einer dieser berüchtigten Winterstürme das Dach ihres Hauses über ihren Köpfen zusammenstürzen ließ. Ich hatte meinen Vater einmal sagen gehört, daß John Stockwell noch gelebt hatte, als man ihn fand. Sein Gesicht hätte direkt neben dem zertrümmerten Schädel seiner Frau gelegen, und die Reste ihres Gehirns hatten sich wie frisch Erbrochenes auf seiner Haut ausgebreitet. Doc Ashbourne hatte noch alles versucht, doch es dauerte keine zehn Minuten mehr, bis auch John Stockwell seinen schweren Verletzungen erlegen war. Ich vermute, daß er auch einfach nicht mehr leben wollte. Und jetzt, keine zwei Meter von ihrem gemeinsamen Grab entfernt, hoffte ich innigst, daß es sich John nicht just in diesem Moment anders überlegen würde ...
„Was tu ich eigentlich hier?“ fragte ich mich bestimmt zum hundertsten Mal, und im selben Moment vernahm ich ein leises Knacken aus der Schwärze irgendwo neben der hohen Mauer. Mein Kopf fuhr herum, doch die Dunkelheit war so dicht, daß ich nur den wolkenverhangenen Himmel über dem Rand der schwarzen Mauer erkennen konnte. Irgendwie schien der Friedhof unter einer dichten Glocke zu liegen, die jede noch so kleine Spur von Helligkeit abzuhalten schien. Mein Herz hämmerte bis in meinem Hals hinein, und ich stellte fest, daß ich aufgehört hatte zu atmen. Irgendwas war da in der Nähe der Mauer. Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch selbst mit weit aufgerissenen Augen konnte ich die Schwärze nicht durchdringen.
Vorsichtig und leise ließ ich etwas Luft in meine inzwischen schmerzenden Lungen einströmen. Vielleicht hatte ich mich ja auch verhört; vielleicht waren es ja auch meine eigenen Schritte gewesen. Doch dann merkte ich, daß sich noch etwas verändert hatte. Ich wußte nicht, was es war, aber irgendwas war anders. Auf einmal wollte ich die Augen zumachen und mich einfach auf den Boden fallen lassen. Vielleicht würde ich ja dann kurz darauf aus einem bösen Alptraum erwachen.
In weiter Ferne hörte ich wieder den Schrei des Käuzchen, diesmal allerdings so leise, daß er wie eine dünne Feder durch die bleierne Schwere der Nacht an meine Ohren drang. Nicht nur das Licht, sondern auch die Geräusche wurden durch diese dichte Glocke über dem Friedhof abgehalten. Ich befand mich scheinbar an einem Ort, der nichts mehr mit dem Rest der Insel zu tun hatte, an einem Ort, der seine eigenen Gesetzmäßigkeiten besaß und der keinerlei Einmischung von außen dulden würde. Und ich, mußte ich mit Entsetzen feststellen, war genau in diesem Moment eine Einmischung von außen ...
Mein Magen zog sich zusammen, und im selben Augenblick wußte ich, was sich verändert hatte. Es war der Geruch. Ein unangenehmer, übler Hauch kroch aus der Dunkelheit empor. Ich rümpfte die Nase, und mein Magen ruckte erneut. Ich hatte arg untertrieben, den Geruch als übelriechend zu bezeichnen. Es war ein Geruch, der sich wie eine schwere, zähflüssige Masse auf meinen Schleimhäuten ausbreitete, ein Geruch, wie ihn mein Kater Tom ausgestrahlt hatte, nachdem er zwei Wochen tot neben den Holzscheiten in unserem Keller gelegen hatte. Es war der verwesende Geruch des Todes!
Im selben Moment knackte es erneut, diesmal in meiner unmittelbaren Nähe, und wieder fuhr ich herum.
„Wer ist da?“ schrie ich und erschrak über die Lautstärke meiner Stimme. Inzwischen konnte ich nur noch ganz flach durch den Mund atmen, sonst hätte ich mich auf der Stelle übergeben.
Jetzt verwandelte sich das leise Knacken in ein stetiges Schlurfen, und ich erkannte die dunklen Umrisse einer Gestalt. Ich wußte, daß mein Herz in diesem Augenblick stehen bleiben würde; es würde sich zusammenkrampfen, und mit einem zuckendem Griff an meine linke Brust würde ich hier auf dem kalten Friedhofsboden zusammensinken. Und irgendwie hoffte ich auch insgeheim, daß dieses jetzt passieren würde.
Die Gestalt war stehen geblieben, und der verwesende Gestank breitete sich wie ein altes Leichentuch über die Umgebung aus. Ich merkte, wie ein langer Speichelfaden über meine herabhängende Unterlippe trat und mit einem tropfendem Laut auf meinen Schuhspitzen landete.
„Guten Abend, Georgi.“ Eine heisere, krächzende Stimme löste sich von der dunklen Gestalt.
Ich schloß meinen Mund und schluckte.
„Wir freuen uns, daß du gekommen bist, Georgi“, fuhr die Stimme fort.
Ich wußte nicht, was ich tun sollte, und nach einer Weile vernahm ich, daß sich ein paar lallende Worte über meine Lippen bahnten: „W...w...wer sind sie?“
Die Gestalt bewegte sich kurz, und mein Herz stellte für den Bruchteil einer Sekunde seine lebenslange Arbeit ein.
„Du kennst mich, Georgi, du hast schon ganz oft zu mir gesprochen. Daher weiß ich auch eine ganze Menge über dich.“
Die Stimme, muß ich gestehen, klang nicht sonderlich bedrohlich; sie hätte von einer lieben, alten Großmutter stammen können, die ihrem Enkel mit diesen einfühlsamen Worten, wie sie nur Großmütter zu haben schienen, eine Gute-Nacht-Geschichte erzählte. Wenn da nur nicht dieser beinahe unerträgliche Gestank gewesen wäre.
„Mein Name ist Eleonora. Eleonora McPeak.“
Jetzt war es wirklich um mich geschehen. Vielleicht war ich in diesem Moment bereits tot, anders konnte ich mir das Ganze hier nicht erklären. Vor mir stand Mrs. McPeak! Die Mrs. McPeak, vor deren Grabstein ich oft Stunden meiner freien Zeit verbracht hatte, die Mrs. McPeak, die 1918 gestorben war, und die Mrs. McPeak, die stolze 94 Jahre alt geworden war. In mir flammte für einen kurzen Moment die Hoffnung auf, daß sich hier jemand einen üblen Scherz mit mir erlaubte, aber tief in meinem bebenden Innern wußte ich genau, daß diese Stimme die Wahrheit sagte.
„Warum bist du auf einmal so erschrocken, Georgi? Du wußtest doch, daß wir hier sind.“
„I... i... ich dachte ...“ Nein, eigentlich konnte ich nicht mehr denken; irgendwie hatte sich ein dicker Holzbalken vor meine Stirn geschoben, der verhinderte, daß auch nur irgendein klarer Gedanke meinen Lippen entspringen konnte.
„Ich weiß, Georgi“, hauchte die Gestalt wieder in ihrer Großmutter-Gute-Nacht-Geschichten-Stimme. „Es ist bestimmt nicht einfach für dich. Du hast fast jede Nacht unseren Gesängen gelauscht; du bist fast jeden Tag zu unseren Gräbern gekommen und hast uns von deinen Freuden und Leiden erzählt, und jetzt mußt du auf einmal erkennen, daß es uns tatsächlich gibt.“ Ein leises Kichern folgte den krächzenden Worten.
„A... aber ich wußte doch, daß es euch gibt“, stammelte ich, und war gleichzeitig erschrocken, daß sich überhaupt irgendwelche Worte über meine Lippen quälten.
„Du hast dir vielleicht gewünscht, daß es uns gibt. Wir existierten nur in deiner Phantasiewelt. Und wenn du einmal ehrlich bist, Georgi, dann bist du, was unseren nächtlichen Gesang betrifft, doch immer mehr in die Richtung deines Vaters gewandert. Noch ein oder zwei Jahre, und du wärst dir sicher gewesen, daß es wirklich nur der Wind ist, der da nachts durch die Sträucher und zwischen den Grabsteinen umherpfeift.“
„A... aber nein, wirklich nicht! Ich habe mich stets auf euren Gesang gefreut.“
Jetzt, im Nachhinein weiß ich, daß die alte Mrs. McPeak damals recht gehabt hatte, denn gerade als Erwachsener vergißt man immer mehr das Träumen, und all diese tollen Wünsche und Phantasien, welche die kindliche Welt prägten, verpufften in der Unendlichkeit der Realität, je älter man wurde.
Aber als ich mit meinen dreizehn Jahren in jener Nacht einer Leiche gegenüberstand, umhüllt von einem erstickenden Verwesungsgeruch, konnte ich mit ruhigem Gewissen ihre Behauptung dementieren.
„Es spielt aber jetzt auch keine Rolle, Georgi, was passiert wäre. Wir haben auf jedem Fall gehofft, daß du kommen würdest, wenn unser Gesang verstummt“, sagte die alte, tote Stimme.
Und in diesem Moment wußte ich Bescheid. Sie hatten mich hierher gelockt, um mich mit Haut und Haaren zu fressen. Es war ein teuflischer Plan gewesen, und sie hatten mit der Dummheit eines dreizehnjährigen, pubertierenden Jungen gerechnet. Und ich war wirklich so dumm gewesen! Wie oft hatte ich in irgendwelchen Comics von umherwandelnden Untoten gelesen, die nur eines im Sinn hatten: Menschenfleisch! Und genau das würden sie jetzt auch bekommen!
Ich bemerkte, wie meine Augen glasig wurden, und es war mir egal, ob Jungen weinten oder nicht; ich würde auf jeden Fall gleich so laut losheulen, daß es über die ganze Insel schallen würde. Und sollten sie nur alle über mich lachen. Meine Mundwinkel begannen zu zucken.
„Wir brauchen deine Hilfe, Georgi!“
Ich schluckte und wischte mit dem Jackenärmel über meine Wange, an der sich die ersten Tränen einen Weg gebahnt hatten.
„Was?“ fragte ich vorsichtig und war mir eigentlich sicher, daß ich mich gerade verhört hatte.
„Ja, wir brauchen deine Hilfe, Georgi.“
Ich hatte tatsächlich richtig gehört, sie wollten mich gar nicht auseinanderreißen, um mich dann portionsgerecht an alle zu verteilen. „Aber ... aber wie kann ich euch denn helfen?“
Wieder ging ein leichter Ruck durch die Gestalt. „Du mußt den Schlüssel für das Friedhofstor besorgen, Georgi.“
Ich runzelte die Stirn. „Den Schlüssel für das Friedhofstor? Ich verstehe nicht ganz. Wozu?“
Die schemenhafte Gestalt stieß hörbar die Luft aus. „Man will uns von hier fortschaffen!“ Jetzt war die Großmutterstimme so leise, daß sie kaum bis zu meinen Ohren drang.
„Man will euch von hier fortschaffen? Wie? Ich mein wer will euch von hier fortschaffen?“ fragte ich verdutzt, und konnte mir gleichzeitig nicht vorstellen, wie so etwas möglich sein sollte.
„Kennst du einen gewissen Roddy Hough?“
„Ja, gewiß!“ antwortete ich. Dieser Mr. Hough war vor etwa vier Monaten mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern mit dem Schiff gekommen. Sie wohnten in einem kleinen Haus in der Nähe von Mr. Hickocks Fischereibetrieb. Seine jüngste Tochter, Pamela, ging mit mir in eine Klasse, ich hatte aber noch nie ein Wort mit ihr gewechselt.
Mrs. McPeak riß mich aus meinen Gedanken. „Dieser Roddy Hough hat gestern mit dem Bürgermeister den Friedhof besichtigt, und John Stockwell hat gehört, wie der Bürgermeister eingewilligt hat, den Friedhof zu verlegen, damit die Familie Hough hier ein großes Haus mit Blick auf das Meer bauen kann.“
Bei dem Namen John Stockwell durchfuhr mich wieder dieser eiskalte Schauer. Vor nicht ganz zehn Minuten war ich noch an seinem Grab vorbeigegangen.
„Den Friedhof verlegen?“ Ich runzelte die Stirn. „Wieso? Es gibt doch genug freie Plätze hier auf der Insel für ein Haus.“
„Roddy Hough will genau diesen Platz. Es ist für ihn der Beste! Und er ist reich. Stinkreich!“
„Aber vielleicht ist der neue Platz ja auch ganz schön, Mrs. McPeak.“
Die Gestalt trat einen Schritt vor, und ich zuckte unwillkürlich zurück. „Weißt du, wie eine Friedhofsverlegung aussieht, Georgi?“
„Äh, nein nicht genau.“
„Das einzige, was verlegt wird, sind die Grabsteine.“ Mrs. McPeak beugte sich ein wenig nach vorne, und der Verwesungsgeruch nahm beängstigende Ausmaße an. Dann fuhr sie leise fort: „Aus Kostengründen!“ flüsterte sie beinahe geheimnisvoll. „Danach wird in einer stillen Nacht- und Nebelaktion, damit auch ja kein Angehöriger etwas davon mitbekommt, die gesamte restliche Erde bis zu einer Tiefe von zwei Metern abgetragen und ins Meer geschüttet, mit samt seinem grausigem Inhalt ...“
Mrs. McPeak verstummte, und auch ich konnte im Moment nichts erwidern.
„Du siehst also, Georgi, wir brauchen deine Hilfe!“
„Aber wie soll ich an die Schlüssel kommen?“ Ich wußte nur soviel, daß sie sich im Besitz von Reverend Ferrel befanden, doch würde er sie mir mit Sicherheit nicht freiwillig ´ausleihen´.
„Du mußt dir etwas einfallen lassen, Georgi, wir haben nicht mehr viel Zeit. Bereits morgen Nacht mußt du die Schlüssel haben und das Tor aufschließen. Sobald du das getan hast, mußt du augenblicklich zurück in euer Haus gehen. Du wirst dich auf dein Zimmer begeben und dich ins Bett legen, und übermorgen früh, bevor du zur Schule gehst, wirst du das Tor wieder abschließen. Und Georgi, du mußt genau das tun, was ich dir gesagt habe. Du darfst unter gar keinen Umständen in dieser Nacht aus dem Fenster schauen, das mußt du mir versprechen!“
Die Stimme der alten Mrs. McPeak war jetzt sogar etwas lauter geworden, und Sie können mir glauben, ich hätte in dieser Nacht alles versprochen, besonders weil es sich bei meinem Gegenüber um eine halbverweste Leiche handelte.
„Und wenn alles gut geht, Georgi“, fuhr sie fort, „dann können wir in der darauf folgenden Nacht wieder singen.“


* * *


Wenn Sie mich nun fragen, wie ich am nächsten Tag an die Schlüssel zum Friedhofstor gelangt bin, dann muß ich hier sagen, es würde die Seiten einer neuen Geschichte füllen; und ohne übertreiben zu wollen, sie stände anderen an Spannung in nichts nach. Nur soviel vielleicht hier noch, ich hatte Mühe Reverend Ferrel die nächsten Wochen in die Augen zu sehen, ohne das Gefühl zu haben, mein Gesicht müsse jeden Augenblick vor Röte bersten. Und bei Gott, ich habe in seiner Kirche so viele Kerzen angezündet, daß er sich mit Sicherheit gefragt hat, ob mir des nachts der heilige Geist erschienen sei. Doch der war es mit Sicherheit nicht ...
In der Nacht, die meinem mehr oder weniger beängstigenden Gespräch mit der toten Mrs. McPeak folgte, fand ich mich zu später Stunde am Friedhofstor ein. Den dicken Schlüsselbund hatte ich fest zwischen meinen zitternden Fingern begraben, so daß die weißen Knöchel im hellen Mondlicht schimmerten.
Diese Nacht war wolkenfrei, und der Mond überdeckte die Landschaft mit einem Tuch aus milchigen Schatten. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als könne man meilenweit sehen. Ich hatte mich dicht hinter die Sträucher gepreßt, welche die Friedhofsmauer in der Nähe des riesigen Eisentores umgaben, und ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie jeder Bewohner der Insel hinter seinem Fenster hockte und darauf wartete, das ich hervorkam. - „Sag mal Liebling, warum treibt sich denn der junge Georg Franklin da am Friedhofstor herum?“ - „Keine Ahnung, Schatz, aber er ist mir in letzter Zeit sowieso immer so merkwürdig vorgekommen.“ - „Meinst du vielleicht, er hat was mit den Grabschändungen vor vier Jahren zu tun?“ - „Das ist natürlich möglich! Vielleicht sollten wir morgen früh gleich einmal Reverend Ferrel aufsuchen.“ - „Ja Schatz, ich glaube, das ist eine gute Idee. Hoffentlich wird diesem Verrückten dann endlich einmal das Handwerk gelegt.“ -
Oh ja, Sie können mir glauben, ich hätte alles für einen wolkenverhangenen Himmel, so wie der in der letzten Nacht getan. Ich spähte zwischen den Zweigen hindurch, doch die Fenster der Häuser, die von hier aus zu sehen waren, hatten ihre Helligkeit gegen ein einschläferndes Schwarz getauscht. Es war mittlerweile kurz nach Mitternacht, und ich ging davon aus, daß sich jeder zur nächtlichen Ruhe begeben hatte. Jeder, bis auf diejenigen, die sich hinter dieser Friedhofsmauer aufhielten ...
Mein Rücken preßte sich gegen die Steine, und deren Kälte drang durch meine dicke Jacke hindurch bis in meine untersten Hautschichten, um einen engen Gürtel aus Eis um meine Knochen zu legen. Ich zitterte am ganzen Leib.
Vorsichtig schlich ich in Richtung des großen Tores. Ich würde das Schloß öffnen, dann meine Beine in die Hand nehmen und zurück zum Haus rennen; in meinem Zimmer würde ich ins Bett springen und die Bettdecke bis über meinen Kopf ziehen. Und dort werde ich dann liegen, zitternd und bibbernd wie ein kleines Kind, und auf den ersehnten Morgen warten, wenn ich das Tor wieder abschließen konnte. Genauso, wie es die alte Mrs. McPeak gesagt hatte.
Ich erreichte die grauen Gitterstäbe, und als sich meine Finger um sie schlossen, hatte ich das Gefühl, als wären sie aus purem Eis. Langsam schlich ich weiter, geduckt wie ein alter Indianer, und immer damit rechnend, von irgendwelchen zufälligen Blicken entdeckt zu werden. Aber da war niemand, der mich beobachten konnte, die ganze Insel, bis auf einen dreizehnjährigen Jungen, schlief; das redete ich mir zumindest ununterbrochen ein.
Inzwischen hatte ich das große schwarze Vorhängeschloß erreicht. Bedrohlich und erstarrt in jeglicher Bewegung hing es in Höhe meines Kopfes. Ich nahm den Schlüsselbund und sah ihn mir genauer an. Es waren sechs Schlüssel, aber nur zwei machten halbwegs den Anschein, als könnten sie zu besagtem Vorhängeschloß gehören. Ich hoffte nur, Reverend Ferrel besaß nicht noch ein zweites Bund.
Ich verharrte kurz in meiner Bewegung. War da nicht gerade etwas zwischen den Grabsteinen? Das cremig weiße Licht des Mondes verwandelte den Friedhof in eine gespenstische Landschaft aus grotesk wirkenden Hügeln und hellgrau bis tiefschwarzen Schatten. Nichts schien sich verändert zu haben, und doch war ich mir sicher, eine flüchtige Bewegung inmitten dieser dunklen Erhebungen wahrgenommen zu haben.
Mit zitternden Fingern steckte ich den ersten Schlüssel ins Schloß, und im selben Augenblick schob sich ein fast undurchdringlicher Schatten vor meinen Augen. Ich wollte losschreien, weil ich mir sicher war, daß es sich dabei um irgendeine halbverweste Totenhand handeln mußte, als ich feststellte, daß es nur eine dunkle Wolke war, die sich vor den Mond geschoben hatte. Ich blickte nach oben.
Wo in Gottes Namen war sie auf einmal hergekommen? Noch vor wenigen Minuten war der Himmel sternklar und völlig wolkenfrei gewesen. Ein ungutes Gefühl wurde in den untersten Bereichen meines Körpers gezeugt, und es wuchs mit einer beängstigenden Geschwindigkeit. Direkt über meinem Kopf klickte es, und jetzt schrie ich wirklich kurz auf. Es war das dicke Vorhängeschloß, welches aufgesprungen war. Mein Herz hämmerte so laut gegen meinen Brustkorb, daß ich sicher war, jeder im Umkreis von einhundert Metern müsse es hören.
Ein klatschendes Geräusch, ähnlich als ließe man aus großer Höhe einen nassen Lappen auf den Holzfußboden fallen, riß mich aus meinen unkontrollierten Gedankengängen. Das Geräusch kam direkt von vorn, und wieder meinte ich, trotz der gähnenden Schwärze, eine Bewegung zwischen den Grabsteinen wahrgenommen zu haben.
´Du mußt augenblicklich zurück zu eurem Haus laufen, Georgi!´ hörte ich in meinem Kopf auf einmal die Stimme der alten Mrs. McPeak sagen. ´Und du darfst unter gar keinen Umständen in dieser Nacht aus dem Fenster schauen, hast du das verstanden, Georgi?!´
Ja, genau das hatte sie gestern Nacht zu mir gesagt, und mir war klar, daß sie es verdammt ernst gemeint hatte. Und genau das würde ich jetzt auch tun. Ich stand auf und zog den Schlüssel aus dem Schoß. War da nicht wieder dieses platschende Geräusch?
Ich erstarrte in meiner Bewegung, und meine innere Stimme brüllte: ´Sieh zu, daß du endlich von hier verschwindest, Georg! Nimm deine verfluchten Beine in die Hand und hau ab!´ Doch ich starrte gebannt in die wabernde Dunkelheit vor meinen Augen, wie ein hilfloses Karnickel auf den pendelnden Kopf einer giftigen Schlange.
Und jetzt war ich auch endlich sicher, daß die platschenden Geräusche nicht den hintersten Kammern meiner Phantasie entsprungen waren. Zwischen den Grabsteinen entstand nun eine beängstigende Geräuschkulisse, nicht sonderlich laut, aber konstant und bedrohlich. Es war wie ein tiefes, weit entferntes Murmeln, ähnlich dem einer riesigen Menschenmenge; die Ohren registrierten unterschiedliche Laute, die sich zu einem zähflüssigen Brei vermengten, und als ein pulsierendes, undefinierbares Ganzes auf einem zugekrochen kamen. Und ich wußte genau, daß da etwas entstand, dort zwischen den Grabsteinen; zwischen genau jenen Grabsteinen, die sich keine fünf Meter von mir entfernt befanden. Und in diesem Moment erreichte wieder dieser süßliche Kadavergeruch meine Nasenschleimhäute.
Ruckartig wirbelte ich herum, ließ vor lauter Schrecken die Schlüssel fallen, und dann stürmte ich, mit einem gewaltigen Hechtsprung, in die Büsche direkt neben dem großen Eingangstor.
Wenn Sie mich jetzt fragen, welcher Teufel mich in diesem Augenblick geritten hatte, dann muß ich gestehen, ich weiß es selbst nicht genau. Vielleicht war es, weil ich die Schlüssel nicht unbeaufsichtigt vor dem Friedhofseingang liegen lassen wollte, vielleicht war es auch nur unbändige, jugendliche Neugierde. Eine Neugierde, die so gewaltig groß war, daß sie selbst das Versprechen gegenüber einer Leiche in weite Ferne verbannte. Bilden Sie sich ihre eigene Meinung ...
Der Hechtsprung katapultierte meinen Körper genau zwischen die harten Zweige der Sträucher, und ich spürte, wie einige von ihnen wie spitze Nadeln in meine Haut eindrangen. Doch ich blieb so ruhig, als hätte man mir den Mund mit Seetang vollgestopft. Langsam drehte ich mich um, so daß das gewaltige Tor wieder in meiner Blickrichtung lag. Und dann sah ich sie!
Dunkle Gestalten näherten sich aus der tiefen Schwärze des Friedhofs und wankten, beinahe schlurfend auf den Punkt zu, an dem ich noch vor wenigen Sekunden zitternd gehockt hatte. Die ersten hatten jetzt bereits die Gitterstäbe erreicht, und mit einem knarrendem Geräusch wurde das schwere Tor aufgeschoben. Der faulende Gestank war inzwischen bis zu den Sträuchern, in denen ich mich befand, vorgedrungen, und ich preßte meine Nase in die Beuge meines Armes.
Die dicke Wolke, die den Mond wie einen Schleier umgeben hatte, riß auf. Und dann bot sich mir ein Bild des Grauens! Es müssen Hunderte gewesen sein; Hunderte von Leichen drängten sich durch das offenstehende Friedhofstor hindurch. Einige von ihnen waren so stark verwest, daß ich verwundert war, daß sie nicht augenblicklich auseinanderfielen; andere wiederum bestanden nur noch aus blanken Knochen, mit hier und da ein paar Fetzen alter Kleidungsreste. Einige gingen gebeugt; wieder andere waren nicht größer als einen Meter. Ich erkannte eine Frau, deren Wangenknochen freilagen und deren Zähne sich wie ein überdimensionales Grinsen in ihrem Gesicht abbildeten. Auf ihren Armen trug sie einen kleinen, halbverwesten Fleischklumpen, dessen winzige Arme tief in ihrem Brustkorb vergraben waren, um dort nach einer Brust zu suchen, die schon vor langer Zeit irgendwelchen Würmern und Maden zum Opfer gefallen sein mußte. Ein Mann – es muß ein Mann gewesen sein, denn sein überdimensionaler, faulender Penis schwang zwischen seinen Beinen wie der schlaffe Rüssel eines trägen Elefanten – stieß einer weiteren, fleischigen Person gegen die Schulter. Ich erkannte, wie diese aufbrach, ähnlich einer überreifen Kürbisschale, und ihren breiigen Inhalt auf dem trockenen Weg verteilte. Das dumpfe Stöhnen brach nicht ab; genauso wenig wie der unendliche Schwall der wandelnden Leichen.
Und dann erkannte ich inmitten dieser toten Fleischmassen eine leicht gebückte Gestalt. Die Finger ihrer rechten Hand waren um den Knauf eines alten Stockes geschlungen, auf dem sie die Last ihres Körpers stützte. Die wenigen grauen Haare, die sich noch auf ihrem Kopf befanden, waren hinten zu einem kleinen Knoten zusammengebunden. Und obwohl ich sie noch nie in meinem Leben gesehen hatte, wußte ich, daß es sich um Eleonora McPeak handeln mußte.
In diesem Moment wandte sie ihren Kopf und starrte in meine Richtung. Ihr linkes Auge war verschwunden, und die tiefe, schwarze Höhle verlieh ihrem wohl einmal lieblich gewesenem Gesicht ein bedrohliches Aussehen. Ihr Mund öffnete sich einen Spalt breit, und ein beängstigendes, tiefes Zischen drang über ihre Lippen. Und genau jetzt wußte ich, daß es um mich geschehen war. Jetzt würden auch die Anderen ihre Gesichter wenden, und wenn sie mich entdeckt hatten, würden sie für einen kurzen Moment ihren erbarmungslosen Marsch unterbrechen. Doch dieser kurze Moment würde ausreichen, um meinen Körper in winzige Fleischfetzen zu zerreißen.
Das noch vorhandene Auge der alten Mrs. McPeak starrte mich so durchdringend an, daß mir die Tränen über das Gesicht rannen. Nicht weil ich Angst vorm Sterben hatte, nein, damit hatte ich mich jetzt abgefunden, sondern weil ich sie so bitter enttäuscht hatte. Ich hatte ihr versprochen, sofort in unser Haus zurückzulaufen. Und? Was hatte ich statt dessen getan? Neugierde! Verdammte Neugierde! Genau dieser elendigen Neugierde hatte ich mich hingegeben und hatte sämtliche Vernunft und Warnungen außer acht gelassen. – Verdammte Neugierde! –
Doch Mrs. McPeak setzte weiter einen Schritt vor den anderen, unterstützt von ihrem alten Spazierstock. Ihr Auge starrte mich an, und ich wußte nicht, ob es Wut oder Mitleid widerspiegelte. Als sie sich etwa auf gleicher Höhe mit dem Gebüsch befand, in dem ich mit tränenüberströmten Gesicht stumm vor mich hinweinte, wandte sie ihren Kopf wieder geradeaus, und war kurz darauf in dem Strom der wandelnden Toten verschwunden. Und nur noch dieser penetrante Verwesungsgeruch drang wie eine schleichende Drohung durch das schützende Gestrüpp hindurch.


* * *


Seit jener Nacht sind jetzt fast fünfundsiebzig Jahre vergangen. Ja, ja, inzwischen benötige ich selbst einen Gehstock, wie damals die alte Mrs. McPeak. Ich bin, nachdem ich während des zweiten Weltkrieges mitgeholfen hatte, die Welt von einem schmalschnäuzigem Diktator zu befreien, wieder auf meine Heimatinsel zurückgekehrt. Und Sie werden es mir jetzt nicht glauben, dieses war der einzige ´Ausflug´, der mich jemals von hier weggebracht hatte. Ich bin nach meiner Rückkehr in die Fußstapfen meines Vaters gestiegen, was die berufliche Laufbahn anbelangte. Und nach dem Tod von Reverend Ferrel – er hat übrigens niemals herausbekommen, daß sich irgend jemand seinen Schlüsselbund für eine Nacht ausgeliehen hatte – habe ich mein ominöses ´Hobby´ zu meiner zweiten Berufslaufbahn gemacht. Ja richtig, ich bin Friedhofswärter geworden. Und heute, mit 87 Jahren, bin ich froh darüber, denn Sie können sich sicherlich vorstellen, daß ich jetzt einige Probleme damit hätte, auf den Häusern anderer Leute herumzuklettern, um irgendwelche herabgefallene Dachpfannen zu erneuern; und den ganzen langen Tag nur herumsitzen, wäre auch nichts für mich.
Inzwischen ist nicht mehr all zu viel los hier auf der Insel. Die meisten haben sie schon vor Jahren verlassen, und sind in irgendeine Großstadt auf dem Festland gezogen. Genauso, wie meine beiden Söhne, Ben und Richard. Das letzte Mal habe ich sie auf der Beerdigung ihrer Mutter vor 2 Jahren gesehen. Ab und an bekomme ich noch mal eine Karte von ihnen, wenn sie sich mit ihren Familien an den schönsten Stränden der Erde erholen. Ich muß zugeben, wenn es wirklich so schöne Plätze irgendwo auf unserem weiten Planeten gibt, dann gönne ich es ihnen, sich dort von ihrem ganzen Alltagsstreß zu entspannen. Ich werde mich hier um ´meine´ Gräber kümmern, bis ich eines Tages mein eigenes haben werde.
Sie wollen wissen, wie jene Nacht ausgegangen ist? Um vielleicht das Wichtigste einmal vorweg zu nehmen, die Toten haben wieder gesungen! Und wenn mich meine alten Knochen in der Nacht um den Schlaf bringen, dann setze ich mich in meinem Schaukelstuhl vor das offene Fenster und höre ihnen zu. Und wenn ich einmal so genau hinhöre, daß ich beinahe die Luft anhalten muß, dann kann ich sogar die liebliche Stimme von meiner lieben Frau heraushören. Ach, Jessica, ich freue mich schon, wenn wir bald gemeinsam singen können ...
Ja, und in jener Nacht ... Ich habe noch etwa eine viertel Stunde zwischen den Sträuchern gelegen, nachdem die letzten Leichen in der Dunkelheit verschwunden waren, um mich dann humpelnd, mit zerstochenen Armen und Beinen, zurück auf mein Zimmer zu schleichen.
Am nächsten Morgen bin ich noch vor Sonnenaufgang zurück zum Tor geschlichen, und habe es wieder verschlossen. Den Schlüssel habe ich auf dem Schulweg vor das Kirchenportal gelegt. Ich nehme an, Reverend Ferrel hat gedacht, daß er ihm dort aus der Tasche gefallen sei.
Zwei Dinge waren an diesem und den darauf folgenden Tagen das Inselgespräch Nummer 1. Zum einen spekulierte man über die plötzliche ´Abreise´ der Familie Hough. Denn nachdem man die gesamte Insel auf den Kopf gestellt hatte, um sie zu finden, kam man zu dem Ergebnis, daß sie sich entweder bei Nacht über die Klippen gestürzt haben müßten, oder aber, daß sie eine Möglichkeit gefunden hatten, die Insel anderweitig zu verlassen. Der alte Mr. Hickock vermutete sogar, daß Roddy Hough irgendwo ein Boot gehabt haben mußte, denn er oder seine Frau waren nicht ein einziges Mal zum Fische kaufen bei ihm gewesen.
Das zweite Gesprächsthema war die unerklärlich hohe Anzahl gerissener Tierkadaver an jenem Morgen, in der Nähe des Hough-Hauses und auf dem alten Trampelpfad, der zum Friedhof führte. Irgendein verwilderter Hund mußte alles, was sich ihm in den Weg gestellt hatte, niedergemäht haben. Und wenn ich sage alles, dann meine ich auch alles! Man fand den Kater von Doc Ashbourne mit abgerissenem Kopf, genauso wie mehrere Wildkarnickel und einige Singvögel. Andere waren so zerfetzt, daß man nicht einmal mehr sagen konnte, um welche Tierart es sich überhaupt gehandelt haben könnte.
Als ich von dieser Sache erfuhr, befand ich mich gerade auf dem Schulhof und versuchte, einen harten Apfel in mich hineinzuwürgen. Ich lief um die nächste Ecke und übergab mich. Danach rannte ich, als wäre der Leibhaftige persönlich hinter mir her, nach Hause, schloß mich auf meinem Zimmer ein und heulte wie ein kleines Kind. Dabei bedankte ich mich mindestens hundert mal bei der alten Mrs. McPeak für ihr Schweigen in jener Nacht, als sie mich da in den Sträuchern hatte liegen gesehen.
Und wenn Sie mich jetzt noch fragen, ob das Verschwinden der Hough-Familie jemals aufgeklärt wurde, dann muß ich das mit einem entschiedenen ´Nein!´ beantworten.
Ab und zu aber, wenn ich mal wieder ganz alleine auf meinem Friedhof bin, um Unkraut von einigen Gräbern zu zupfen, und wenn dabei mein Ohr ganz nahe an einen alten Grabstein kommt, dann meine ich, das panische Schreien von mehreren – vielleicht vier – Personen zu vernehmen. Das Schreien eines Mannes, einer Frau und zwei Kindern; vereint in einem ewigen Chor der Unendlichkeit ...
Aber das kann genauso gut der Wind sein, der durch die Sträucher und zwischen den Grabsteinen hindurch pfeift. Na ja, soll eben jeder glauben, was er für richtig hält ...

 

huhu salem!!! (sieh mal ausrufezeichen!!!)

na, da ich jetzt eine woche wohlverdienten urlaub habe, werde ich mich endlich an deine erste geschichte wagen. wollt ich schon sehr, sehr lange mal.

dann mal los:

Es war, lassen Sie mich einen Moment lang überlegen, ja, ich glaube es muß so Anfang bis Mitte Herbst des Jahres 1929 gewesen sein. Die ersten goldenen Blätter bedeckten die Wege und Wiesen, und die Temperaturen waren bereits merklich zurückgegangen. Ab und an legte sich ein feiner Nieselregen über die Landschaft, und wenn ich aus dem Fenster sah, überzog mich bei Weilen ein leichter Schauer, wenn ich an den bevorstehenden Winter dachte.
beginnt ja sehr vielversprechend.

„W...w...wer sind sie?“
sie > Sie

Das einzige, was verlegt wird, sind die Grabsteine
ist das tatsächlich so??? bibber...

Auf ihren Armen trug sie einen kleinen, halbverwesten Fleischklumpen, dessen winzige Arme tief in ihrem Brustkorb vergraben waren, um dort nach einer Brust zu suchen, die schon vor langer Zeit irgendwelchen Würmern und Maden zum Opfer gefallen sein mußte.
sehr gut formuliert

es muß ein Mann gewesen sein, denn sein überdimensionaler, faulender Penis schwang zwischen seinen Beinen wie der schlaffe Rüssel eines trägen Elefanten
ein typischer salem... :D

also, auch wenn dein jetziger stil besser ist (flüssiger und so), ist es eine typische salem-story. sehr spannend, lebendiger prot, teilweise witzig (sorry).

ich muss sagen, dein einstand war echt klasse. anscheinend hast sich dein ekel-bewusstsein erst im laufe deiner karriere herausgebildet.

und da ich zombies nicht unbedingt mag (was ja im horror-genre sehr gut ist), gabs bei mir auch den grusel.

also, hat mir riesigen spaß gemacht

Tama

 

Zitat:
es muß ein Mann gewesen sein, denn sein überdimensionaler, faulender Penis schwang zwischen seinen Beinen wie der schlaffe Rüssel eines trägen Elefanten
Zitat:
ein typischer salem... :D
wie, so nah seid ihr euch schon gekommen? :Pfeif:
Ich hoffe, Jo, du spielst hier nicht auf die Adjektive an ... :hmm:

Hi Tama,

hast du in deinem Urlaub denn nichts Besseres zu tun?! (Zwei Satzzeichen!!! Ich bin besser ...) :D

Zitat:
Das einzige, was verlegt wird, sind die Grabsteine

ist das tatsächlich so??? bibber...
Also auf einsamen, englischen Inseln schon.

anscheinend hast sich dein ekel-bewusstsein erst im laufe deiner karriere herausgebildet.
Da sieht man mal wieder, was kg.de aus einem macht. War früher mal sooo lieb ... :crying:

Vielen Dank für dein Lesen. Und auch danke für die Andeutung, dass ich mich entwickelt habe. Sowas freut mich am Meisten :D

Lieben Gruß! Salem

 
Zuletzt bearbeitet:

Sehr starke Geschichte. Wie er an den Schlüssel kam, wäre allerdings durchaus noch einen Abschnitt wert gewesen.

Eine Inkonsistenz habe ich noch gefunden: Wäre ich der Icherzähler gewesen, hätte ich mich nicht als Totengräber beworben, ich hätte mich für den Rest meines Lebens von Friedhöfen jeder Art ferngehalten. Vor allem aber von dem dieser Insel.

r

 

Ähhh... hallo relysium.

Ist ja schon fast erschreckend, dass du dich hier durch meine Geschichten wühlst :D Freut mich aber.

Scheiße, das ist tatsächlich meine erste, die ich hier auf kg veröffentlicht habe. Damals (ist es hundert Jahre her?) fand ich sie sehr gut. Und, ich glaube, seit damals habe ich sie auch nicht mehr gelesen. Werde ich aber nachholen, vor allem nach diesem Satz:

Sehr starke Geschichte.

Gruß! Salem

 

Hi Salem!

Ja, wirklich tolle Geschichte. Die Atmosphäre fesselt, die sprachliche Umsetzung sucht ihresgleichen, und der Charakter des Protagonisten kann man als Jugenlicher gut nachempfinden: Jeder Teenager hat eine Eigenart. Nur der hier hats extrem ^^.

Aber du hast falsche Erwartungen in mir geweckt: Ich dachte zuerst, die Toten würden den Kleinen irgendwie austricksen, und am Schluss würden sie die Insel überrennen. Aber tatsächlich, sie hatten nur gute Absichten...

Die Story war übrigends die erste, die ich gelesen habe...

Grüße,

Lestat

Mensch, Patrick, habe ich dir damals echt nicht geantwortet???
Große Schande über mein Haupt!:shy:
Ich danke dir also nach zwei Jahren und sechs Tagen recht herzlich für dein Gutfinden und für deinen Kommentar! Tut mir echt leid.

LG! Salem

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom