Mitglied
- Beitritt
- 06.01.2022
- Beiträge
- 86
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 34
Die neue Freude ist gekommen
Vielleicht haben die zwölf Gänge des Heiligabends etwas damit zu tun. Es sei denn, es war die hochprozentige Horilka ihres Schwiegervaters. Anna wacht mit Schmerzen im Bauch auf. Der Schnaps half ihr, einzuschlafen, aber die Nacht war unruhig. Sie träumte von ihm. Er sagte ihr, er hält sich in Mariupol auf und bat sie, zu ihm zu kommen.
Unten, im Wohnzimmer, ertönen die ersten Worte von Nova radit' stala, dem Weihnachtslied, das eine neue Freude ankündigt. Schmerzhafte Worte. Vor nicht mal 48 Stunden war er beerdigt worden.
Sie steht auf. Die Kälte verursacht ihr Gänsehaut. Die Heizung ist über Nacht ausgefallen. Aus dem Schrank holt sie ein schwarzes Kleid, das sie vor ihrer Abreise aus Warschau gekauft hat. Es ist mit Spitze und Rüschen verziert – ein Kleid, das ihm gefallen hätte. Sie will schön sein. Für ihn. Sie schminkt sich sorgfältig und zieht den glamourösen Fuchspelzmantel an, den er ihr zu ihrem vierzigsten Geburtstag geschenkt hat.
Nachdem sie das Modegeschäft in Mariupol verlassen hatten, machte er einen Tanzschritt und sang für sie den berühmten Refrain Voulez-vous coucher avec moi ce soir? Voulez-vous coucher avec moi ?
Anna geht die Treppe hinunter. Als warte er auf dem Bürgersteig in Mariupol.
Der Weihnachtstag beginnt mit einer großen Messe, die Stunden dauert. Anna hat am Vorabend ihrer verdutzten Schwiegermutter gesagt, dass sie »ganz alleine« für ihn beten wird: »Schmerzen addieren sich; sie heben sich nicht auf«, hatte sie eine Erklärung versucht. Mit mürrischem Gesicht hatte die alte Dame stumm genickt.
Der gefrorene Schnee knirscht unter ihren Schritten. Auf dem Weg zur Sankt Sophia, wo sie geheiratet hatten, fällt ihr auf, dass die Lichterketten und Kerzen in diesem Jahr fehlen, die sonst zur Weihnachtszeit Balkone, Fenster und Bäume erhellen. So vieles erinnert an den Krieg: Die Blockaden vor öffentlichen Gebäuden; die Durchhalteparolen an den Wänden; die Gespräche und sorgenvollen Gesichter der Menschen. Einige Dutzend Meter von der Kathedrale entfernt, steht auf dem Sophienplatz das ausgebrannte Wrack eines russischen Panzers, das noch nicht abtransportiert wurde. Ein Fahrzeug ähnlich jenem vor dem er sich mit den Offizieren seiner Brigade am Abmarschtag nach Bachmut auf dem Video hatte filmen lassen. Den Clip hatte er ihr nach der Rückkehr aus seinem Urlaub geschickt.
Am 25. Dezember hatte er einen Tag Urlaub antreten können. Seine erste Erholung seit Kriegsbeginn. Sie war in Lwiw mit dem Nachtzug zu ihm gestoßen. Nach dem Brunch im Restaurant Garmata hatten sie gemeinsam geduscht …
Ihr wird schlecht. Sie muss sich an einen Baumstamm lehnen.
Als Anna das Kirchenschiff betritt, kann sie nur die Gläubigen – vor allem verschleierte Frauen und alte Männer – deutlich sehen, die vor den goldenen Ikonen Schlange stehen, um Kerzen anzuzünden. Die Buntglasfenster sind mit Blech und Sperrholzplatten geschützt. Der Duft von Weihrauchschwaden erfüllt die Kathedrale.
Auch im Gebet ist der Krieg nicht fern. In den Seitenkapellen, von Votivkerzen erleuchtet, fallen ihr Hunderte von Fotos gefallener Soldaten auf. Erneut kämpft sie mit den Tränen. Sie nimmt sich vor, dem Popen nach der Messe ein Bild von ihm zu übergeben.
Kalte Luft, liturgische Gesänge und die lange Predigt wiegen sie in den Schlaf, bis ein kleiner Schmerz, ein Ziehen im Unterleib, sie aus ihrer Lethargie reißt.
Als der Pope das Foto entgegennimmt, ahnt er ihre Not und sagt:
»Sie werden mit dem Helden, der Sie gerade verlassen hat, wiedervereint. Es gibt ein anderes Leben, eine andere Welt. Er wartet auf Sie an dem Ort, den Gott für Sie vorbereitet hat.«
Auf der Fahrt mit der Metro von der Sophienkathedrale zum Baikowe-Friedhof denkt sie über diesen Satz nach.
Sein Grab. Ein kleiner Haufen gefrorener Erde zwischen hunderten anderen, entlang einer Mauer, die mit gefrorenen Blumenkränzen bedeckt ist.
Sie erinnert sich an die Blumen, die zwei Tage zuvor zu Füßen der Zivilisten und Uniformträger lagen, die Spalier standen, um seinem Trauerzug den Ehrenempfang zu erweisen. Sechs Soldaten aus seiner Brigade hatten den in die blau-gelbe Flagge drapierten Sarg auf einen Katafalk vor einem Kreuz mit dem Staatswappen gestellt. Ein Trompeter und ein Trommler hatten ihm die militärischen Ehren erwiesen. Mit Unterstützung ihres Schwagers war sie nach vorne getreten, um ihre Hände auf den Sarg zu legen. Während er in die Grube abgesenkt wurde, hatte sie einen Salutschuss vernommen.
In diesem Moment brach sie in Tränen aus.
Leise. Wie heute.
Ihre Beine tragen sie nicht mehr. Sie setzt sich auf eine Bank. Wie sollte das Leben weitergehen? Ohne ihn, ohne Kinder?
Sie hatte keine Kinder haben wollen. Nicht weil sie Kinder nicht mochte. Im Gegenteil. Aber sie selbst wollte keine. So war es.
Ihr wird schwindelig. Wie am Rande des Kliffes am Kap Sarytch bei Foros, wo sie ihren letzten Urlaub auf der Krim verbracht hatten. Die Tiefe hatte sie erschreckt und zugleich angezogen.
Es ist Viertel vor eins, als sie den Friedhof verlässt. Schneeflocken fangen wieder an zu wirbeln. Gerade als sie die Kapuze ihres Mantels über den Schal zieht, erblickt sie neben einem Luftschutzbunker den Eingang eines Hotels, der von großen Leuchtkugeln erhellt wird.
Sobald sie hereinkommt, dringt ihr der Geruch von Gänsebraten und Spanferkelfett in die Nase. Ein Geruch, der ihn hungrig machte. Er liebte das Kochen.
Alle Tische im Speisesaal sind besetzt. Sie findet einen Platz in einem angrenzenden Lounge-Bereich neben einem mit glitzernden Spinnweben bedeckten Weihnachtsbaum. In ihrer Umgebung wird viel gelacht. Im Mittelpunkt der Gespräche steht der Rückzug der Russen aus Cherson. Ab und zu wird der Trinkspruch ausgebracht: »Auf unsere Soldaten, Ruhm der Ukraine!«, der im Saal mit dem militärischen »Slawa Ukraini« beantwortet wird.
Dieses Gelächter, diese patriotischen Prahlereien sind für sie unerträglich. Sie kotzt das Wort Held, das sie seit sieben Tagen hört. »Es reicht! Aufhören!«, möchte sie rufen, aber sie bleibt stumm und bei jedem Toast verschleiern sich ihre Augen.
Als sie ein Stofftaschentuch aus ihrer Handtasche zieht, fällt ein kleines Päckchen heraus, das mit einem goldfarbenen Band umwickelt ist. Sein Geschenk. Sie hat es kurz vor ihrer Abreise nach Kyiv erhalten, vor 72 Stunden. Auf einer beiliegenden Karte wünscht ihr Väterchen Frost ein frohes neues Jahr 2023 und bittet sie, mit dem Auspacken bis zum ersten Weihnachtsabend zu warten, da er es zu spät abschicken wird, als dass sie es am 1. Januar öffnen könnte.
Wenn von Bescherung die Rede ist, an diesem Sonntag erfuhr sie morgens von seinem Tod …
»Slawa Ukraini!« – »Die Sonne der Lebendigen wärmt die Verstorbene nicht mehr«, möchte sie schreien. Es ist ein Vers aus einem Gedicht, das er ihr auf der Strandpromenade von Foros vorgetragen hatte.
Ein anderer Vers aus demselben Gedicht kommt ihr in den Sinn: »Ein einziges Wesen fehlt und alles wird menschenleer«. Ohne dieses eine Wesen kann sie nicht leben.
Anna steckt das Päckchen zurück in ihre Tasche. Sie wird es öffnen, wenn sie allein in ihrem Zimmer ist. Allein mit ihm.
Wieder bei ihren Schwiegereltern angekommen, wird ihr erneut Übel. Schließlich erbricht sie die Kutja, den Grießbrei, den er so sehr mochte und zu dem sie sich im Hotel verführen ließ.
Ihre Schwiegermutter gibt ihr eine Schachtel Aspirin-Brausetabletten und sie geht damit in ihr Zimmer.
Sie steht vor dem Waschbecken und betrachtet sich im Spiegel. Sie hat keine Angst vor dem Tod. Wenn der Tod kommt, wird er seine Augen haben. Das Leben kennt sie nur zu gut. Sie denkt, dass Russland früher oder später siegen wird, dass früher oder später ihre Witwenrente nicht mehr gezahlt wird. Sie glaubt, dass sie zum Exil verurteilt ist. Ohne ihn neu anfangen? Unmöglich, er fehlt! Fehlt! Fehlt! Fehlt!
Sie füllt das Zahnputzglas mit Wasser und gibt alle Brausetabletten hinein. Während das Aspirin zerfällt, öffnet Anna ihre Handtasche und holt ihr Geschenk heraus. Das Päckchen ist leicht. Sie löst die Schleife. Ihr Hals schnürt sich zu. Ihre Finger zittern, als sie das Packpapier aufreißt.
Der kleine Karton enthält zwei Schachteln. In der ersten befindet sich ein Ring mit einem rosafarbenen Turmalin. Der Stein ist von zahlreichen Brillanten umgeben, die der Fassung Volumen verleihen. Im Zweiten verbirgt sich ein Schwangerschaftstest.
In Polen hat sie die Pille abgesetzt. Mit ihren 43 Jahren und aufgrund ihres unregelmäßigen Zyklus hatte sie eigentlich geglaubt, dass sie keine Schwangerschaft mehr zu befürchten hätte. Sie stellt sich sein verschmitztes Lächeln vor, als er das Päckchen zusammenstellte.
Nachdem sie die Gebrauchsanweisung durchgelesen hat, benutzt sie den Stift wie beschrieben und wartet anschließend die empfohlene Zeit ab, während sie auf die Uhr schaut. Drei Minuten vergehen, zwei blaue Striche erscheinen im Lesefeld. In ihren Augen glitzern die Funken der Verwunderung.
Sie leert das Zahnputzglas im Waschbecken aus. Ob Junge oder Mädchen, sie wird dem Kind seinen Vornamen geben: Nikita.