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Die Nachtgjaid
für die Sigrid ;-)
„Die Nacht, in der sie meinen Thaddäus, deinen Großvater holten, hätte die erste gemeinsame Nacht unserer Ehe sein sollen.
Stell dir das nur vor: Nicht nur war ich einfach mit einem jungen, Geige spielenden Träumer verheiratet worden, den ich nie zuvor gesehen hatte und der zwei Tagesmärsche entfernt von meinem Dorf auf der anderen Seite der Isar, hinter der Loisach noch, lebte. Nein, ich sollte auch noch um das Einzige gebracht werden, das mir damals die ganze Aufregung Wert schien: Das Brautlager.“
Ein vergnügtes Grinsen lag auf den welken Lippen der Großmutter. Seit Tagen schon lag sie auf ihrem Sterbebett, und ihre Enkelin, Reserl, kam jeden Abend herauf in die Kammer, in der Angst, es könnte das letzte Mal sein.
Reserls verlegener Blick deutete an, dass sie sehr wohl wusste, wovon die Großmutter sprach; sie war in dem Alter, in dem man von diesen Dingen nicht genug hören konnte, und doch nur selten etwas darüber gesagt bekam. Die Großmutter warf ihr einen verschmitzten Blick zu und fuhr mit ihrer Erzählung fort.
„Meine Eltern, Gott hab' sie selig, waren keine reichen Leute. Deshalb war ich, als jüngste Tochter, ohne Mitgift oder nennenswerte Aussteuer, nicht leicht an den Mann zu bekommen. Wenn ich eine gute Bäuerin gewesen wäre, oder wenigstens schön ... Nun ja. So wie die Dinge eben lagen, konnten meine Eltern sich glücklich schätzen, überhaupt einen Ehemann für mich gefunden zu haben, und so schickten sie mich zu ihm nach Farchant, am Brünstelkopf.
Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, mich meinen Eltern zu widersetzen. Der Frau ist es bestimmt, zu heiraten und Kinder groß zu ziehen, zum Wohlgefallen Gottes und der Menschen."
Die Großmutter klang zufrieden bei diesen Worten.
"Den Thaddä lernte ich erst am Tage unserer Hochzeit kennen: Ein schlaksiger, langer Kerl mit sanften, honigfarbenen Augen und einer ruhigen Stimme. Alles in allem eine recht angenehme Erscheinung, dachte ich mir, als ich ihn das erste Mal sah. Und wie seine Augen aufleuchteten, als er mich angeschaut hat! Als ob ich wunderschön gewesen wäre, und nicht eine alte Jungfer mit einer zu großen Nase ...
Dass er ein Träumer und Nichtsnutz war, das wusste ich schon von meinen Eltern. Aber ich konnte nicht wählerisch sein, und immerhin, das wurde mir gleich während des Hochzeitsfests klar, er war beliebt hier im Dorf.
"Der Thaddä, der spielt auf seiner Geige, dass es einem die Tränen in die Augen treibt!", erklärte mir zum Beispiel ganz gerührt der Pfarrer in St. Andreas. Und einer der Messdiener fügte hinzu: "Selbst die Tiere, die Hasen und die Rehe, kommen, um ihm zu lauschen, wenn er oben am Röthelstein spielt. Wie als wenn der Heilige Franziskus selbst zu ihnen sprechen tät!"
Überhaupt schienen alle das Geigenspiel meines frisch gebackenen Ehemannes sehr zu schätzen.
In dieser Nacht, nachdem wir die Gäste verabschiedet hatten, bat er mich, ihm in den Tann zu folgen, denn er wollte mir ein Brautgeschenk machen.
Ich stapfte also hinter ihm drein durch die laue Sommernacht, hinauf in die dunklen Hügel und Wälder, hinauf auf den Brünstelkopf, und fragte mich recht gespannt, was das für ein Brautgeschenk sein mochte. Ich hatte mir natürlich schon Gedanken gemacht, und auch verheiratete Frauen befragt. Ganz kurz habe ich sogar an ein Brautlager aus duftenden Tannennadeln und Wildrosenblüten gedacht, aber ich verscheuchte den Gedanken sofort beschämt und schlug ein Kreuz.
Als er dann auf der Lichtung am Röthelstein die Geige unter seinem Mantel hervorzog, war ich zuerst enttäuscht - ich hatte insgeheim doch mit etwas anderem gerechnet, Kreuz hin, Sittsamkeit her - aber als er anfing zu spielen, da war es genau, wie sie es im Dorf drunten behauptet hatten.
Ach, was red' ich da: Es war noch ergreifender! Geweint habe ich, als die Melodie seiner Geige von einem Leben in Glück und Geborgenheit erzählte, und davon, wie Liebe langsam wachsen kann ...
Ich fühlte mich draufgängerisch und schüchtern zugleich, der Wind spielte in meinem gelösten Haar und wisperte Geschichten von Freiheit und Abenteuer. Ich saß einfach nur da, ließ die Musik in mich dringen, ließ sie alle Angst und Unsicherheit aus meiner Seele waschen, und fühlte, wie sie in mir perlte und glitzerte.
Was damals geschehen ist, kann ich bis heute nicht erklären, aber ich begann zu ahnen, was später zur Gewissheit werden würde. Mit der Melodie kroch, Stück für Stück, ganz sanft, Magie in mein Leben.
Ich war so versunken in diese neuen Welt, dass ich gar nicht bemerkte, dass sich Wolken vor die Sterne schoben und der Wind zunehmend heftiger und wärmer wehte.
Doch dann, wie aus dem Nichts, mitten hinein in meine Träumereien, fing es in den Bäumen um uns herum an zu rauschen. Der Thaddä hielt verwirrt in seinem Spiel inne und starrte in die Wipfel über meinem Kopf.
Das Rauschen wurde derweil immer heftiger, die Bäume neigten sich in einem Wind, der mit glühend heißen Fingern an meinen Haaren zerrte. Das Laub, das gerade noch saftig und grün gewesen war, schlug mir jetzt trocken und staubig ins Gesicht. Der Sturm heulte durch die peitschenden Äste der Tannen und machte Bucheckern und Eicheln zu schmerzenden Geschossen. Entsetzt wich ich zurück in den Windschatten eines Findlings.
Und da, mitten im wirbelnden Sturm, zogen Schwärme von Raben über den schwarzen Himmel, Wölfe heulten überall um uns herum in den Bergen, und ich konnte den gefürchteten Eulenruf hören. Er fuhr mir in die Eingeweide wie ein Messer, denn wenn die Eule ruft, dann ist die Gnade Gottes weit fort, und ich bekreuzigte mich voller Angst. Die wirbelnde Hitze riss mir den Atem vom Mund und drohte mich zu ersticken.
Der Thaddä aber blickte hinauf in den Himmel, und sein Blick hatte etwas Sehnsüchtiges.
"Die Nachtgjaid! Die wilde Jagd!", stammelte er, und wie im Wahn hob er die Arme hinauf zu den stürmenden Wolken. Da endlich schwante mir, was da über uns zu kommen drohte: Die wilde Gjaid, eine Armee von Toten und heidnischen Teufeln, angeführt von Woaden mit seinem riesigen Kriegshammer, eingehüllt in schwarze Nacht und feurige Böen, die in heißem Sturm jeden mitnimmt, der sich in ihren Weg stellt. Bebend kreuzte ich die Hände und die Füße, wie man es mich in unzähligen Ammenmärchen gelehrt hatte, und betete um mein Leben und verlor darauf das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam, war der Thaddä verschwunden. Armdicke Äste lagen um mich herum verstreut. Junge Bäume waren entwurzelt, und hier und da war ein Findling von seinem Kiesbett gerollt worden. Über alem lag fahles Sternenlicht, und keine Wolke war mehr am Himmel zu sehen.
"Thaddä!", schrie ich in die Stille des Waldes hinein, obwohl ich genau wusste, dass ich keine Antwort bekommen würde. Nie, das wusste jeder, kehrte jemand von der Gjaid zurück.
Im nächsten Moment hätte ich fluchen mögen. Meine Angst verschwand und verwandelte sich in Zorn, was eine ganz natürliche Reaktion auf schreckliche Ereignisse ist. Noch nicht eine Nacht verheiratet, und schon verwitwet! Ich fand das himmelschreiend ungerecht. Von wegen Abenteuer! Wütend stampfte ich mit dem Fuß auf und schrie noch einmal, trotzig diesmal: "Thaddä!"
"Der ist nimmer da."
Ich wäre vor Schreck beinahe über meine Röcke gestolpert, als ich die ungeduldige Stimme hinter mir gehört habe. Hastig drehte ich mich um, und da, auf dem Röthelstein, saß ein bärtiges Männlein, klein wie ein Kind, ganz in braun gekleidet, mit einer eisernen Schaufel auf den Knien. Er schaute mich an und knurrte: „Hysterisches Weib, du hättst' besser daran getan, bei Sinnen zu bleiben, dann wüsstst' du schon längst, was du tun kannst, um deinen verblendeten Geigenspieler zurück zu bekommen."
Natürlich war ich beleidigt, von einem kindergroßen Greis als hysterisch beschimpft zu werden, und ich ließ mir auch von Natur aus nicht gern etwas sagen, und so erwiderte ich recht schnippisch: „Und du weißt es wohl, Hutzelmanderl!“ Da hat es geblitzt in seinen kleinen braunen Augen! Er sprang auf die krummen Beine und hüpfte auf und ab wie einer, dem ein Wiesel in der Hose steckt, und er schrie: „Unverschämtes Weibsbild! Weißt du denn gar nicht, wen du vor dir hast? Ich bin Rolundher, und ich bin der König des Röthelberges!“ Dabei plusterte er sich auf und sah von seinem Stein stolz auf mich herab, was für ein Männchen seiner Größe tatsächlich ein ungewöhnliches Gefühl gewesen sein muss. Aber nun gut, er behauptete ein König zu sein, und zu wissen, wie ich meinen Thaddä wiederfinden könnte, also antwortete ich so ehrerbietig, wie ich konnte: „Herr König, es tut mir Leid, ich habe dich nicht erkannt. Jetzt, wo ich weiß, wer du bist, würde ich selbstverständlich gern deinen Rat hören.“
Einen Moment noch starrte der königliche Hutzelmann mich missmutig an, dann bellte er: „Du musst den goldenen Adler finden, und du musst ihn dazu bringen, dich hinauf zu tragen zu Woadens Palast oben auf dem Kramer, und zuvor musst du natürlich etwas finden, das du dem goldenen Adler zum Geschenk machen kannst, etwas, das so wertvoll ist, dass er sich dir unterwirft für diese eine Nacht. Aber, das sag ich dir gleich, das wird nicht leicht, denn schau ..." Er drehte sich um, stampfte mit seinem bestiefelten Fuß auf, und die Erde erzitterte so heftig, dass ich hinschlug. Geröll und Erdklumpen flogen durch die Luft, und der Berg tat sich unter fürchterlichem Getöse vor mir auf. Ein mannshoher Riss war im Berg augebrochen, und gab den Blick frei auf eine Höhle, vollgestopft mit Gold und Silber, mit Perlen und Diamanten. Mit offenem Mund stierte ich auf all diese Schätze. Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, grinste der Hutzelkönig mich freundlich an und fuhr fort:
„... all das hier, alles was du hier siehst, wäre nicht wertvoll genug, um deinen Flug zu erkaufen."
Ich muss dir sagen, dass ich dem Hutzelmännchen nicht glaubte. Die Schätze dort drinnen wären genug gewesen, der Herr möge mir vergeben, um die Welt aus den Händen Gottes selbst auszulösen!
Aber das tat nichts zur Sache, denn wenn der kleine Bergkönig sich weigerte, mir diesen Schatz zu überlassen – und daran Bestand kein Zweifel - dann war er für mich wertlos. Also schluckte ich trocken und fragte: „Was schlägst du also vor?“ Jetzt starrte der kleine König angelegentlich auf seine kleinen Stiefel. „Ich möcht' dir gern helfen. Und ich weiß auch etwas, das wertvoll genug ist, dir den goldenen Adler wohl zu stimmen. Er sucht schon lange das letzte Goldene Nusslaub. Es besitzt große magische Kraft, und es ist der letzte Zweig, der ihm fehlt, um sein Nest zu vollenden, um seine Jungen großzuziehen. Ein goldener Adler, musst du wissen, brütet nur ein einziges Mal in seinem Leben, und seine Jungen sind sehr gefährdet. Magische Trophäen!
Das Arzweibl kann dir da weiterhelfen. Sie hat das Nusslaub einmal als Geschenk empfangen ... Ach ... das Arzweibl!“ Ein sehnsüchtiger Glanz trat in seine strahlenden Augen. „Wie lange schon hab' ich sie nicht mehr gesehen! Nun ... Gib ihr nur dies hier, damit sie weiß, wer dich schickt.“ Damit drückte er mir eine große, weiße Feder in die Hand, die ganz mit kleinen, tränengleichen Diamanten bedeckt war. „Und wie kann ich es finden, das Arzweibl?“, fragte ich gerührt.
„Sie wohnt im Tann unterhalb des Königsstandes. Folge nur dem Wildpfad dort, und du kannst ihre Hütte nicht verfehlen.“
Heute frage ich mich manchmal, woher ich den Mut nahm, und die Gewissheit, dass ich nicht plötzlich den Verstand verloren hatte. Hutzelmanderl! Goldene Adler und die Gjaid! Ich denke, es muss alles an Thaddäs Geigenspiel gelegen haben.
Und so wanderte ich im Sternenlicht einen schmalen Wildpfad durch die Wälder am Fuß des Königsstandes, und fürchtete mich nicht. Ein Windhauch, warm und verspielt, schmiegte sich an mich und wehte mir den Geruch von Harz und moosiger Erde in die Nase. Die Tannen um mich herum waren von der Gjaid verschont worden und ragten schwarz und majestätisch in den Nachthimmel auf. Unwillkürlich lächelte ich: Ich fühlte mich frei, trotz all des Schreckens und meiner Sorge um den Thaddä, so frei, wie ich in meinem ganzen Leben noch nicht gewesen war. Ein klein wenig hat mich auch mein Gewissen gezwackt, denn so viel Freiheit konnte nicht gottgefällig sein. Ach, ich wusste ja nichts von der Welt!
Nicht lange, und ich erreichte tatsächlich, gerade vor den schroffen Füßen des Königsstandes, eine kleine, grob behauene Holzhütte. Moos hing von ihren Wänden und vom Dach, und sie sah feucht und ungemütlich aus. Zögerlich klopfte ich an die windschiefe Tür.
So schnell wurde die Tür aufgerissen, dass ich erschreckt einen Schritt zurück trat und die weiße Feder wie ein Kruzifix vor mich hin hielt. Vor mir stand ein Weiblein, uralt und gebückt, mit einem Gesicht so braun und runzelig wie eine Rosine, und ihre glänzenden Knopfaugen starrten mich misstrauisch von unten herauf an.
„Was willst, Menschin, zu dieser gottlosen Stund'?“, knarzte sie, und stützte sich schwer auf einen krummen Stock.
„Bist du das Arzweibl?“, fragte ich, nachdem ich mich gefasst hatte.
„Ob ich das Arzweibl bin, fragt sie, ob ich das Arzweibl bin! Als ob sie's nicht wüsst'! Wo's doch die Feder mitbringst, die du vom Bergkönig bekommen haben musst! Denn die hab ich ihm geschenkt, sie soll ihm einen letzten Versuch geben, um mich zu werben, wenn er endlich herausgefunden hat, wie!“ Verschmitzt grinste sie mich an. Dabei legten sich all ihre braunen Runzeln in gleichmäßige, horizontale Falten. „Was er nicht schon alles versucht hat, Gold und Silber und Tand und Zeug, als ob man sich damit das Herz einer Dame erobern könnte!“ Verschwörerisch stampfte sie mit ihrem Stock auf den Boden und zwinkerte. “Und, was hat der denn zu sagen, der König?“, fragte sie großmütig.
„Er sagt, du sollst mir das Goldene Nusslaub geben“, platzte es aus mir heraus, ehe ich mir bescheidenerer Worte zurechtlegen konnte.
Jetzt wich das Weiberl zurück und schnappte entsetzt nach Luft. „Ja ... aber ... da verlangt er aber einiges! Das erste Geschenk will er zurück haben ... Ja, warum denn das?“ Ihre offensichtliche Verwirrung tat mir Leid, und ich erklärte ihr beschämt, was sich zugetragen hatte.
Da aber klärten sich ihre Züge, und aus ihren Knopfaugen rann eine kristallklare Träne. „Wie schrecklich! Oh, mein armes, tapferes Kind! Natürlich sollst du es bekommen. Oh, der gute Rolundher! Gut hat er die Feder eingesetzt! Nach all den langen Jahren! Warte einen Augenblick ...“ Blitzschnell war die Alte in ihrem Häuschen verschwunden, und ebenso schnell stand sie wieder auf der Schwelle, angetan mit einem schwarzen Mantel. Außerdem hatte sie scheinbar die Zeit gefunden, sich ein paar bunte Blüten ins graue, krause Haar zu stecken.
Sie drückte mir ein Leinenbündel in die Hand und sagte:“ Hier hast du es, mein Kind. Dreh dich nur dreimal im Kreis und erhebe das Goldene Nusslaub hoch über deinen Kopf, und der Adler wird kommen.“ Damit entschwand sie auf dem Pfad, auf dem ich gekommen war, zu Rolundhers Berghöhle. Wie ich ihr so hinterher sah, war sie plötzlich viel aufrechter und leichtfüßiger, als sie eben noch in ihrem Häuschen gewirkt hatte ...“
Die Großmutter schwieg einen Moment, als hätte sie erst jetzt begriffen, was ihr damals nicht weiter wichtig vorgekommen war. „Weißt, Reserl, ich hab immer gedacht, die Liebe wird ruhiger und gemächlicher mit dem Alter. Aber die Liebe schert sich nicht um das Alter der Liebenden. Sie zählt nicht in Tagen oder Jahren, sie rechnet in Momenten und Ewigkeiten. Welche Gültigkeit hat da schon ein Lebensalter?“
Ein krächzendes Husten entrang sich ihrer eingefallenen Brust, und ihr Blick wanderte zu der rotbraunen, abgenutzten Geige, die in einer Ecke der Kammer hing. Dann fuhr sie fort zu erzählen, aber Reserl war sich nicht sicher, ob die Geschichte noch ihr galt.
„Ich suchte mir eine Lichtung, die mir groß genug schien, um den Adler auch landen zu lassen. Dann entfaltete ich vorsichtig das Leinentuch. Darin lag ein einzelner Zweig Nusslaub. Golden war es allerdings nicht, eher braun, und ganz bröselig und trocken. Überrascht fragte ich mich, ob das Weiberl mich betrogen hatte. Aber dann musste ich wieder daran denken, wie das hutzelige, gebeugte Wesen plötzlich gertenschlank und mädchenhaft flink ausgesehen hatte, als sie zum Bergkönig gelaufen war. Und ich überlegte mir, wie sich die Dinge verändern, wenn sie nur ihre Bestimmung erfüllen können. Kurz glaubte ich sogar, das Weiberl hören zu können, wie es kicherte und sagte: „Natürlich, Kind, denn wenn das Laub immer seine wahre Gestalt zeigte, meinst du nicht, der Adler, der schon so lange danach sucht, hätte es längst gefunden?“
Also stellte ich mich in die Mitte der Lichtung, hob das Nusslaub mit beiden Händen hoch über meinen Kopf und begann mich zu drehen. Langsam erst, und ein bisschen verlegen, weil ich mir vorstellen konnte, dass ich recht albern aussehen musste, dann aber entschlossener, und als ich zur dritten Drehung ansetzte, begann das Nusslaub ganz leicht zu schimmern. Schon hob ein Geräusch wie von mächtigen Schwingen an, und da kam er auch schon, der goldene Adler, glänzend im Sternenlicht, majestätisch. Elegant landete er neben mir auf dem feuchten Waldboden. Er war so groß, dass er mir direkt in die Augen sehen konnte. Er, sage ich? Sie! Frag mich nicht, woher ich das wusste, aber es war eine Adlerin, und sie sah mich so misstrauisch an, wie es nur Frauen tun, die andere Frauen ansehen.
Ich muss sagen, mit meiner vorherigen Ruhe war es vorbei. Meine Knie zitterten mir gewaltig, als ich vor trat, um mein Anliegen vorzubringen.
„Du, ich meine, Ihr ... Ich ... mein Mann ...“, stotterte ich, und brach wieder ab. Meine Zunge hatte nichts zu sagen, das ich einem so königlichen und erhabenen Tier hätte antragen können, und meine Ehrfurcht war nicht gespielt. Schließlich begnügte ich mich damit, ihr stumm den Zweig hin zu strecken.
Die Adlerin sah mir mit ihren Vogelaugen ins Gesicht, noch immer misstrauisch, aber nicht mehr drohend. Mir war, als würde sie alles, was sie wissen musste, direkt aus meiner Seele lesen. Ab und an drehte sie ihren mächtigen Kopf, wie es Vögel tun, wenn sie etwas genauer sehen wollen, und öffnete und schloss klackernd ihren blitzenden Schnabel.
Irgendwie hielt ich ihrer Prüfung stand, und nach einiger Zeit nickte sie feierlich, nahm mir den Zweig aus der Hand, der sich auf der Stelle in glühendes, strahlendes Gold verwandelte und bedeutete mir, aufzusteigen. Bebend tat ich das, und einen Augenblick später schon schwang sie sich mit mir in die Lüfte. Die Adlerin glitt lautlos und beinahe bewegungslos durch die samtene Nacht.
Nie zuvor, und nie danach, habe ich eine Freude erlebt wie die, durch den schwarze Himmel zu gleiten, den Sommernachtswind im Gesicht und die Sterne über mir, viel näher, als ich ihnen jemals wieder kommen würde. Freiheit!, dachte ich, und das Gefühl füllte mich vollkommen aus, kitzelte mich im Bauch und hob ein perlendes Lachen in meine Kehle, dessen ich mich nicht erwehren konnte.
Als ich mich aber tief über ihren Hals beugte, um das Ziel in Augenschein zu nehmen, verließ mich diese Euphorie schlagartig. Tief unter mir, auf der höchsten Spitze des höchsten Berges von Farchant bis zur Zugspitze, dem Kramer, thronte der Sitz des Woaden, des Dämonenfürsten mit dem schrecklichen Kriegshammer. Schwarz und unerbittlich thronte er auf dem Kramer, eine lange, gläsern schimmernde Burg, deren Kamine Feuer und Rauch spien. Eine unheilige Hitze stieg von dort zu uns herauf, und ich fragte mich, ob die Hölle nicht tief unten, sondern hier auf dem Kramer ihren Eingang hatte.
Als wir uns der Burg näherten, drangen Musik und Gesang hoch zu mir, die mir das Blut in den Adern gefrieren liessen. Von Blut handelten die Gesänge, von Schlachten und jagenden Ritten über den Neumondhimmel. Der Flug der Adlerin wurde langsamer und unruhiger. Selbst dieses erhabene Wesen erzitterte vor den dämonischen Chören dort unten in der Burg, und nur widerstrebend näherte sie sich ihr. Die Adlerin sank diesem fürchterlichen Ort entgegen, ohne jedoch neben der Burg landen zu wollen. Statt dessen ließ sie mich, als wir uns nur noch wenige Fuß über dem Boden befanden, sanft von ihrem Rücken gleiten und hob sich sofort wieder dem Himmel entgegen.
Doch schon während die Adlerin mich absetzte, erhoben sich vom Dach des schwarzen Baus Schwärme von kreischenden Raben. Sie umkreisten die Adlerin wütend und jagten sie alsbald davon in die sternklare Nacht.
Unten am Boden aber warteten die Wölfe auf mich, die ich schon heulen gehört hatte, als die Gjaid meinen Thaddä entführt hatte.
Auf ihren grauen Körpern sträubte sich das Fell, und ihre Lefzen waren so weit zurück gezogen, dass es aussah, als ob sie mich angrinsten. Schleichend umzingelten sie mich, geduldig und ohne Hast. Ich konnte ihnen ja doch nicht entkommen. Zu drei Seiten umgab mich schierer, nackter Fels, und hinter mir erhob sich die entsetzliche Heimstatt der Gjaid.
Zitternd schlug ich ein Kreuz, wohl wissend, dass der Herr im Himmel in dieser Welt kein Sagen hatte.
Langsam drückte mich die knurrende, geifernde Meute an die glühende Mauer hinter mir. Sie brannte mir heiß in den Rücken und die Handflächen. „Woaden!“, krächzte ich verzweifelt. „Ich muss den Woaden sprechen!“ Ungerührt kamen die Biester näher, und das vorderste Tier begann, mit rot glühendem Rachen nach mir zu schnappen. Gleichzeitig kehrten die Raben von ihrer Jagd auf die Adlerin zurück, um sich auf mich stürzen.
Da ertönte ein scharfer Pfiff, und die Wölfe fuhren zusammen, als wären sie geschlagen worden. Die Raben stoben auf in den Himmel und ließen sich dann spottend auf den Burgzinnen nieder.
„Das Mädchen will mich sprechen, hat es gesagt!“, grollte eine Stimme wie Donner über den Berg, und augenblicklich zogen schwere Gewitterwolken vor die Sterne. Die Wölfe wichen unwillig zurück, und machten einer riesenhaften Gestalt Platz, die, in nachtschwarzen Mantel und Hut gehüllt, durch die massive Mauer getreten war und forschen Shrittes auf mich zu kam.
„Was willst du, Christin? Was hast du hier zu suchen? Weißt du denn nicht, wo du hier bist?“, fuhr der Riese mich an. Ich schüttelte zaghaft den Kopf, doch hielt sofort inne. Natürlich wusste ich, wo ich war. „Ich bin hier auf der Burg der Gjaid, und Ihr seid Woaden, der Dämonenfürst. Ich bin hierher gekommen, weil Ihr und Eure Meute meinen Ehemann geraubt habt, meinen mir vor Gott angetrauten Ehemann, und ich fordere ihn zurück.“ Im Laufe meiner Rede war ich immer entschlossener geworden, ohne jedoch zu bedenken, dass ich mich schon vor Stunden aus der Welt meines Gottes entfernt hatte. Dieser Gedanke durchzuckte mich schmerzhaft, als der Riese polternd zu lachen anfing, Bitterkeit in jeder Silbe.
„Dämonenfürst? Ja, Dämonenfürst, meiner Treu! Oh, ihr unwissenden Menschen! Wie vergesslich seid ihr doch, mit euren kurzen, nichtigen Leben!“ Er streckte eine gewaltige Hand aus und umfasste das kleine Holzkreuz an meinem Hals. Einen Moment stand er so, den Blick gen Himmel gewandt, als ob er auf etwas wartete, dann stieß er es heftig zurück, wiederum mit einem bitteren Lachen.
„Du willst also deinen Ehemann zurück? Komm herein und hol ihn dir!“ Mit diesen Worten stieß er mich gegen die glutheiße Wand, von der ich zu meiner Überraschung nicht abprallte, sondern direkt durch sie hindurch fiel.
Ein langer, hoher Saal wölbte sich vor mir auf. Er wurde von Fackeln schwach beleuchtet, und von einem Kaminfeuer am Ende des Raums ging die höllische Hitze aus, die hier auf dem Berg allgegenwärtig war. An einer langen Tafel lümmelten sich Männer und tranken Bier aus Trinkhörnern, wie ich das in den Sagen über die Nordmänner gehört hatte. Ein Barde, der auf dem Tisch eine grausige Weise gespielt hatte, verstummte bei meinem Anblick und setzte sich erwartungsvoll.
Mein Blick suchte nach dem Thaddä, und da saß er, gar nicht weit von mir, die Geige vor sich auf dem Tisch. „Thaddä!“ wollte ich rufen, aber mir entrang sich nur ein heiseres Flüstern. Er trug einen geflügelten Helm, und seine Augen blickten hart in meine.
„Da ist er also, dein Mann!“, erklang die Stimme des Woaden hinter mir. Er hatte seinen Mantel und seinen Hut abgelegt und stand nun da in seiner dämonischen Göttlichkeit, angetan mit einer ledernen Tunika und hochgeschnürten Fellstiefeln. An seinem Gürtel hing, unheilvoll glitzernd, der Hammer. „Fast scheint mir, er will nicht mit dir gehen“, fügte er hinzu, und die Gesellschaft lachte höhnisch auf. Nur der Thaddä nicht, er wirkte ein wenig unbehaglich.
Flehentlich bat ich ihn: „Komm mit mir zurück, Thaddä, das hier ist nicht unsere Welt!“
Doch mein Ehemann blickte nur zu Boden.
„Warum sollte er?“ fragte Woaden ungehalten. „Er hat hier gelernt, was Freiheit ist: Die wilde Jagd, der stürmische Wind, keine anderen Regeln als die des eigenen Vergnügens. Da soll er sich zurück begeben in eine Welt, in der ein Gott Gebote und Verbote durch seine Priester und alte Weiber kundtut, wo er nichts anderes ist als ein Sonderling und Träumer? Sich in Ketten legen lassen von einer Ehefrau?“ Das letzte Wort spuckte er förmlich aus.
Was hatte ich dem entgegenzusetzen? Nichts. Ich hatte ja selbst erlebt, was es hieß, frei zu sein. Den Wind zu spüren, Magie zu erleben. Es gab keine Worte, auszudrücken, was ich empfand, noch Argumente, die sich vorzutragen gelohnt hätten. Kraftlos ließ ich mich an den roh behauenen Tisch sinken. Alles umsonst! Der Weg, und die Ängste, die ich ausgestanden hatte. Zum ersten Mal fragte ich mich, wieso ich mich eigentlich auf all das eingelassen hatte, eine heidnische Welt fern ab von allem, was ich kannte.
Ich dachte auch an die Hutzelleute, und an die Musik am Röthelstein.
Und dann wusste ich, was zu tun war.
Ich stand auf, umrundete die Zecher und die Hunde, die sich überall balgten, beugte mich über Thaddä und griff nach seiner Geige. Er blickte überrascht auf, und wollte sie mir aus der Hand reißen, aber ich sprang hastig über die Bank auf den Tisch. Mit einem unsanften Tritt stieß ich den Barden, der eben wieder zu spielen angesetzt hatte, hinunter und setzte die Geige an.
Natürlich hatte ich noch nie auf einer Geige gespielt, noch ein auf einem anderen Instrument. Aber ich hatte keine andere Wahl, und ich bat die Geige inständig, mir beizustehen. Dann legte ich meine ganze Seele in mein Spiel, so, wie Thaddä es am Röthelstein getan hatte.
Erst kamen nur schrille und kreischende Töne, weil ich so aufgeregt war. Aber dann fühlte ich, wie eine Melodie in mir aufblühte, perlte und gluckste, und ich bannte sie mit geschlossenen Augen auf die Geige. Ich achtete nicht auf die Krieger, oder Woaden, sondern nur auf Thaddäs Bewusstsein, das ich schwach vor mir wahrnahm. Ich spielte eine Melodie von der Möglichkeit einer Liebe, und sei sie noch so gering, und wie die Freiheit damit zu tun hatte.
Ich weiß nicht, wie lange ich gespielt hatte, aber als ich endete, war der Saal totenstill. Selbst die Hunde saßen reglos neben ihren Herren. Noch einmal schaute ich flehentlich auf Thaddäs' Gesicht. Es war unbewegt, seine Augen musterten mich kühl.
Da legte ich die Geige nieder, stieg ich vom Tisch und wandte mich an Woaden. „Lasst mich jetzt gehen, Woaden Kriegsgott, ich bitte Euch. Ich komme nicht zurück“, sagte ich müde zu dem Riesen, der noch immer an der Wand lehnte, durch die er mich gestoßen hatte.
Bereitwillig trat er zur Seite, und einen Moment lang glaubte ich, in seinen Augen Anerkennung zu sehen.
„Warte.“ Thaddäs Stimme traf mich wie ein Schlag. Taumelnd drehte ich mich nach ihm um. Da stand er, mit seinem Flügelhelm in der einen Hand, die Geige in der anderen, und seine Augen waren voller Tränen. „Warte, Katharina.“ Jetzt kam er auf mich zu. „Du hast Recht, weißt du."
Misstrauisches Gemurmel erhob sich. „Woaden König, ich muss jetzt meiner Frau folgen. Ich muss gehen, und ich komme nicht zurück. Sie hat mich etwas gelehrt“, erklärte er ernsthaft dem heidnischen Herrn, „etwas, was Ihr und Eure Schar mich nicht lehren konnten.“
Der Woaden nickte nachdenklich.
„Freiheit ist nicht nur der Wind im Gesicht und die Jagd und das Met oder Bier. Nicht einmal die Unsterblichkeit, die ihr anbietet. Solche Freiheit ist leer und sinnlos.“
Inzwischen stand Thaddä neben mir, und legte seinen Arm um meine Schulter.
„Freiheit ist nur Rastlosigkeit, wenn sie kein Anker hat, nichts, woran sie sich messen läßt. Freiheit ist öde ohne das Wissen um Halt“, sagte er schlicht. "Meine Frau ist nicht aus Liebe aufgebrochen, aber in der Hoffnung darauf, und im festen Willen auf ein gemeinsames Leben. Das will ich jetzt auch tun."
Wieder nickte der Woaden. „So geh denn, Thaddäus, geh mit deiner Frau. Lebe in Frieden. Für einige Zeit.“ Eine unheimliche Gewissheit lag in seinen Augen. Denn die dämonischen Götter vergessen nicht.
Und da sind wir gegangen, Reserl. Wir sind gegangen.“
Die Großmutter verstummte. Reserls Blick lag ehrfürchtig auf der abgenutzten Geige an der Wand. Es war ganz deutlich zu sehen, dass sie sich fragte, ob diese Geige heidnisches Werk war, und ob die Großmutter von Gott und den Jüngern dafür bestraft werden würde.
„Ist das die Geige? Die, mit der ... du weißt schon?“
Die alte Frau nickte ernst.
„Und jetzt, Reserl, tu' mir einen Gefallen und spiel' sie für mich.“
„Aber ich kann doch gar nicht ...“ das Mädchen zögerte furchtsam, aber der Blick ihrer Großmutter war fest und bittend. Also gab sie sich einen Ruck, legte sich die Geige ans Kinn, und schloss die Augen. Schon bald perlte eine Melodie durchs Zimmer, die von Abenteuern erzählte, und von der Freiheit einer Wahl. Die Großmutter seufzte zufrieden.
Zwei Tage später trugen sie die Alte zu Grabe, gleich neben ihrem verstorbenem Ehemann.
In der Nacht stürmte es, und die Leute sagten, eine unheilige Hitze wäre in dem Sturm gewesen.