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- 09.12.2016
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Die perfekte Frau
David zog seine Bifi unter dem Bett hervor, riss die Verpackung auf und verschlang den Inhalt mit zwei Bissen. Das war der schönste Moment des Tages. Manchmal versuchte er ihn lange hinauszuzögern, denn alles, was danach kam, war Langeweile. Seine Mutter musste den Verstand verloren haben, als sie dachte, er könne sich in dieser schäbigen Landvilla freier entfalten als in Berlin. Ohne Internet. Handy. iPad. Nur die Fliege an der Wand. Das Brummen des Rasenmähers aus dem Vorgarten. Er schob sich einen Kaugummi in den Mund und schlurfte in die Küche.
Durch das offene Fenster zog der Geruch von gemähtem Gras. Der Rasenmäher verstummte, und die Stimme seiner Mutter drang zu David in den ersten Stock. Seit dem Umzug sollte er sie Katja nennen.
Als er hinausblickte, sah er sie mit einem kahlköpfigen Mann im Vorgarten stehen. Das musste der neue Gärtner sein. Schon vor einer Woche war er in die Erdgeschosswohnung gezogen, aber weder David noch Katja hatten ihn bisher zu Gesicht bekommen. Er war alt, mindestens vierzig oder fünfzig, schätzte David, und sah aus wie einer, der sich am Wochenende mit zwanzig Kilometer-Läufen entspannte.
„Willkommen auf meinem Schloss!“ Katja machte eine ausschweifende Handbewegung über das verwilderte Grundstück. „Ich bin echt froh, dass ich jetzt Hilfe habe. Ich meine, ich finde es meditativ im Garten zu arbeiten, aber es ist kaum zu schaffen und ...“ Sie legte dem Mann die Hand auf den Unterarm und senkte die Stimme, aber David konnte es trotzdem hören. „ ... sehr unentspannt, weil der Vermieter hier rumspioniert, ob wir den Rasen auch alle acht Tage mähen. Aber schön ist es hier!“ Sie warf den Kopf in den Nacken und ließ sich über die Vorzüge des Landlebens aus. Ihr langer Pferdeschwanz wippte hin und her.
David rollte mit den Augen und schloss das Fenster. Es sah nach Regen aus, aber das war schon seit Tagen so.
Er wollte gerade zurück in sein Zimmer gehen, als er auf der anderen Seite des Gartens eine Frau entdeckte. Sie saß im Schatten der Trauerweide und trug einen großen weißen Sonnenhut mit breiter Krempe. Die Zweige verbargen sie fast vollständig. Nur die nackten Beine lugten hervor, die zierlichen Füße steckten in goldfarbenen Sandalen.
David blinzelte. Er schloss sogar kurz die Augen, aber als er sie öffnete, saß sie unverändert da, während sich die Weidenzweige seicht im Wind wiegten.
Durch die Wolken brach die Sonne hervor. Schnell zog David die Jalousie ein Stück herunter und lugte durch den Spalt.
Schritte auf der Treppe. Kurz überlegte er, ob er es noch in sein Zimmer schaffte, aber der Schlüssel drehte sich bereits im Schloss. Er zog das Rollo ganz herunter und holte ein Glas aus dem Schrank.
„David!“ Katja blickte um die Ecke und hatte ihr ich-bin-schon-seit-Stunden-wach-und-hab-ganz-viel-geschafft-Lächeln angeknipst. „Warum lässt du denn die Sonne nicht rein?“
Sie holte rote Beete, Sprossen und Tofu aus ihrer Jutetasche und legte alles vor sich auf den Tisch. Den Möhrensaft öffnete sie sofort. David schob ihr das Glas hin.
„Hast du den neuen Gärtner gesehen?“, fragte sie, ließ das Rollo hochschnellen und schirmte die Augen mit der Hand ab. „Boah, hat der 'nen Body! Komisch, dass er mir seine Frau gar nicht vorgestellt hat. Er hat überhaupt nicht von ihr gesprochen. Meinst du, das hat was zu bedeuten, David?“
„Vielleicht wollte sie im Schatten sitzen.“
Katja lachte und reckte den Hals so weit, als wollte sie den Kopf durch die Scheibe stecken.
„Woher willst du wissen, dass sie verheiratet sind?“, fragte David, während er das Gemüse in den Kühlschrank räumte. „Sie wirkt sehr j-jung.“
„Sie ist auch jung. Und sie ist Thailänderin. Dann ist sie garantiert seine Frau.“
David hielt in der Bewegung inne. „Ta-hailänderin? Ich dachte, er hat nicht von ihr ge-sprochen.“
„Das sieht man doch.“
„Wo-ran?“
„Ich kann ja wohl sehen, dass sie Asiatin ist.“
„Aber nicht, dass sie aus T-Ta-hai ...“
„David.“ Sie kam zu ihm an den Kühlschrank und strich ihm mit der flachen Hand über die Wange. „Ich kenne die Männer.“
Er hatte sich hinter ihr aus der Wohnung schleichen wollen, das Rad schnappen und einmal um den See heizen. Aber jetzt stand sie im Flur und beäugte sich vor dem großen Spiegel neben dem Schlüsselbrett. Mit gesenktem Kopf steuerte David auf die Wohnungstür zu.
„Wurde aber mal Zeit, dass hier 'n Mann ins Haus kommt“, sagte Katja. „Dann schleicht der alte Sack hier nicht mehr rum und nervt uns mit dem Garten. Der holt sich doch einen drauf runter, dass er mir sagen kann, was ich zu tun habe.“
„Ig-norier ihn doch einfach.“
Ihr Blick traf ihn wie ein Pfeil. „Hör endlich auf, mir Vorwürfe zu machen.“
„Ich mache dir keine Vor-w-würfe.“
„Doch. Du zwingst mir deine Meinung auf.“ Sie schloss die Augen, ließ die Schultern fallen und begann tief ein und aus zu atmen. Leise nahm David seinen Schlüssel vom Brett und drückte die Türklinke hinunter.
„Ich rege mich nicht auf, David“, sagte Katja. „Ich fühle nur mit dem Mann mit.“ Sie öffnete die Augen. „Es tut mir leid für ihn, dass er nichts Besseres zu tun hat, als die Nachbarn auszuspionieren.“
David seufzte. „Bestimmt m-mag er dich“, sagte er.
Sie winkte ab.
„Der G-Gärtner.“ Er schob sich aus der Wohnungstür.
Sie antwortete nicht. Grinsend setzte er sich auf die oberste Treppenstufe und zog die Sneakers an. Bestimmt tanzte sie vor dem Spiegel, ihre Hüften schwangen von einer Seite zur anderen, die Arme zeichneten Muster in die Luft.
„Das ist süß, dass du das sagst“, rief sie durch die geschlossene Tür. „Aber mögen - nicht mögen. Was bedeutet das schon? Jedes Lebewesen hat es verdient, geliebt zu werden.“
Der Kies knirschte, als David das Fahrrad am Vorgarten vorbei auf die kleine Holzpforte zuschob. Wenn er den See umrundet hatte, würde er bis Anbruch der Dunkelheit im Gras liegen, in den Himmel starren und sich nach Berlin wünschen, wo alle an ihm vorbeirannten und sich nicht daran erinnerten, ihn je gesehen zu haben. Er spähte durch die Brombeerbüsche, die den schmalen Weg vom Rasen trennten, konnte aber nichts erkennen. Erst als er die Pforte erreichte, endete das Gebüsch, zu seiner Rechten erstreckte sich ein bemooster Jägerzaun, der den Bürgersteig von einem unbepflanzten Beet trennte. Der Gärtner grub es mit dem Spaten um. David schielte auf den stählernen Bauch des Mannes, zog den eigenen ein und lugte zur Trauerweide hinüber. Die Frau war nicht mehr da. Oben, in der Küche, telefonierte Katja laut lachend mit Sita oder Radhika. Jedenfalls mit einer dieser Frauen, die ihre Haare zweimal täglich wuschen, um die vielen Energien loszuwerden, denen sie den ganzen Tag ausgesetzt waren. Er bekam die verflixte Gartenpforte nicht wieder zu, wollte kurz das Fahrrad abstellen und hörte es im nächsten Moment auf den Bürgersteig krachen.
„Brauchst du Hilfe?“ Der Nachbar stützte sich auf den Spaten, Lachfurchen zierten seine Augen. Aus der Gesäßtasche seiner Armeeshorts hing ein schmuddeliges, blaues T-Shirt halb heraus. „Du bist sicher David. Der beste Sohn der Welt.“ Er zog das T-Shirt hervor, wischte sich die Hände daran ab und stapfte durch das Beet zum Zaun. Sein Händedruck war fest.
David scharrte mit der Schuhspitze auf dem Gehsteig. In Berlin hatte er von Leuten gehört, die so lange tot in ihrer Wohnung lagen, bis den Nachbarn der Gestank auffiel.
„Ich bin Herr Gärtner“, sagte der Mann. „Das ist mein Name und mein Job.“ Er lachte dröhnend und zog ein Päckchen Drum aus der anderen Gesäßtasche. „Zigarette?“
David schüttelte den Kopf und sah hoch zum Küchenfenster. Sonnenstrahlen brachen sich in der Scheibe. Obwohl nichts mehr zu hören war, wusste er, dass Katja immer noch dort stand und das Zopfband gelöst hatte. Gleich würde sie das Fenster öffnen und das Haar über die Schulter hinauswerfen, damit der Gärtner daran emporkletterte wie an einem Seil. Er musste nur nach oben sehen. Aber er sah nicht nach oben. Über ihm zog ein Flugzeug einen Kondensstreifen in den Himmel.
David hob das Fahrrad auf. Der Lenker war verbogen. Herr Gärtner zündete die Zigarette an und schob sie in den Mundwinkel.
„Das reparier ich dir“, sagte er, winkte ihn mit beiden Händen heran und hob das Fahrrad über den Zaun. „Komm rüber.“
Die Frau kam in einem Rollstuhl auf die Terrasse herausgefahren.
Für eine Sekunde hielt David die Luft an. Ihre Beine waren erstaunlich wohl geformt, zu Hut und kurzem Rock trug sie eine große Sonnenbrille.
„Meine Frau“, sagte Herr Gärtner. David nickte. Eins zu null für Katja. Er wusste, dass sie ihm die Zunge herausstreckte.
Herr Gärtner trug seine Frau in einen Liegestuhl unter der Trauerweide. Sie lächelte David zu. Er taumelte kaum merklich, als hätte sich ein unsichtbares Lasso sanft um seine Lenden geringelt. Dann spitzte er die Ohren. Schritte auf dem Kies. Knacken in den Brombeerbüschen. Die Zweige wurden zur Seite geschoben. Als Katja auf dem Rasen erschien, hatte sie Blätter und kleine Äste im Haar.
„Namaste. Ich bin Katja“, rief sie Frau Gärtner von Weitem zu und legte die Hände vor der Brust zusammen. Frau Gärtner blickte von ihrer Zeitschrift auf, nickte und lächelte.
„Ich wollte mit euch Einstand feiern“, fuhr Katja fort. „Mögt ihr zum Tee hochkommen?“
Herr Gärtner räusperte sich. „Meine Frau spricht leider nur japanisch.“
„Ach. Sagt man da nicht auch Namaste? Na ja, egal. Ich wollte sowieso einen Kuchen backen, mögt ihr Karottenkuchen?“
„Wir sind die nächsten Tage leider sehr beschäftigt“, sagte Herr Gärtner. „Der Umzug. Der Garten. Na ja. Sie kennen das ja selbst.“
„Du. Ich bin Katja. Schon vergessen?“
„Katja.“
„Kein Stress. Ich verstehe das schon. Ist ja auch nicht so einfach alles.“ Sie sah zur Trauerweide hinüber.
David fragte sich, ob Frau Gärtner merkte, dass über sie geredet wurde. Aber sie sah aus wie jemand, dem das gar nichts ausmachte. Sie wusste, was es hieß, nicht dazu zu gehören, das Mitleid, den Spott und die Ungeduld zu ertragen. Und trotzdem schien das alles an ihr abzuprallen.
„Oh Mann, Katja“, begann David auf dem Weg zurück ins Haus. „Sie sitzt im R-Rollstuhl.“
„Na und? Ich hab da keine Vorurteile, David.“
„Aber wie s-soll sie denn in den ersten Stock k-kommen?“
„Er kann sie doch tragen.“ Sie blieb stehen und kramte in ihrer bestickten Tasche nach dem Schlüssel. „Ich glaube, er wäre gerne gekommen, aber sie wollte nicht, weil sie nur japanisch spricht“, sagte sie, deutete einen Knicks an und zwinkerte David zu. „Gleichstand, mein Schatz. Bin gespannt, wer mit der nächsten Vermutung Recht hat. Ich sag, die haben was zu verbergen.“
„Geht das auch schn-neller?“ David klatschte sich auf den Oberarm. „Ich bin schon völlig zerstochen.“
„Wenn er dir das Fahrrad repariert, kannst du ja im Garten mithelfen. Ich weiß, dass du das hasst. Aber Geben und Nehmen. Du verstehst.“
„Kein Problem.“
Sie riss gespielt die Augen auf. „Da scheint aber jemand erwachsen zu werden. Geht doch.“
Herr Gärtner erklärte, dass die Baumwurzeln überschüssiges Nitrat aus dem Boden aufnähmen und welche Bäume in Japan wuchsen, in Australien und China. Er goss David Kaffee aus einer Thermoskanne ein und gab ihm einen Strohhut, weil es bald heiß werden würde. Sein freier Oberkörper glänzte in der Sonne, jeder Muskel schien in Bewegung zu sein.
David nahm den Spaten und begann zu graben. Es dauerte nicht lange, bis er sich fühlte, als hätte er die Nacht durchgefeiert. Herr Gärtner ließ ihn leichtere Arbeiten machen, erst Unkraut jäten, dann harken. Alle fünfzehn Minuten klingelte der Wecker auf seinem Handy.
„Wasser“, sagte er und reichte David eine Feldflasche. „Willst du dich hinlegen?“
David schüttelte den Kopf. Katja räucherte die Wohnung aus. Das tat sie immer, bevor sie zu einem ihrer Eso-Kurse ging. Sie wollte in eine reine Energie zurückkehren. Der Gestank hing noch Tage in der Luft.
In der Mittagspause ging Herr Gärtner ins Haus, um Liegestühle und mehr Wasser zu holen. David legte sich unter die Trauerweide, schlug die Füße übereinander, zog sich den Hut ins Gesicht und döste.
Nach einiger Zeit raffte er sich auf. Eine Hitzewelle schlug ihm ins Gesicht, vor seinen Augen flimmerte die Luft. Gleichzeitig sah er Herrn Gärtner gestochen scharf in den Garten kommen, als würde seine Gestalt aus einer verschwommenen Erinnerung heraustreten, seine Frau auf dem Arm. Ihr weißer Seidenschal hob sich im Wind.
Ein Adrenalinstrahl schoss David bis in die Zehenspitzen. Er sprang auf, kniete sich vors Beet und rupfte Unkraut, bis der Abend kam und die Trauerweide von Krähen bevölkert wurde. Herr Gärtner trug seine Frau zurück ins Haus.
„Sie graben die Keime aus und fressen die Jungtriebe“, sagte er, während er die Krähen mit einem Katapult beschoss. „In anderen Ländern werden die mit Luftgewehren abgeknallt.“
„Heute brauchst du eine Pause“, sagte Herr Gärtner zwei Tage später. „Ich habe dein Fahrrad repariert.“
„D-Danke. Ich helfe gerne.“
„Ist deine Mutter schon wieder da?“
„Heute Abend.“ David zögerte einen Moment, als würde sich das Loch, das sich in ihm auftat, dadurch wieder schließen. Dann machte er kehrt und trottete in Richtung Haus.
„David!“ Herr Gärtner winkte ihn zurück und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Wenn du reden willst ... Also ... ich hör dir immer zu, David.“
„Da-hanke.“
Den Rest des Tages verbrachte David im Zimmer und starrte an die Decke. Er versuchte an Berlin zu denken, aber Frau Gärtners Bild schob sich immer wieder vor sein inneres Auge. Es war bereits drei Uhr morgens, als er in die Küche schlich, sich im Dunkeln an den Tisch setzte und dem Quaken der Frösche zuhörte. Katja war vor wenigen Stunden zurückgekommen und gleich in ihrem Zimmer verschwunden. Ihm war keine Zeit geblieben herauszufinden, ob sie schlecht gelaunt war oder noch nachspüren wollte. Jedenfalls konnte er sie nicht mehr nach dem Taschengeld fragen. Sein Bifi-Vorrat musste aufgestockt werden.
Auf dem Stuhl neben ihm zeichneten sich die Umrisse ihrer Tasche ab. Er lauschte in die Dunkelheit und zog die Tasche auf seinen Schoß. Er würde nur fünf Euro nehmen. Und er würde es ihr sagen.
Mit zitternden Händen zündete er die Petroleumlampe an und fischte einen Schein aus Katjas Geldbeutel. Als er die Tasche schließen wollte, rutschte sie von seinen Knien. Er hielt die Luft an. Frösche. Sonst nichts. Auf dem Boden lag ein Brief. Er hob ihn auf und richtete die Lampe auf den Umschlag. Der Brief war noch zu. Abgestempelt vor einer Woche. Herr Schneider. Der Vermieter.
David hielt den Umschlag gegen das Licht, als hoffte er, dadurch den Inhalt lesen zu können. Dann stopfte er ihn mit dem Geldbeutel in die Tasche zurück.
Als er mittags in die Küche kam, hing ein Zettel an der Kühlschranktür unter dem Smiley-Magneten.
Guten Morgen lieber David,
meditiere über folgenden Satz:
Realität ist nur eine Illusion, Zeit ist nur eine Illusion, alles was wir haben, ist das Hier und Jetzt.
Ich umarme dich von ganzem Herzen.
Katja.
David zeigte dem Zettel den Mittelfinger und trat ans Fenster. Unten kam Herr Gärtner aus dem Haus marschiert, ein frisches Polohemd am Leib. Er goss seiner Frau Tee ein, strich ihr über die Wange und rückte den Liegestuhl so lange zurecht, bis die Armlehne exakt neben ihrer endete.
Einen Moment später zuckte David zusammen, weil Katja neben ihm am Fenster stand. Er hatte sie gar nicht kommen hören, nur den Luftzug ihres Kleides gespürt.
„Irgendetwas stimmt nicht mit der“, sagte Katja, als sie in den Garten hinabblickte. „Sie hat eine ganz eigenartige Energie. Und dann dieser Hut!“
David schwieg und beobachtete seine Mutter aus den Augenwinkeln. Wie dünn sie war. Als würde sie jeden Moment in der Mitte durchbrechen und ihr Oberkörper lautlos aus dem Fenster auf den Rasen segeln.
„Ka-Ka-Katja. Ich ha-habe g-ges-tern N-...“
Vogelgezwitscher füllte den Raum. Die Türklingel.
Während Katja ihre Yogaschüler begrüßte, zog David sich in sein Zimmer zurück und angelte nach der letzten Bifi unter dem Bett. Sie war weg. Er sprang auf und trat so lange gegen die Bettkante, bis Frau Gärtners Bild in seinem Kopf erschien und ihm zulächelte.
Als er erwachte, fiel das fahle Licht der Morgendämmerung in den Raum. Irgendwo krähte ein Hahn. Katja stand in ihrem weißen Spitzennachthemd vor Davids Bett, das Haar zerzaust, die Augen geschwollen.
„David, es klappt nicht“, flüsterte sie mit hängendem Kopf.
David blinzelte sie an und setzte sich auf.
„Es klappt nicht, David.“ Sie kam zu ihm unter die Decke und schlang die Arme um seinen Hals. Ihr Oberkörper zuckte. Während David ihr über den Rücken strich, schluchzte sie immer lauter. „Warum kann ich nicht einfach glücklich sein?“ Sie schnäuzte in ihr Spitzentaschentuch. „Ich glaub, es ist das Haus. Wir müssen ...“
„Nein.“
„Wie. Nein.“
„Es ist nicht das Ha-Haus.“
„Du willst hier doch immer weg. Und du hast Recht. Seit wir hier sind, muss irgendwas schief gelaufen sein.“
„Es läuft doch immer was schief. Sonst wären wir noch in Berlin.“
„Was ist denn auf einmal los? Erzähl mir nicht, dass du plötzlich gerne im Garten arbeitest.“
„Es ist besser, als ich da-dachte.“
Sie strich ihm über die Wange. „Ist schon gut, mein Feiner. Ich freue mich ja, dass es dir Spaß macht. Vielleicht kannst du ja auch anderen Nachbarn helfen und ein bisschen Geld dazu verdienen.“
Kurz darauf schlief sie ein. David zwang sich, wach zu bleiben, um rechtzeitig im Garten zu sein. Der Brief ging ihm durch den Kopf, und dass er ein neues Bifi-Versteck finden musste. Und immer wieder Frau Gärtners Lächeln.
Der Platz neben ihm war leer, als er die Augen aufschlug. Seine Mutter chantete im Nebenzimmer mit ihren Schülern. Er sah auf den Wecker. Sechs. Wieso gab Katja schon so früh eine Yogastunde? Er fuhr hoch. Das musste der Achtzehn Uhr-Kurs sein. Sekunden später stand er am Küchenfenster. Im Garten war niemand.
Er streifte Jeans und T-Shirt über und fand sich an der Haustür wieder, schloss sie leise und schlich die Treppe hinunter. Über jede knarzende Stufe stieg er hinweg. Eine Zeit lang blieb er vor der Fensterbank stehen und blätterte mit fahrigen Händen in Katjas Yogabroschüren. Sein Magen zog sich zusammen und auseinander.
Bevor er klingelte, zögerte er einen Moment. Kurz sah es so aus, als wäre niemand zu Hause, aber dann öffnete Herr Gärtner die Tür. Er sah erstaunt aus. David murmelte eine Entschuldigung, weil er tagsüber nicht geholfen hatte. Herr Gärtner winkte ab.
„Soll ja nicht in Zwang ausarten“, sagte er.
Die Sekunden verstrichen. Dann bat Herr Gärtner David herein. Davids Puls raste. Gleich würde er neben Frau Gärtner am Tisch sitzen und zum ersten Mal ihren Geruch einatmen. So nah war er ihr noch nie gekommen. Als er seine Schuhe auszog, sah er ihre Sandalen vor dem Schuhschrank stehen.
„Was möchtest du trinken? Cola?“ Herr Gärtner ging in die Küche. David nahm eine Sandale und stellte sie zwischen seine Sneakers. Den anderen an den Rand. Sie sahen aus wie Kinderschuhe.
„Es tut mir leid, dass es hier so aussieht“, sagte Herr Gärtner, als David das Wohnzimmer betrat. „Meine Frau fühlt sich nicht wohl und hat sich hingelegt.“
David spürte einen Kloß im Hals, zugleich war er verwundert. Kein Staubkorn zeigte sich auf der dunkelbraunen Auslegware, die Möbel waren mit Plastik überzogen. Es schmiegte sich eng um den Wohnzimmerschrank aus Kirschholz. Die Bücher, Wimpel und Bilderrahmen waren einzeln umspannt.
„Ist hygienischer“, sagte Herr Gärtner.
David nickte und musste an Katja denken, die bei dem Anblick von Plastik schreiend aus der Wohnung gelaufen wäre.
Vorsichtig setzte er sich auf das Bauernsofa. Das Knistern kam ihm trotzdem viel zu laut vor. Während er sich die Handflächen an den Shorts abwischte, betrachtete er den bunten Plastikblumenstrauß, der in einem rosa Plastiktopf vor ihm auf dem Tisch stand. Er hätte Frau Gärtner mehr Geschmack zugetraut. Draußen schrie eine Krähe.
Herr Gärtner klopfte gegen das Barometer. Keine Aussicht auf Regen.
Er weiß, warum ich hier bin, dachte David und stürzte die Cola in großen Schlucken hinunter. Was habe ich mir auch dabei gedacht?
Weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte, fragte er nach der Toilette. Vielleicht würde er Frau Gärtner ja zufällig im Flur begegnen.
„Zweite Tür rechts“, sagte Herr Gärtner.
Als David die Badezimmertür hinter sich geschlossen hatte, lehnte er sich dagegen und atmete auf. Die behindertengerechte Toilette war ebenfalls mit Plastik umspannt. Aber noch etwas kam ihm merkwürdig vor. Auf der Konsole stand ein Rasierpinsel, eine Dose Rasierschaum und ein Axe-Männerdeo. Daneben hingen Becher und Zahnbürste in einer Chromhalterung. Keine Schminksachen, keine Cremes, nichts, was auf eine Frau hingedeutet hätte. Im Schrank nur weiße Handtücher, in der Dusche ein Stück Kernseife.
„Ich muss jetzt g-gehen“, sagte David, als er zurück ins Wohnzimmer kam.
„Schon gut, David. Wir sehen uns morgen.“
Es war noch hell genug, um einmal um den See zu fahren. David trat ins Freie. Eine Weile blieb er vor der Haustür stehen und atmete durch. Dann schnappte er sich sein Fahrrad, das an der Regentonne lehnte. Er wollte es gerade auf den Bürgersteig schieben, als er am Arm festgehalten wurde.
„Was ist mit deiner Mutter?“ Der Vermieter glotzte ihn aus großen Augen hinter dicken Brillengläsern an.
„W-Wieso?“
„Zwei Monate seid ihr jetzt im Mietrückstand.“
David zuckte die Achseln.
„Ich wusste gleich, dass das Ärger gibt mit alleinstehenden Frauen.“ Der Vermieter hob den Zeigefinger. „Ich will hier nur seriöse Leute. So wie Herr Gärtner und seine Chinesin. Hast du das verstanden?“
In der Nacht wachte David auf und sah Katja im Türrahmen stehen. Er musste sie zur Rede stellen, auch wenn sie wieder heulte.
Dann merkte er, dass er nur geträumt hatte. Er wachte noch ein paarmal auf, aber im Nebenzimmer blieb es still.
Am frühen Morgen bat Katja Herrn Gärtner, sie in die Stadt zu fahren. Als er den Pick Up aus der Garage holte, stand sie neben David auf dem Bürgersteig, sah sich um und flüsterte: „Ich treffe mich mit jemandem.“ David rollte mit den Augen. „Nein, nicht was du denkst“, sagte Katja. „Er ist Wünschelrutengänger. Ich möchte ihn kennenlernen, und dann soll er sich das Haus ansehen.“
„Oh M-Mann, K-Katja. W-Wieviel Geld gi-bst du ...“
„Pssst.“ Sie legte den Finger an die Lippen, raffte ihren Stufenrock und stieg zu Herrn Gärtner in den Wagen.
Als der Pick Up um die Ecke bog, zog sich der Himmel zu. Die Hitze wurde drückend. David nahm zwei Stufen auf einmal und rannte zum Küchenfenster. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht, im Mund hatte er einen salzigen Geschmack. Frau Gärtner saß in ihrem Liegestuhl und las in einer Zeitschrift. David klammerte sich an die Fensterbank und wäre am liebsten so lange weitergerannt, bis die Anspannung in seinem Inneren verschwand. Die Worte überschwemmten ihn. Endlich war der Moment gekommen, ihr alles zu erzählen.
Es verging sicher eine halbe Stunde, bis er sich rühren konnte. In der Ferne hörte er dumpfes Donnergrollen und fuchtelte ein paar Fliegen zur Seite. Sein Blick fixierte Frau Gärtners Hut und glitt langsam an ihren Beinen hinab. Erst jetzt bemerkte er, dass er sie nie umblättern sah. Auch die Fliegen schienen ihr nichts auszumachen.
Ein Blitz zuckte vom Himmel, der von schepperndem Donner begleitet wurde. Der Wind frischte auf und ging in einen Orkan über. Eine Bö fegte Frau Gärtner den Hut vom Kopf, in der Wohnung schlugen die Türen zu. David umklammerte den Griff des offenen Fensters.
„Frau Gärtner!“ Ihr Hut segelte durch die Luft, die Zweige der Trauerweide fegten über den Rasen und ihr ins Gesicht. Es begann zu gießen.
„Frau Gärtner!“ Er knallte das Fenster zu und rannte in den Garten hinunter. Innerhalb von Sekunden war er durchnässt. Der Basttisch holperte über den Rasen, die Rosen knickten ab. Unter seinem Fuß spürte er etwas zerbrechen. Frau Gärtners Sonnenbrille.
Als er sie erreichte, blickten ihre Augen starr in die Ferne. Erst dachte er, sie wäre tot, dann hörte er sie wimmern und fiel neben ihr auf die Knie.
„Frau Gärtner!“ Seine Lungen schmerzten, er bekam kaum Luft. „Sind Sie verletzt?“
Sie nickte, und als er sich zu ihr hinunterbeugte, sagte sie: „Hallo Geliebter. Möchtest du Tee?“
David wischte sich das Wasser aus den Augen, blickte sich gehetzt um, aber es war niemand da, der ihm helfen konnte. Frau Gärtner nickte immer noch.
„Hallo Geliebter. Möchtest du Tee? Hallo Geliebter. Möchtest du Tee?“ Immer und immer wieder sagte sie das, und ihre Stimme klang seltsam blechern.
David starrte sie mit aufgerissenen Augen an, taumelte rückwärts und übergab sich in die Haselnusssträucher. Das Erbrochene flog Frau Gärtner ins Gesicht, bevor es vom Regen fortgespült wurde. David stammelte Entschuldigungen, aber sie wurden vom Wind verschluckt. Als er zu ihr zurückstolperte, hing ein gelber Schleimfaden an ihren Lippen. „Hallo Geliebter. Möchtest du Tee?“
Am späten Nachmittag stürmte Katja in die Wohnung. Ihr nasser Rock klebte an den Beinen.
„Wir ziehen hier weg!“ Sie riss die Türen des Kleiderschranks in ihrem Zimmer auf und warf Unterwäsche, Röcke und Hosen auf den Boden.
„Ka-Ka-Katja, du ...“
„Wir hatten einen Unfall, David. Einen Unfall! Das geht nicht mehr mit rechten Dingen zu.“
David hielt sie an den Armen fest. „Wo ist Herr Gärtner?“
„Lass mich!“ Katja versuchte sich aus seinem Griff zu winden, schaffte es den linken Arm zu befreien und schlug mit dem Handrücken gegen die Schranktür.
„Wo ist Herr Gärtner, Mama?“
Mit zitternden Fingern strich sie sich das Haar hinters Ohr und begann die Unterwäsche auf dem Boden zu sortieren.
„Die ganze Zeit hat er davon geredet, dass er seine Frau retten muss. Er war richtig panisch“, sagte sie. „Auf der Autobahn hat er die Kontrolle über den Wagen verloren und ist in die Leitplanke gekracht.“
„Wo ist er, Mama?“
„Fragst du auch mal, wie es mir geht? Und nenn mich nicht Mama!“
„Aber das bist du doch.“
„Nein!“
David sah seine Mutter mit offenem Mund an. Dann sprang er auf und lief aus dem Zimmer. Als er im Flur war, hörte er sie aufheulen wie eine Sirene. Während sie ihm in die Küche folgte, krallte sie sich an seiner Schulter fest und bettelte darum, nicht verlassen zu werden. Er schüttelte sie ab, drückte sie auf einen Stuhl und wartete darauf, dass sie ruhiger wurde, gleichmäßiger, bis sie nur noch ein paarmal kurz schniefte und ihre Tränen trocknete.
„Geh wenigstens runter zu Frau Gärtner und sag ihr, dass ihr Mann mit gebrochenem Bein im Kreiskrankenhaus liegt“, begann sie mit unbewegter Miene. „Wenn du mich schon nicht in den Arm nimmst.“
Das Herz klopfte David bis zum Hals. Er ballte die Hände zu Fäusten und zog den Rotz hoch. Dann krächzte er die ganze Geschichte heraus, ohne zu stocken.
Danach wurde es still. Er hörte ein Pfeifen in den Ohren. Eine ganze Minute verstrich.
„David, es tut mir leid“, sagte Katja. Sie streckte die Hand nach ihm aus.
Einen Moment lang sah er sie nur an. Wie Schnappschüsse blitzten Bilder in seinem Kopf auf. Frau Gärtner auf dem Rasen liegend, ihm Tee anbietend, Sturm und Regen, und dann der blaue Himmel, Frau Gärtner in ihrem Liegestuhl, lächelnd in einer Zeitschrift blätternd, während die Sonne ihre Beine bräunte. Er sprang auf, lief in sein Zimmer und stopfte ein paar T-Shirts in seinen Tagesrucksack. Katja folgte ihm.
„Der Rucksack ist zu klein“, sagte sie und versuchte ihn an sich zu nehmen. „Du musst deinen Koffer ...“ Er schob sie zur Seite und marschierte zur Wohnungstür.
„Wo willst du hin?“ Katja vertrat ihm den Weg.
„Lass mich durch.“
„Sei doch vernünftig, David. Du weißt, dass du nicht zu deinem Vater kannst.“
David sah ihr fest in die Augen. „Ich m-muss ihr helfen“, sagte er. „Sie ist doch ganz al-lein da unten.“
„David.“
„Irgendjemand muss sich ja um sie kümmern.“
„David. Diese Frau ist nicht echt.“ Sie trat einen Schritt zur Seite, atmete tief durch. „Lass uns reden, ja? Bitte.“
Er zögerte einen Moment, drängte sich an ihr vorbei und zog die Tür hinter sich zu.