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Die Oboe hinter dem Fenster

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25.10.2004
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Die Oboe hinter dem Fenster

Der kleine Mann drückt aufs Gaspedal und der Gabelstapler saust mit ihm auf die meterhohen Regale zu. Der kleine Mann schwitzt. Er hat mitbekommen, dass er ein wenig zu schnell gefahren war, macht aber weiter. Die Gabel schleicht nach oben, über das erste Regal, das zweite mit den kleinen Schränken bis zu den Vasen, die sich im obersten Regal befinden. Jetzt kommt der schwierigste Teil der Prüfung. Der Mann muss die Gabel in die Palette unter den Kisten schieben, ohne die gefährliche Konstruktion zu zerstören. Von unten versuchen wir ein Wackeln oder eine falsche Position der Gabel zu erspähen, um rechtzeitig warnen zu können. Auch wenn die Vasen der billigste Artikel unseres Kataloges sind, will doch niemand eine ganze Kiste davon auf die Bruchliste schreiben.
Scherben bringen Unglück. Nein, nicht Glück. So geht es manchmal mit den kleinen Geschichten aus dem Volksmund, sie werden erzählt und erzählt und irgendwo hört sie jemand, der vielleicht ein wenig taub oder schwer von Begriff ist und zack, ist der Spruch verdreht und wird in der veränderten Form weitergetragen. Kann man sich denn auf einen Spruch verlassen, dessen Inhalt von der Realität verleumdet wird? Allein die Geschichte mit Wladimir ist ein gutes Beispiel dafür. Wladimir hatte die schlechte Angewohnheit seinen Kaffee überall mit hin zu nehmen und eines Tages (er merkte es gar nicht) fuhr er mit seinem Stapler über eines seiner abgepackten Milchdöschen und kam ins Schleudern. Die Fracht (auch da waren es Vasen) krachte von der Gabel runter und traf Erwin an der Schulter. Erwin ist jetzt Frührentner und auch wenn er Wladimir dankbar dafür ist, war das eindeutig ein Unglücksfall. Am selben Tag gab es Komplikationen mit Wladimirs schwangeren Frau und sie kam ins Krankenhaus, wo man feststellte, dass ihr Visum abgelaufen war und sie umgehend nach Litauen zurückschickte (obwohl niemand verstand, warum Wladimir sie nicht geehelicht hatte). Was mich betraf, so erlitt ich an diesem Tag eine Fischvergiftung. Konrad war zwar der Meinung, dass es nicht damit zusammenhängen konnte, weil ich den Fisch vor dem Unfall gegessen hatte, aber schließlich bekam ich erst viel später die Bauchschmerzen. Unnötig, nach diesem prägnanten Beispiel noch weitere aufzuzählen.
Der kleine Mann schafft es. Die Gabel gleitet sauber unter die Palette und hat die Kiste fest in der Waagerechten. Er setzt den Gabelstapler ein Stück zurück und lässt die Gabel mit der Kiste langsam und bedacht runter. Erst jetzt suche ich nach seinem Namen in den Unterlagen. Er heißt Thomas Brehner und wohnt nicht weit von hier. Sengemann nickt mir zu und bittet Herrn Brehner auszusteigen. Brehner wischt sich über die Stirn und kommt zu uns rüber. Er hat buschige Augenbrauen unter denen wache, intelligente Augen hervorblitzen, unter seinem Basecape quellen lockige Haare hervor. Wenn Sengemann ihn gut findet, dann habe ich auch nichts dagegen ihn einzustellen. Er wirkt vielleicht ein bisschen verschlagen, aber das ist besser als eine Trantüte. Eigentlich wollte ich mir alle sechzehn Bewerber ansehen, wegen der Chancengleichheit, aber ich glaube nicht, dass dabei noch etwas besseres herauskommt und habe auch keine große Lust mir das mäßige Spektakel noch fünfzehn Mal anzusehen. Ich nicke Brehner zu und bitte ihn, mich wegen dem Vertrag ins Büro zu begleiten. „Wollen sie nicht sehen, wie ich die Kisten wieder hochkriege?“, fragt er und sieht mich mit einem schiefen Lächeln an. „Das ist nicht nötig. Die Kisten werden gleich im Versand gebraucht.“ – „Das ist gut kombiniert.“ Ich stocke. „Na, ich meine, die Probearbeit gleich in die richtige Arbeit einzugliedern. Das ist gut.“, fügt Brehner hinzu.
Meine Güte, denke ich, manchmal brauche ich wirklich lange, um etwas so Einfaches zu verstehen. Ich denke darüber nach, wie wenig ich in letzter Zeit mit anderen Menschen gesprochen habe. Es war mir gar nicht aufgefallen, aber in diesem Moment merkte ich, dass
das gesprochene Wort viel langsamer in mein Gehirn sackt, als das geschriebene. Wir gehen zusammen durch die Halle zu den Gängen, die in die sogenannte Schaltzentrale führen. Brehner folgt mir wortlos und sucht nach Orientierungspunkten an den Wänden.

Der neue Katalog ist da. Er glänzt blau und riecht nach frischer Druckerfarbe. Auf der Vorderseite lächelt Sandra, die Tochter unseres Versandleiters. Er will sie unterstützen bei ihrem Wunsch Model und danach Schauspielerin zu werden und die Geschäftsführung hat nichts dagegen, weit weniger zu bezahlen als üblich. Sie präsentiert auch die Textilien auf den anderen Seiten und macht sich im Ringelpullover genauso gut, wie im Overall.
Ich kreuze die Artikel an, die ich für meinen Haushalt haben will und stecke ein paar Kataloge für meine Geschwister, meine Mutter (auch wenn sie sich das letzte Mal wieder über die schlechte Qualität beschwert hatte, würde es mich wundern, nicht wenigstens zehn Artikel in ihrer Bestellliste zu finden) und Onkel Pit in die Tasche. Den Rest des Stapels nehme ich mit. In der Halle angekommen, rufe ich Sengemann und bitte ihn, die Belegschaft zusammenzutrommeln. Wir verteilen die Kataloge an die müden Gesichter und setzen uns zu einem Kaffee in Sengemanns Büro, das eigentlich kein richtiges Büro ist, sondern ein Schreibtisch in einer Ecke hinter den Regalen. „Brehner war nicht dabei. Er sollte auch einen Katalog bekommen.“, sage ich fast beiläufig und nippe an dem bitteren Kaffee. Sengemann nickt und schweigt. Er nimmt ein Lineal und rührt damit das Milchpulver in seine Tasse. Sein Gesicht scheint besorgt und er sucht nach dem richtigen Augenblick mir etwas zu sagen. Er kann seine Gedanken nicht verbergen, deshalb ist er auch ein so guter Schichtleiter für mich. „Wie läufts denn mit dem Neuen?“ – „Sehr gut.“, sagt er und lutscht das Lineal ab. „Das ist ein toller Typ. Er ist irgendwie... intelligent.“ - „Ach ja?“, sage ich, kann mir aber ein Lächeln nicht verkneifen, nicht weil ich Brehner so etwas nicht zutraue (obwohl es schon ungewöhnlich für einen eher robusten, gedrungenen Mann mit starken, abstehenden Armen ist), sondern weil Sengemann so schüchtern und vorsichtig mit diesem Wort umgeht, als könnte es noch auf seiner Zunge zerbrechen.
Auf dem Weg ins Büro läuft mir Brehner fast in die Arme. Seinen Kittel hat er über die Schulter gelegt. „Was ist los?“, frage ich. Er sieht mich verdutzt an und schüttelt den Kopf. „Nichts.“ Ich gebe ihm einen Katalog und weise ihn darauf hin, sich die Artikel gut einzuprägen, damit er sie später nicht verwechselt. Er nickt und schiebt seinen Arm mit dem zusammengerollten Katalog durch den Ärmel.
Brehner ist tatsächlich ein komischer Kerl, denke ich, während ich die Treppe zum Büro raufgehe. Ich fühle mich etwas unsicher in seiner Gegenwart und vermisse das Kumpelverhalten, das in unseren Reihen üblich ist. Vielleicht lasse ich mich nur zu sehr von Sengemanns Lobgesang irritieren und überhaupt: es stört mich, dass Sengemann so tat, als wäre der Neue der einzige intelligente Mensch, dem er je begegnet war.

Ich spioniere nie, aber Unterhaltungen, die sich rein zufällig in meiner Hörweite abspielen kann ich schlecht ignorieren. Fred ist einer der ältesten Mitarbeiter, nicht gerade der Schnellste, aber zuverlässig und als ich die Schichtpläne in den Aushang klebe, höre ich, wie er von dem Neuen spricht: Er wäre ja vielleicht ein toller Typ, aber dass er immer zu spät zum Dienst kommt, ist unfair. Mensch, wir müssen doch alle pünktlich kommen, dass geht doch nicht, dass da einer einfach aus der Reihe springt. Was ist das für eine Moral. Ich halte den Atem an und schleiche mich zurück ins Büro.
Ich dachte darüber nach, was zu tun war und tat es.
Sengemann druckst herum und ich muss warten, bis er sich von dem Schock mich schreien zu hören, erholte und mir eine einigermaßen zusammenhängende Erklärung lieferte. Was dabei heraus kommt befriedigt mich keineswegs. Anscheinend macht Brehner seine Arbeit
immer gewissenhaft und viel schneller, als die anderen, deshalb wäre es doch nicht von Belang wann er anfinge. Hauptsache die Arbeit ist fertig. Als Sengemann fertig ist, erkläre ich ihm, dass ich keine Lust habe für jeden einzeln Regeln zu erlassen und dass die, die wir jetzt haben für alle gelten. Dann rufe ich Brehner zu mir ins Büro. Während ich auf ihn warte, laufen verschiedene Versionen von dem Gespräch ab, das mir bevorsteht. Einmal ließ ich all meine Wut raus und schrie ihn an, dass er sich nicht einbilden sollte, etwas besseres zu sein. In der nächsten Version war ich ruhig und streng und streute nur ein paar Bemerkungen in den Raum, die aber sehr hart waren. Dann wieder führten wir ein sehr freundschaftliches Gespräch.
Es klopft. Zeit, sich für eine Variante zu entscheiden.
„Sengemann hat mir schon erzählt, worum es geht. Ich verstehe Sie sehr gut. Es war naiv von mir zu glauben, dass es funktionieren könnte.“, sagt er, noch bevor er sich überhaupt gesetzt hat. Na prima, denke ich, die Beiden verstehen sich ja bestens.
Und da ist wieder dieses komische Gefühl.
„Gleiches Recht für alle, anders geht’s nicht. Verstehen Sie das?“, sage ich und versuche meine Unsicherheit nicht über den Schreibtisch rutschen zu lassen. Brehner nickt, „ Geben Sie mir noch eine Chance?“
Natürlich würde ich ihn jetzt nicht rausschmeißen und ich glaube, dass weiß er, trotzdem will ich ihn noch ein wenig zappeln lassen. Ich weiß nur nicht wie.
„Ich will, dass Sie pünktlich kommen und ihre Arbeit ordentlich machen.“
Brehner nickt und sieht mir direkt in die Augen, so dass ich mir schnell einen Stift zwischen die Finger klemme, auf den ich meine Aufmerksamkeit legen kann. Es ist alles geklärt und ich hoffe, dass es auch bei ihm so angekommen war. Ich schicke ihn wieder an die Arbeit und öffne das Fenster. Wie hat er es in so kurzer Zeit geschafft, Sengemann von den absoluten Grundregeln abzubringen, überlege ich, während ich mir am Waschbecken die blaue Farbe von meinen Fingern schrubbe.

Das erste Mal seit Wochen nehme ich an der Mittagspause in der Kantine teil. Ich war neugierig geworden auf diesen Brehner. Als guter Personalleiter sollte man auch wissen, wen man im Team hat. Ich hole mir eine Portion Salat und ein bisschen Kartoffelpüree mit einer Boulette und setze mich zu Sengemann und seiner Truppe. Sengemann versteht sofort, warum ich gekommen bin und zwinkert mir zu. Brehner isst nichts, trinkt nur Kaffee und einen Orangensaft. Er sitzt mir gegenüber und redet im Stillen mit Borzowski. Leider verstehe ich nichts, bemerke aber wie konzentriert Borzowski den Worten lauscht.
Den hat er also auch schon auf seiner Seite. Ich tauche ein Stück Boulette in das Püree und schiebe es mir in den Mund. Als mein Teller leer ist, bringe ich ihn in den Geschirrwagen am anderen Ende der Kantine. Auf dem Rückweg zum Tisch stelle ich fest, dass Borzowski, Sengemann und die Anderen weg sind. Nur Brehner sitzt noch da und scheint auf mich zu warten.
„Ich mag die Jungs.“, sagt er und lächelt mich an.
„Ja, das sind nette Kerle und verlässlich sind sie auch. Sie würden für ihren Kollegen durch die Hölle gehen.“, sage ich und werde ein wenig rot, weil ich meine Anspielung zu spät bemerkte. Brehner geht nicht drauf ein und ich bin ihm dankbar.
„Sie können mich gern Thomas nennen. Das du ist natürlich inklusive.“, sagt er.
Was sollte ich jetzt sagen? Normalerweise genieße ich es, gesiezt zu werden.
„...und ich erwarte nicht, dass Sie mir ebenfalls das Du anbieten. Schließlich sagt man schneller ‚Du Arschloch’ als ‚Sie Arschloch’, nicht wahr? Ich mag nur meinen Nachnamen nicht so gerne hören, das ist alles.“
„Ich habe kein Problem damit. Du kannst Ulli zu mir sagen.“, kommt es aus meinem vorlauten Mund. Ich erschrak und wurde wieder rot.
„Das kommt von Ulrich?“, fragt er.
„Genau.“ Das war nicht gut, das Duzen mit einem Lagerarbeiter, denke ich. Man braucht diesen gewissen Abstand als Personalleiter. Meine Gedanken fliegen weiter und besichtigen die verzwicktesten Situationen, die entstehen könnten, wenn man es erst mal so weit kommen ließ. Meine Hände schwitzen. Warum mochte er seinen Namen nicht, frage ich mich, wage aber nicht danach zu fragen. Also nippen wir schweigend an unseren Getränken.
„Gestern nacht gab es einen Sturm. Mein Fenster ist dabei draufgegangen.“
„Oh“, sage ich und „wir haben leider keine Fenster im Sortiment, sonst hätte ich dir schnell helfen können.“
„Weißt du, ich denke, ich werde es den Sommer über so lassen. Es fühlt sich gut an, wie beim Campen.“
„Und der Regen?“
„Wenn es soweit ist, lass ich mir was einfallen. Magst du Musik?“
„Ja, jeder mag Musik.“
„Nein. Das ist nicht wahr. Meine Frau mochte keine Musik. Sie hörte nicht mal Radio beim Autofahren.“
„Komisch.“, sage ich.
„Sie brauchte ihre Ruhe und Musik hat sie nur gestört. Wir haben uns oft gestritten.“
„Das kann ich mir vorstellen.“
„Sie ist mit einem Fleischklopfer, die Dinger mit denen man Schnitzel weich klopft, mit so was ist sie auf mich losgegangen. Sie hat mir in zwei Jahren drei Rippen und vier Finger gebrochen. Manchmal habe ich gedacht, sie hasst mich, aber es war nur die Musik.“
„Jede Art von Musik?“, frage ich.
„Ja. Selbst ein leichtes Trommeln mit dem Finger hat sie wahnsinnig gemacht.“
Er verzieht keine Miene, als spräche er über eine Frau, die er mal im Fernsehen gesehen hat. Keine Emotion.
„Das ist furchtbar. War sie krank?“
„Ich weiß nicht. Ich habe noch nie von einer solchen Krankheit gehört.“
„Jedenfalls ist das nicht normal. Ich meine, bin zwar kein Musikfreak und ich kann es gut verstehen, dass man manchmal Stille braucht. Aber das finde ich unnatürlich.“
„Das habe ich auch gedacht. Aber ich habe sie geliebt.“
„Was ist mit ihr? Habt ihr euch getrennt?“
„Nein. Sie ist gestorben.“
Nachdem er das gesagt hat, fängt sein linkes Augen an zu zucken und ich werde nervös. Diese ganzen privaten Dinge. Ich fühle mich überfordert, weiß nicht, wie ich reagieren soll. Außerdem sind das nicht solche Dinge, die mir Sengemann oder die anderen erzählen. Die sprechen von ihren Kindern und von Fußballübertragungen, die ihre Frauen brav ertragen oder auch nicht, jedenfalls von kleinen Problemen. Aber was Thomas erzählt, ist unglaublich und lässt alles, was ich bis dahin für phantastisch hielt, im Schmelzofen der Banalität verglühen. Und doch will ich mehr davon, wie bei einer zweiten Tafel Schokolade vor dem Mittagessen.
Aber ich muss vorsichtig sein.
„Es war eine üble Geschichte. Wir waren bei meinen Eltern zu Besuch. Meine Mutter hatte Geburtstag und gab eine Party. Meine Eltern hatten ungefähr fünfzig Leute eingeladen. Und es gab natürlich Musik und Tanz. Das war schwer für meine Frau, aber sie riss sich zusammen und hielt sich ein wenig am Rande. Kurz nach Mitternacht ist es dann passiert. Helge, mein Cousin, rannte ins Haus und schrie Feuer! Feuer! Er hörte nicht auf zu schreien und rannte in jedes Zimmer, selbst in die Räume, in denen keiner war. Natürlich flüchteten alle sofort in den Vorgarten. In dem Durcheinander suchte ich Christine, meine Frau, aber sie war verschwunden. Ehrlich gesagt, habe ich mir nichts dabei gedacht und war viel zu sehr damit beschäftigt, das Feuer in der Garage zu löschen. Die Feuerwehr kam bald und erledigte
den Rest. Erst da begann ich, ernsthaft nach Christine zu suchen. Vergeblich durchsuchte ich das Haus, bis meine Tante mich fand und mir sagte, dass Christine in dem Auto saß, in der Garage. Helge hatte sie dort gesehen. Ich bekam eine Weile keine Luft mehr und rannte trotz aller Atemnot in die Garage. Es war noch furchtbar heiß und die Feuerwehrmänner bargen ihren verkohlten Leichnam. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und die Nächte darauf auch nicht. Keiner konnte sich erklären, wie das Feuer zustande kam, dass heißt eine Erklärung gab es.“
„Was für eine?“
„Manche glaubten, es war Selbstmord.“, antwortet er und versucht sein Zucken zu kontrollieren, „Aber das glaube ich nicht. Ich denke, ich hätte was gemerkt. Vielleicht überschätze ich auch mein Einfühlungsvermögen, aber es war der Geburtstag ihrer Schwiegermutter. Das hätte sie nie übers Herz gebracht.“
„Sicher, das klingt logisch.“
„Stimmt. Die Untersuchungen haben ergeben, dass es ein Leck im Tank gewesen sein muss, aber niemand konnte sagen, wie dieses Leck entstanden war.“
„Seltsam.“, sage ich und würde gern noch was hinzufügen, irgendeine Theorie oder so.
Thomas beugt sich vor: „Mein Vater hat seit dem kaum mehr ein Wort gesprochen. Nur das Nötigste wie: danke, bitte, ja, nein, später und so weiter.“
„Aber warum?“
„Er hat nichts darüber gesagt, aber wir nehmen an, er fühlte sich schuldig, weil es sein Auto war.“
„Ja, das wäre immerhin möglich.“
„Es ist lange her und wir werden sicher keine Fragen mehr finden, die wir nicht schon beantwortet hätten. Trotzdem muss ich immer wieder dran denken.“
„Das ist verständlich.“
„Ja.... . Übrigens, weswegen ich eigentlich das Thema Musik angesprochen hatte. Wir gründen eine kleine Band. Konrad spielt Klavier, Fred macht das Schlagzeug, Michael Trompete und Sengemann Akkordeon. Ich übernehme die Violine und wir haben uns gefragt, ob du auch ein Instrument spielst.“
„Ich? Nein, dass heißt, ich habe mal Blockflöte gespielt.“
„Na, das ist doch was.“
Ich bin ehrlich erstaunt.
„Ich muss jetzt wieder an die Arbeit. Bis dann.“
Ich sehe ihm nach, wie er den Gang runterläuft. In meinem Kopf rattert es, selbst als ich wieder im Büro sitze, denke ich immer wieder über seine Geschichte nach. Aber nicht nur diese Geschichte war irgendwie verrückt, sondern auch die Sache mit der Band. Seit wann spielen meine Leute Instrumente, frage ich mich und wer war eigentlich dieser Michael mit der Trompete. Ich schlage die Sozialliste meiner Mitarbeiter auf und durchsuche sie nach einem Michael. Wenn der Name auftaucht, wäre das peinlich, wenn nicht, war es wohl nur ein Bekannter von Thomas.
Unglaublich, denke ich, da steht es Schwarz auf Weiß: Michael Borzowski, den ich nun schon seit vierzehn Jahren kenne und nie war ich auf die Idee gekommen, dass ich seinen Vornamen nicht weiß. Warum auch, schließlich nennen ihn alle Borzowski. Es gibt keinen Grund, seinen Vornamen zu kennen. Ich beruhige mich ein wenig und schenke mir ein Glas von dem Likör ein, den ich mal von meiner Nachbarin geschenkt bekommen hatte. Es ist eine Rarität aus dem Thüringer Wald und schmeckt nicht schlecht.

Die ganze Woche denke ich über Fleischklopfer, Garagen, Benzin und Musik nach. Ein Klavier, Schlagzeug, Violine, Akkordeon und Trompete. Ich kann mir nicht vorstellen, wie
das zusammenpassen soll. Allerdings habe ich keine Ahnung von Musik. Vielleicht passt es ja großartig zusammen.
Dann ist Freitagabend und ich laufe die Straße zu meiner Wohnung entlang. Es ist derselbe Weg wie immer, dieselbe Uhrzeit und derselbe kleine Laden, an dem ich Halt mache und dessen staubiges Schaufenster mich immer an die Dachböden meiner Kindheit erinnert. Das Spiel hieß Pirat und alle Dinge, die ich auf dem Boden fand, gehörten mir (dem Piraten). Natürlich nicht wirklich, aber ich gab mir größte Mühe so lange wie möglich daran zu glauben. Im Schaufenster steht ein kleines Schubladenschränkchen, die Schubladen ausgezogen und kleine Dinge, wie Schmuck, ein Opernfernglas und andere Gegenstände lugen heraus. Daneben stehen Lampen, ebenfalls mit Schmuck behangen und kleine Objektive und Kameras. Alles sehr alt. Mein Blick fällt auf eine alte Oboe. Sie ist schwarz und die vielen goldenen Klappen und Verschlüsse lassen sie sehr kompliziert aussehen, aber sie gefällt mir. Ich sehe sie lange an und stelle mir vor, dass ich auf ihr spiele, in einem Orchester. Sengemann ist dabei, Konrad und die anderen und Brehner dirigiert.
Das ist natürlich absurd, das weiß ich.
Der Mond zeichnet sich am dämmrigen Himmel ab und ich reiße mich vom Schaufenster los. Die Lichter hinter den Fenstern wirken wie kleine Paradiese und hinter einem schleicht ein Schatten vorbei, doch ich will noch nicht nach Hause gehen. Von innen sind diese Paradiese nur noch einsame, mehr oder weniger staubige Wohnungen. Ich setze mich auf eine Bank in der Bushaltestelle und warte. Ich träume ein wenig und weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als ein Mann mich fragt, wann der Bus kommt. Er hat einen dichten Bart und trägt einen blauen Anorak mit gelben Streifen, die das Licht reflektieren. Ich habe natürlich keine Ahnung und gebe das offen zu.
„Wollen Sie auch in die Stadt?“, fragt er.
Ich zucke mit den Schultern. Wie ein kleiner Schuljunge, denke ich und ändere meine Meinung, sage ihm, dass ich in die Innenstadt will. Er sieht nett aus und lächelt mich freundlich an.
„An solch einem Abend möchte man auch nicht zu Hause sitzen.“, sagt er und nimmt neben mir Platz. Ich nicke und habe Lust mich mit ihm zu unterhalten, aber ich weiß nicht, was ich ihm erzählen könnte. Also schweigen wir und lächeln.
Dann kommt der Bus, ich steige ein und löse eine Fahrkarte. Ich bin froh, als der Mann neben mir Platz nimmt. Wir gucken aus dem Fenster und werden mal auf eine Kirche, mal auf ein leuchtendes Geschäft aufmerksam. Aber wir reden nicht, was ich schade finde. Es bedrückt mich ein wenig.
Am Potsdamer Platz steigt er aus und ich mit ihm. Er verabschiedet sich freundlich und verschwindet zwischen den Lichtern. Ich bleibe stehen und überlege mir, auf den nächsten Bus zu warten, der mich nach Hause fährt. Zwischen den hohen Häusern laufen ein paar junge Leute und lachen. Ihre Stimmen scheinen hier ein Echo zu haben. Nach Hause, denke ich, aber gleichzeitig baut sich ein Widerwillen in mir auf, der mich weiter treibt. Ich sehe mir Plakate mit schönen Frauen an, schiele in hell beleuchtete Restaurants und werde schließlich von einer Gruppe spanischer Touristen überholt, denen ich wie hypnotisiert folge. Sie steuern auf die Philharmonie zu und ich mit ihnen, durch die Glastüren, zu Kasse, kaufe mir eine Karte für das Konzert und gebe meine Jacke ab. Die ganze Zeit pfeift eine Art Wind durch meine Gedanken, der mir nicht erlaubt darüber nachzudenken, was ich hier tue. Das Foyer ist riesig und beeindruckt mich. Ich lasse mich von schlanken Damen an meinen Platz führen und warte. Von der Decke über der Bühne hängen Mikrophone und ein paar Leute in Anzügen laufen über das Parkett. Dann wird es still. Die letzten Gäste suchen sich ihren Platz und hier und da räuspert sich noch schnell jemand. Die Musiker kommen mit ihren Instrumenten auf die Bühne und verbeugen sich. Beifall. Ich suche nach einer Oboe, kann aber von meinem
Platz aus nicht viel erkennen. Das Konzert beginnt und mein Körper erstarrt vor Aufregung. Es wird mir schmerzlich bewusst, dass ich das erste Mal in meinem Leben ein Orchester erlebe. Doch dann gibt es nur noch die Musik. Sie dringt auf direktem Weg in mein Herz und mir schießen Tränen aus den Augen. Schauer überkommen mich und eine Gänsehaut macht sich breit. So sehr ich auch versuche, mich zusammenzureißen, es gelingt mir nicht. Durch das Wasser auf meiner Netzhaut kann ich kaum die Musiker erkennen. Irgendwann höre ich auf, mich zu wehren und weine, weine, weine...

Alle schwatzen vom Wochenende und ich hätte gern jemandem erzählt, was ich erlebt habe, aber es ist mir peinlich und ich fürchte, bei dem Gedanken daran wieder zu heulen. Also tue ich so, als ob ich zuhören würde und lache an den Stellen, an denen sie lachen. Ich trinke meinen Kaffee und warte darauf, dass ich wieder an die Arbeit gehen kann.
Auf meinem Schreibtisch stapelt sich die Arbeit und ich versuche mich darauf zu konzentrieren. Meine Hände huschen flatterig durch die Unterlagen und ich bringe alles eher durcheinander, als dass ich richtig arbeiten würde. Ich kann nicht aufhören, an das Gefühl von der Musik zu denken und dabei füllen sich meine Augen wieder mit Wasser.
Als es klopft, bin ich schon völlig verheult und versuche schnell die Spuren zu beseitigen.
Sengemann tritt ein und sieht mich verwundert an. Was los ist, fragt er. Ich kann natürlich nicht antworten. Ich weiß es ja selbst nicht genau.
„Hab was in die Augen bekommen.“, lüge ich. Sengemann reicht die Erklärung. Er setzt sich auf einen Stuhl und sein Blick überfliegt den Schreibtisch.
„Ich muss Ihnen was sagen. Ich schleppe es schon seit Wochen mit mir rum und jetzt tut mir leid, dass ich versucht habe, es zu verheimlichen.“
„Was denn?“, frage ich und meine Neugierde treibt mir die letzte Feuchtigkeit aus den Augen.
„Es geht um Thomas Brehner.“, sagt er, „Er ist bis jetzt jeden Tag zu spät gekommen und heute ist er schon drei Stunden überfällig. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Er ist ein toller Mann und arbeitet wirklich gut. Nie bleibt abends etwas liegen und das, obwohl er später anfängt. Außerdem bringt er meine Truppe zusammen. Es ist das erste Mal, dass wir ein Team sind. Auch wegen der Sache mit der Band.“
Ich merke, wie eine Wut in mir aufsteigt.
„Ja, die Argumente habe ich schon mal gehört.“, antworte ich sauer.
„Nein. Sie verstehen nicht. Es funktioniert besser als vorher. Brehner bringt richtig Schwung in die Leute. Irgendwie hat sich alles verändert, zum Positiven.“
„Das mag sein, aber wie stellen Sie sich das vor? Wenn ich es ihm erlaube, muss ich es allen erlauben und das kann ich nicht verantworten. Wie soll ich das der Geschäftsleitung erklären? ‚Ja, sicher. Die Leute kommen und gehen, wann sie wollen, aber wir haben ein tolles Klima.’ Ich muss meine Konsequenzen ziehen.“ Für mich ist damit die Diskussion beendet. Sengemann bleibt jedoch sitzen und beobachtet mich beim Ausfüllen der Abrechnung. Er rührt sich keinen Zentimeter.
„Sengemann, denken Sie doch mal nach. Ich kann nichts machen. Brehner brauchte doch einfach nur pünktlich zu kommen. Das ist doch nicht so viel verlangt. Schicken Sie ihn zu mir sobald er da ist. ...Falls er denn kommen sollte.“
„Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht. Schade! Ich glaubte, Sie würden das verstehen.“, antwortet er beleidigt.
Der kleine Träumer, dachte ich, mir bleibt nichts zum Träumen. Das ist mein Job: nicht träumen und die Regeln befolgen. Worüber sollte ich jetzt noch nachdenken? Wem würde das was nützen? Ob ich es tat oder nicht, es würde sich nichts ändern, nie. Das lag nicht bei mir, das kam von oben. Es lag nicht in meiner Macht. Wenn das meine Firma wäre, läge das anders, dann könnte ich über so was nachdenken und rausfinden, ob es gut oder schlecht ist, aber so: nein.
Ich beschloss, nichts mehr dazu zu sagen und ließ meine Wut an der Arbeit aus. Es funktionierte großartig und ich war froh, wieder so gut voranzukommen. Nach zwei Stunden war alles fertig, ich stellte mein neues Radio aus und ich machte mich auf den Weg in die Mittagspause.
Auf dem Weg kam ich an den Dienstplänen vorbei und strich den Namen Brehner raus.

 

Hallo Simone,

auch die Geschichte ist flüssig geschrieben und hat vor allen Dingen einen interessanten Inhalt. Dennoch hat sie mir nicht ganz so gut gefallen wie die über die gelben Blumen - gern gelesen hab ich sie aber trotzdem. Ich glaube, sie war mir stellenweise zu langatmig. Insbesondere der Anfang, bis die eigentliche Handlung losgeht, könntest du glaube ich kürzen. Wenn du sie straffen würdest, würde das wirklich Wichtige noch deutlicher werden.

Scherben bringen Unglück.
Diesen Absatz zum Beispiel - er ist wirklich schön, aber brauchst du ihn für die Geschichte?
Außerdem hatte ich das Gefühl, dass das Ende plötzlich kommt. Durch die Geschichte mit der Oboe (sie taucht ja sogar in der Überschrift auf) und das Konzert hatte ich den Eindruck, dass das sein Leben verändert hat und in ihm die Einstellung wächst, das andere Dinge wichtig sind als Pünktlichkeit. Auch wenn ich seine Entscheidung verstehe (Brehmer kündigen, um den neuen Aspekt in seinem Leben nicht zuzulassen) war ihre Begründung für mich nicht schlüssig, da du uns vorher auf eine andere Fährte gelockt hast.

Ansonsten hast du auch in dieser Geschichte einige schöne Details und Beschreibungen, die Faszination die Brehmer ausübt z.B., die kommt gut rüber. Ich hab noch einige Details - alles selbstverständlich nur subjektive Vorschläge:

Am selben Tag gab es Komplikationen mit Wladimirs schwangeren Frau
schwangerer
Das ist gut.“, fügt Brehner hinzu.
:)
Brehner ist tatsächlich ein komischer Kerl, denke ich, während ich die Treppe zum Büro raufgehe.
"herauf" find ich schöner als "rauf", das klingt umgangssprachlich
Er wäre ja vielleicht ein toller Typ, aber dass er immer zu spät zum Dienst kommt, ist unfair. Mensch, wir müssen doch alle pünktlich kommen, dass geht doch nicht, dass da einer einfach aus der Reihe springt. Was ist das für eine Moral.
Vorschlag: entweder in direkter Rede (dann mit Anführungszeichen und "er ist ja vielleicht ein toller Typ...") oder in indirekter und dann im Konjunktiv (er sei ja ein toller Typ).
Ich dachte darüber nach, was zu tun war und tat es.
Hier und in den folgenden Sätzen irritierten mich die Zeitenwechsel. Bleib doch in der Gegenwart
Hauptsache die Arbeit ist fertig. Als Sengemann fertig ist, erkläre ich ihm, dass ich keine Lust habe für jeden einzeln Regeln zu erlassen und dass die, die wir jetzt haben für alle gelten.
Wortwiederholung "fertig". Außerdem schlage ich die vor, das gesamte Gespräch als Dialog zu schreiben. Ich glaube, das würde lebendiger wirken
Einmal ließ ich all meine Wut raus und schrie ihn an, dass er sich nicht einbilden sollte, etwas besseres zu sein. In der nächsten Version war ich ruhig und streng und streute nur ein paar Bemerkungen in den Raum, die aber sehr hart waren. Dann wieder führten wir ein sehr freundschaftliches Gespräch.
Auch hier empfehle ich, in der Gegenwart zu bleiben. Das irritiert sonst beim Lesen. Gilt auch noch für andere Stellen, ich spar mir das Raussuchen, ich denke du weißt was ich meine ;)
Natürlich würde ich ihn jetzt nicht rausschmeißen und ich glaube, dass weiß er
das
Meine Frau mochte keine Musik.
Der Dialog wird ziemlich schnell persönlich, das ist mir aufgefallen. Und zwar von beiden Seiten, auch von Seiten des Erzählers, der vorher noch die Distanz wahren wollte. Unabhängig davon finde ich das Phänomen, keine Musik zu mögen, faszinierend.
Nein, dass heißt, ich habe mal Blockflöte gespielt.
das

Liebe Grüße
Juschi

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Juschi,

ich hätte nicht gedacht, daß sich jemand die Mühe macht solch lange Geschichte zu korrigieren. Danke, Danke, Danke. Ich bin nicht sicher, ob diese Geschichte das verdient hat.
Ich habe auch immer gedacht, daß die Geschichte zu langatmig ist. Dann habe ich versucht sie zu kürzen und es ist mir nicht gelungen. Das Problem war, daß all diese Trägheit der Ereignisse zu Ulli gehören. Der kann das garnicht anders, deswegen kriegt er diese kurze Sache mit dem Leben auch nicht in sein Konzept. Ja, er verbietet sich sogar das Nachdenken. Deswegen ist da Schluss, wo es eigentlich spannend werden könnte. Er ist eben ein "Horst" und wird immer einer bleiben.
Die Langatmigkeit wollte ich mit dem Präsens ausgleichen (ist nicht gelungen, ich weiß). Die Geschichte war nämlich ursprünglich in der Vergangenheit geschrieben. Deswegen diese ganzen Fehler. Ich mach mich nochmal dran zu schaffen.
Die Persönlichkeit im Dialog von Ulli und Brehner muss auch irgendwie sein, weil Brehner damit doch gleich alle in seinen Bahn zieht. Ist doof gemacht. Nicht flüssig genug. Ich weiß garnicht, ob sich das große Korrigieren noch lohnt. Wahrscheinlich schreibe ich lieber schnell ne neue Geschichte. Dennoch fühle ich mich mit deiner Kritik bestätigt, weil du auch all die Sachen siehst, die ich blöde finde.

Bis dahin, liebe Grüße,
Simone.

 

Ich nochmal.
Ich denke schon, dass sich eine Überarbeitung lohnt, auf jeden Fall. Genau dann wird es doch spannend - wenn man mit einer Geschichte nicht ganz zufrieden ist und dann solange an ihr feilt, bis sie immer und immer besser wird. So ist es bei mir zumindest.

Liebe Grüße
Juschi (die eine Sie ist ;) )

 

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