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Die Plantage
Die Plantage
(c) by Markus Böhme 2005
1
„Mann“, sagte Kevin, „die Eichen hier sind riesig.“
Dean hielt die Hand an die Stirn, um seine Augen gegen das Sonnenlicht abzuschirmen. „Dabei sehen sie gar nicht aus wie Eichen – eher wie uralte Mammutbäume, wie die aus Jurassic Park.“
„Kevin, Dean! Kommt, wir sehen uns das Herrenhaus an!“ Die Stimme ihrer Mutter ließ die beiden Knaben kurz in die Richtung blicken, aus der sie kam, dann wandten sie dem großen weißen Haus mit den mächtigen Säulen wieder den Rücken zu.
„Interessiert dich diese alte Hütte?“ fragte Kevin und ließ den Blick über die weite grüne Wiese schweifen, die sich vor ihnen unendlich weit auszudehnen schien.
„Nicht die Bohne. Zeig mal her, was gibt’s denn hier noch so zu sehen?“ Mit diesen Worten riss Dean seinem jüngeren Bruder die Touristenkarte aus der Hand und klappte sie auf.
„Mal seh’n“, sagte er und betrachtete das Blatt Papier, auf dem in großen, grünen Lettern „Oak Alley Plantage“ geschrieben war.
„Wir befinden uns hier, beim Herrenhaus.“ Dean zeigte mit dem Finger auf das kleine ebenfalls grün eingezeichnete Haus, dann hob er seinen Kopf und blickte durch die großen, alten Eichen hindurch. „Dort drüben liegt der ehemalige Friedhof.“
„Wer ist dort begraben?“, fragte Kevin. Er war zwölf Jahre alt und nur zwei Jahre jünger als sein Bruder. Gerade am Anfang der Pubertät konnten aber zwei Jahre eine ganze Menge sein, und Dean rollte als Reaktion auf die Frage seines Bruders mit den Augen. „Mann, Kevin“, sagte er. „Was glaubst du denn, wer? Bestimmt nicht der Hausherr und seine Frau.“
„Die Sklaven?“ Kevin starrte in die Richtung, in die sein großer Bruder geblickt hatte, konnte aber nirgendwo Grabsteine oder Kreuze sehen.
„Natürlich die Sklaven. Deshalb sind dort auch keine Grabsteine. Die wurden wahrscheinlich einfach unter die Erde gelegt und fertig.“
„Bäh“, sagte Kevin. „Das ist ja langweilig. Was gibt’s sonst noch?“
„Kevin, Dean!“ Ihre Mutter wurde langsam ungeduldig. Sie stand im Schatten des großen Hauses, wo eine Frau in blauem Kleid und mit einer seltsamen Frisur bereits angefangen hatte, Geschichten über das Haus und seine Entstehung vor 150 Jahren zu erzählen. „Kommt endlich, die Führung fängt bereits an!“
„Nee Mum, wir kommen nicht mit!“, rief Dean. „Wir bleiben an der Sonne und warten hier draußen auf euch!“
„Okay, aber stellt nichts an!“
„Mum!“, rief Kevin, „Du kannst uns trotzdem mit ins Gästebuch eintragen!“
Die Mutter nickte, dann drehte sie sich um und versank zusammen mit ihrer Schwester in der Welt des 19. Jahrhunderts.
„Also“, sagte Dean und wandte sich wieder der Karte zu. „Es gibt einen Souvenirladen, ein Kaffeehaus, den Friedhof, die ehemaligen Zuckerfelder, das Küchengebäude, die Sklavenhütten, den Wasserbr…“
„Die Sklavenhütten?“ Kevin machte große Augen. „Du meinst die Räume, in denen die Sklaven gewohnt haben, als sie hier gearbeitet haben?“
„Na ja, gewohnt…sie haben zumindest dort drinnen geschlafen. Sehen wir’s uns einfach an!“
„Yeah!“
2
Fünf Minuten später befanden sich Dean und Kevin Procter am östlichen Ende des riesigen Anwesens der Oak Alley Plantage. Sie hatten sich über den Touristenpfad von ihrer Mutter und ihrer Tante und dem schlossartigen alten Herrenhaus entfernt, waren am Souvenirladen vorbeigekommen und hatten das Kaffeehäuschen passiert. Nun standen sie am Ende des Fußweges, berührten mit ihren Händen die Absperrung und blickten über die Wiese auf die acht bis zehn kleinen, teilweise verfallenen Hütten. Sie waren komplett aus Holz erbaut und standen im Schatten der riesigen Eichen, die wie mächtige Götterstatuen empor ragten und alles andere klein und nichtig erscheinen ließen.
„Dort haben sie also gewohnt!“, sagte Kevin.
„Geschlafen, Kevin, geschlafen.“ Dean wandte den Blick nicht von den Hütten ab, während er zu seinem Bruder sprach. „Die haben tagsüber so schwer am Zuckerfeld geschuftet, dass sie abends nur noch hundemüde ins Bett fielen. Und dabei war die Arbeit vielleicht noch gar nicht getan – einige von ihnen mussten abends noch zusätzlich im Herrenhaus schuften.“
Kevin sah zu seinem Bruder auf, der gute zehn Zentimeter größer war als er. „Woher weißt du das alles, Dean?“
„Hab’ auf der Fahrt hierher den Führer gelesen. Solltest du auch mal tun, kleiner Stinker. Lesen kannst du ja bereits.“
„Ha ha.“
„Was meinst du, gehen wir ’rüber?“
„Wie ’rüber? Zu den Hütten?“
„Nein, zur Mama. Natürlich zu den Hütten.“ Dean warf einen Blick über die Schulter. Es war Mittag, vielleicht halb eins, und die meisten Touristen, die nicht gerade an einer Führung durchs Herrenhaus teilnahmen, befanden sich im Café und stopften irgendwelche Snacks in sich hinein. Außerdem zählte der Mai noch zur Vorsaison – die großen Massen an Touristen würden erst mit Anfang der Sommerferien hier her, an den südlichsten Zipfel des Mississippi kommen.
„Kein Mensch zu sehen“, sagte Dean. „Komm!“
Mit diesen Worten schwang er ein Bein über die Absperrung, die aus nicht mehr als einem simplen Seil bestand, und befand sich einen Augeblick später bereits auf der anderen Seite. „Mach’ schon!“
Kevin stellte sich etwas ungeschickter an, schaffte es aber schließlich auch von dem gepflasterten Gehweg auf die weiche, grüne Wiese.
Dann liefen sie beide über die Wiese, in die Arme der gewaltigen Eichen, direkt auf die alten Hütten der Sklaven zu.
3
Dean wagte es natürlich als erster – als älterer Bruder hatte man eine gewisse Verantwortung, ein gewisses Klischee, dem man gerecht werden musste, und somit einen Ruf zu verlieren. Innerlich zögernd, nach außen hin aber fest entschlossen betrat er eine der hinteren Hütten des kleinen Sklavendorfes. Das alte Holz knarrte unter dem Gewicht des Vierzehnjährigen.
„Wie ist es?“ fragte Kevin ungeduldig von hinten. „Sag schon, siehst du was?“
„Es stinkt!“ Dean machte einen Schritt nach vorne, wobei der Boden krächzte, als wäre er hundert Jahre alt. Einen kurzen Augenblick später erinnerte Dean sich daran, dass die Hütten tatsächlich hundert und sogar noch mehr Jahre alt waren. „Es stinkt nach Lack. Die haben hier alles wasserfest lackiert, jede Wette!“
Dean drehte sich um. „Willst du nicht endlich ’reinkommen?“
Dann betrat auch Kevin die Hütte.
Es war dunkler hier drin, wenn auch nicht komplett finster. Die Wände hatten faustgroße Löcher, und auch von den Dachschindeln fehlten einige, wodurch das Sonnenlicht die Hüttenluft zerschnitt wie Laserstrahlen. Die Hütte war größer als sie von außen ausgesehen hatte – dreißig Quadratmeter schätzte Kevin, verließ sich aber nicht darauf, dass er es richtig einschätzen konnte. Es war jedenfalls groß. Aus mehreren Brettern zusammengenagelte Gestelle befanden sich auf beiden Seiten der Hütten, dazwischen war so etwas wie ein Gang entstanden.
„Das müssen die Betten gewesen sein“, sagte Dean. „Hier haben sie geschlafen.“
„Mann, wie viel Betten sind denn das?“, fragte Kevin und begann zu zählen, doch es war unmöglich zu sagen, da die meisten Bretter bereits fehlten und die Betten nur noch vereinzelt als solche zu erkennen waren.
„Dort!“ Dean zeigte mit dem Finger in den hinteren Teil der Hütte. Kevin konnte nichts erkennen, doch Dean hatte sich bereits auf den Weg über die morschen Dielen in den hinteren Hüttenteil gemacht. „Komm mit!“
Die Nike-Schuhe der beiden Brüder hinterließen Abdrücke im Staub des Bodens und ließen das Holz unter sich knarren und knacksen. Kevin folgte Dean nach hinten, und nach etwa zehn Schritten war ihre Reise beendet. Jetzt konnte auch er sehen, was Dean nach hinten gelockt hatte – ein Kasten, eine Art Kommode, die an der hinteren Wand der Hütte angebracht war.
„Hier haben die Sklaven wohl ihre Sachen verstaut!“, sagte Dean und langte nach einem Griff, der zu einer Art Schublade gehört. Der Griff fühlte sich warm an, und sehr morsch, dennoch zog Dean daran und war erstaunt, wie leicht sich die Schublade öffnen ließ. Die Kommode wackelte etwas hin und her, und Dean fragte sich, ob man von außen wohl sah, dass die ganze Hütte schwankte.
„Und? Was ist darin?“ Kevin trat an Dean heran und sie blickten zusammen in die Schublade hinein: sie war leer.
„Mensch ist das langweilig!“, sagte er und entfernte sich wieder von der Kommode.
Dean schob die Lade wieder hinein. „Was hast du denn gedacht? Dass wir Schmuck von Sklaven finden?“ Er musste lachen.
Dean vernahm ein lautes Knacksen, dann schrie sein Bruder auf: „Auuuuuuu!“
Blitzartig drehte er sich um. „Kevin!“
„Scheiße!“, sagte Kevin. „Ich bin eingebrochen!“ Er war mit seinem rechten Fuß wahrscheinlich auf ein extrem schwaches Holzstück getreten, das unter seinem Gewicht nachgegeben hatte. Jetzt steckte er bis zum Knöchel in dem kleinen Loch und stützte sich mit den Händen an den Bettgestellen links und rechts ab.
„Pass auf!“, sagte Dean und kam ihm hinterher. „Nicht bewegen, sonst ziehst du dir nur einen Holzsplitter ein!“
„Hab ich schon, glaub’ ich.“ Kevin atmete laut aus. „Hilf mir da ’raus!“
„Schon dabei!“ Dean kniete sich hinter Kevin nieder und betrachtete das Loch. Er erinnerte sich daran, im Touristenführer gelesen zu haben, dass die Siedler hier im südlichen Mississippidelta ihre Hütten und Häuser auf Holzbänken errichten mussten, da der Untergrund weich war und großteils aus Schlamm und Sumpfland bestand. Deshalb hatten sogar die Sklaven hier doppelte Dielen gehabt.
Der Turnschuh seines Bruders steckte nun unter der Diele, und das abgesplitterte Holz drohte sich bei jeder noch so kleinen Bewegung in den weißen Wollsocken zu bohren. Dean fasste in das Loch, umschloss das Ende des abgesplitterten Brettes mit seiner Faust und zog daran so fest er konnte.
„Auuuuuuaaa!“, schrie Kevin, dann brach das morsche Holzstück gänzlich ab und Dean fiel nach hinten.
„Pssssssssst!“, sagte er. „Sei leise, Mann! Du kannst deinen Fuß jetzt rausziehen.“
Kevin tat wie ihm geheißen, und mit einem vorsichtigen Ruck konnte er seinen Fuß befreien. Er drehte sich augenblicklich zu Dean um. „Danke, Dean! Du hast mich befreit!“
Aber Dean hörte ihn nicht. Er kniete vor dem Loch, das Kevins Schuh in den Boden gerissen hatte, und starrte in die Dunkelheit hinab.
„Was…?“ fragte Kevin, dann ging auch er in die Knie und versuchte zu erkennen, was seinen Bruder dermaßen faszinierte.
„Kevin…“ Dean kniff seine Augen zusammen und führte sein Gesicht noch weiter an das Loch heran. „Da unten ist etwas.“
4
„Was zum Teufel ist das?“, fragte Kevin seinen großen Bruder, der am morschen Holzboden der alten Sklavenhütte kniete und ein kleines, hölzernes Ding in den Händen hielt.
„Sieht aus wie eine Schatulle oder so was.“ Dean hielt das Ding an sein Ohr und schüttelte es.
„Mach es auf!“
„Bin schon dabei“, sagte Dean und stellte das Ding, das zu groß für ein Schmuckkästchen, aber zu klein für eine Kiste war, vor sich auf den Boden. Es war aus schlichtem Holz, das heller war, als das der Dielen und der Hütte, und hatte keinerlei Verzierungen oder Schlösser. Es war mit einem simplen Verschluss versehen, der mit einer Fingerbewegung geöffnet werden konnte.
Kevin stand auf und trat über das Loch im Boden zu seinem Bruder hinüber, während Dean das Kästchen öffnete.
Geräuschlos löste sich der Deckel von der Schatulle, und zum Vorschein kam ein kleines viereckiges Ding, das Dean erst beim zweiten Hinsehen erkannte.
„Das ist ein Buch“, sagt er und griff danach. Kevin sah staunend zu.
Es war tatsächlich ein Buch. Der Einband bestand aus einem weichen, unförmigen Material. Baumrinde, war das erste Wort, das Kevin dazu einfiel.
Dean strich mit der Hand darüber. In der kleinen Schatulle war es vor Staub geschützt gewesen, und anscheinend auch vor Feuchtigkeit, denn das Buch war trocken und spröde.
„Der Einband zerfällt fast“, sagte Dean.
„Mach es auf!“ Kevin blickte abwechselnd auf das Buch und auf seinen Bruder. Vorsichtig öffnete Dean den Einband.
„Mann, das ist sicher hundert Jahre alt!“
Die erste Seite innerhalb des Einbands war bereits gänzlich voll geschrieben. Vollgekritzelt, besserte Dean seinen eigenen Gedanken aus. Die Schrift war mit einer dunklen Flüssigkeit geschrieben worden – vielleicht Tinte, vielleicht aber auch Sirup oder Harz, oder sogar Blut. Dean konnte es unmöglich sagen.
„Was steht da?“, fragte Kevin und beugte sich weiter zu seinem Bruder herüber, um einen besseren Blick auf die Seite zu erlangen.
„Ich kann’s nur schwer lesen.“ Dean kniff seine Augen zusammen und hielt das Buch weiter nach oben, bis das Sonnenlicht, das durch die Löcher in der Hütte fiel, es aufhellte.
„Mein Name ist Anthony Isaac Leandré, und was folgt, ist meine Geschichte“, las Dean.
„Geil!“, rief Kevin. „Ist das geil!“
„Pssssssssst!“ Dean hatte seinen Zeigefinger auf seine Lippen gepresst. „Sei leise, du Idiot. Willst du, dass die Plantagen-Aufsicht uns hier findet?“
Kevin fuhr zusammen. „Nein“, sagte er. „Lies weiter!“
„Ich versuch’s.“
5
„Es ist nicht nur meine Geschichte – hauptsächlich ist es die Geschichte der Oak Alley Plantage und ihres schrecklichen Niedergangs, damals im Juli 1848. Drei Jahre sind es nun her, seit Mr. und Mrs. Dellatour und fast alle ihrer Angestellten ums Leben gekommen waren. Und es ist noch nicht vorbei.
Ich schreibe dies hier, weil ich weiß, dass er zurückkommen wird. Es ist nicht mehr viel Zeit. Ich spüre, dass er schon auf dem Weg hierher ist, dass er näher ist, als es mir lieb ist, und dass er kommen wird, um zu vollenden, was er damals vor drei Jahren begonnen hat. Doch ich möchte von vorne beginnen und die Ereignisse in der Reihenfolge schildern, in der sie sich zugetragen haben.“
6
Dean blätterte die Seite um.
„Mann, das ist ja aufregend!“, sagte Kevin im Flüsterton.
„Die Schrift ist gar nicht so schwer zu entziffern, wie ich angenommen habe. Nur das Papier ist etwas brüchig.“
„Komm schon, lies weiter!“
7
„Ich kam 1840 auf die Oak Alley, nachdem man mich in New Orleans für einen Spottpreis an den Höchstbietenden verkauft hatte. Ich war damals schon Mitte Dreißig und brachte nicht mehr das ein, was ein fünfzehn oder zwanzigjähriger Neger gebracht hätte. Mein Käufer aber schien zufrieden zu sein, und ich wurde mit vier weiteren Sklaven von New Orleans mit dem Schaufelraddampfer zur Plantage gebracht. Natchez, stand in großen, roten Buchstaben auf dem Rumpf des Schiffes. Soweit ich weiß, fährt die Natchez auch heute noch zwischen New Orleans und Memphis den Fluss auf und ab. Die Fahrt dauerte nur ein paar Stunden, aber ich erinnere mich noch gut daran – es war die bisher einzige Mississippifahrt meines Lebens.
Der Mann, der mich und die vier anderen Neger gekauft hatte, war Spanier. Er hieß Fernando und schien ein äußerst höflicher Mensch zu sein. Er beschimpfte uns nicht als Schwarze, wie die Marktschreier am French Market, sondern bezeichnete uns als das, was wir waren – Neger.
Die Natchez legte in der Nähe von Vacherie an – von dort aus waren es nur ein paar hundert Meter bis zur Oak Alley – dem Ort, an dem ich die folgenden dreizehn Jahre verbringen würde – bis zum heutigen Tag habe ich die Plantage nicht wieder verlassen.
Ich habe das Bild noch vor mir, als ich mit gefesselten Händen neben den anderen Sklaven vor Senior Fernando den kleinen Hügel überquerte, und von dort aus die Oak Alley in all ihrer Pracht zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Ein großes Eisentor stellt den Eingang des Anwesens dar, dahinter folgt eine lange Reihe von großen Eichen, die links und rechts zu einer Allee angeordnet sind und den Weg zum Herrenhaus markieren. Am Ende des Weges steht das Haus – weiß, mit mächtigen Säulen, die einen gewaltigen Balkon tragen. Das Gebäude schimmerte in der Abendsonne und erschien mir in diesem Moment mehr als ein Schloss, als ein Herrenhaus. Es war überwältigend.
Doch ich schreibe diese Zeilen hier nicht, um die Schönheit von Oak Alley festzuhalten, sondern um einen Weg zu finden, diese traurige Geschichte in die Welt hinaus zu tragen. Die Geschichte in all ihrer Wahrheit.
Ich hatte mich schnell eingelebt, und war verblüfft, wie man hier im Süden mit uns Negern umging. Wir hatten unsere Arbeit zu verrichten, was meist bedeutete, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang am Feld zu arbeiten. Doch wir wurden nicht an unseren Leistungen gemessen, wie ich das mein Leben lang gewohnt war – auf Oak Alley bekamen alle gleichviel zu Essen, egal, wie viel Zuckerrohre wir geschnitten hatten. Auch unsere Unterkünfte waren in Ordnung – wir hatten ein Dach über dem Kopf, das uns vor Hagel und Donnerschlag schützte, und nur sehr selten wurde einer von uns krank. Hygiene war etwas, dass unsere Herren groß schrieben – wir durften wir uns jeden Abend mit frischem Wasser reinigen.
Der höchste Herr und Besitzer von Oak Alley war Mr. Jacques Telesphor Dellatour. Ihm bekam ich in den ersten Jahren sehr selten zu Gesicht. Ebenso seine künftige Gemahlin, Ms. Celina Pilic, die 1843, drei Jahre nach meiner Ankunft, zu Mrs. Celina Dellatour wurde. Auch sie sah ich anfangs besonders selten.
Mein Aufseher war Aguedo Rodriguez, ein Kreole, also ein spanisch-französischer Mischling aus den Sümpfen. Er behandelte uns Neger hart, aber gerecht, und ich hatte in all den Jahren Feldarbeit nie ein Problem mit ihm. Dann gab es Herve Gaishlain, ein Franzose, der von 1841 bis 48 den Küchenchef mimte, und zwei weitere Küchenangestellte. Senior Iago Fernando war Wirtschafter und persönlicher Berater von Mr. Dellatour – er war es, der immer wieder nach New Orleans reiste, um Ausschau nach neuen, billigen Sklaven zu halten.
Innerhalb des Hauses gab es noch mindestens fünf weitere Angestellte, allesamt weiß, entweder Spanier oder Franzosen. Die Kreolen wurden hauptsächlich als Feldaufseher eingesetzt, und waren selbst eher Sklaven als Angestellte.
Vier Jahre schuftete ich ausschließlich auf dem Feld und ab dem Winter 1844 zusätzlich im Herrenhaus, wobei ich jeden Donnerstagabend frei hatte. Ich half meist dabei, kleinere Hausmeisterarbeiten zu erledigen, manchmal kehrte ich einfach nur die Veranda, oder schlichtete Mr. Dellatours neue Bücher in seine wandhohen Regale ein.
‚Kannst du lesen, Anthony?’, fragte er mich einmal, als er mich dabei ertappte, wie ich ein Buch besonders lange anstarrte, bevor ich es ins Regal stellte.
‚Ja, Sir’, sagte ich. Ich hatte es vor Jahren für meine damalige Herrin lernen müssen. Sie war alt und schwach, und als ihre Augen ihr das Sehen verwehrten, schickte sie mich zum Leseunterricht, um ihr vorlesen zu können. Sie war eine harte, oft gemeine Herrin, aber dass sie mich Lesen lernen ließ, danke ich ihr bis heute. Ich könnte das hier nicht verfassen, wäre sie nicht gewesen.
‚Das ist gut Anthony, sehr gut. Hast du schon einmal eines davon gelesen?’, fragte Mr. Dellatour und deutete auf die Bücher.
‚Nein, Sir, das habe ich leider nicht.’
‚Und würdest du gerne eines davon lesen?’
Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich kannte Mr. Dellatour erst ein paar Monate – eben, seitdem ich im Haus arbeitete – und war mir über seine Güte und sein Streben, selbst aus uns Sklaven bessere Leute zu machen, und unser Leben ebenfalls lebenswerter zu gestalten, nicht bewusst. Meine ehemalige Herrin hatte mir nicht einmal erlaubt, mit meinen schwarzen Händen das Buch anzugreifen, aus dem ich ihr vorlas. Ich musste weiße Handschuhe tragen.
‚Ja, Sir, das würde ich liebend gerne.’
Dellatour lächelte. ‚Dann kannst du dir eines aussuchen. Ich erwarte es in zwei Wochen zurück. Und ich erwarte mir eine Meinung darüber.’
Dann verließ er den Raum, und ließ mich mit etwa zweihundert Büchern alleine.
Von nun an las ich zwei Bücher im Monat – meistens morgens, vor der Arbeit, oder in der Pause zwischen der Feld- und der Hausarbeit. Ich war auf dem besten Wege, ein gebildeter Neger zu werden.
Ein paar Monate später, im Frühjahr 1845, wurde mir die höchste Ehre erteilt, die ein Sklave auf Oak Alley erfahren konnte: ich durfte mich während des Abendessens im Speisesaal der Herren aufhalten. Dort betätigte ich eine Kurbel in der Ecke des Raumes, die ein großes Tuch über dem Tisch hin und her bewegte, das den Speisenden zur Kühlung dienen sollte. Dies war so ziemlich die beste Arbeit auf der Plantage – es war weitaus angenehmer, im kühlen Speisesaal den Gesprächen der hohen Herren zu lauschen, als auf dem Feld in der prallen Sonne Zuckerrohre zu schneiden. Außerdem brachte es weitere Vorteile: durch die jahrelange Anwesenheit im Speisesaal der Herren haben sich meine Sprachkenntnisse deutlich verbessert. Manchmal wurde ich bereits von den anderen Sklaven dumm angesehen, wenn ich während einer Unterhaltung auf Englisch Ausdrücke gebrauchte, die keiner von ihnen verstand.
Durch die Tätigkeit im Speisesaal erfuhr ich 1848 auch erstmals von dem Mann, der bald auf Oak Alley zu Besuch kommen sollte. Ich erinnere mich noch gut an die Worte von Mrs. Dellatour: ‚Jacques, mein Liebster, du sprachst neulich von einem Gast, der uns bald besuchen würde.’
Sie sagte es, während sie das zarte Fleisch mit ihrem Silberbesteck zerteilte. Ich selbst saß in der Ecke und kurbelte. Normalerweise hatten die Sklaven mit dem Rücken zu den speisenden Herren zu stehen, Mr. und Mrs. Dellatour aber legten keinen Wert auf derart unsinnige Regeln, und so saß ich auf einem kleinen Schemel und tat meine Arbeit.
‚Durchaus, Schatz, durchaus.’ Mr. Dellatour tupfte sich die Mundwinkel mit seiner weißen Serviette ab. Er blickte kurz zu Senior Fernando, der neben ihm saß, und wandte sich dann wieder seiner Frau zu.
‚Es ist weniger ein gebetener Gast als ein erduldeter. Iago hat mich nach seiner Rückkehr aus Baton Rouge darüber informiert, dass der Staat Louisiana dieses Jahr erstmals Kontrolleure auf die Plantagen schickt, um sie zu inspizieren.’
‚Inspizieren?’ Mrs. Dellatour kümmerte sich normalerweise weder um die Plantage selbst, noch um irgendwelche wirtschaftlichen Dinge, und so tippe ich, dass ihr Interesse geheuchelt war.
‚Mit inspizieren meine ich, dass Senior Santos, so heißt der gute Mann, sich die Plantage hier genauestens ansehen wird. Er wird kontrollieren, ob die Zuckerrohre in Ordnung sind, ob die Werkzeuge was taugen, ob die Unterkünfte der Sklaven angemessen sind. Nicht zuletzt wird er prüfen, ob das im Vorjahr von uns abgegebene Steuergeld in passender Relation zu den geernteten Rohren steht.’
Als ich am selben Abend auf meiner Pritsche in der Hütte lag, dachte ich darüber nach, was ich gehört hatte: ein Staats-Inspektor aus der Hauptstadt würde kommen, und er würde einige Tage bleiben, um sich unsere Arbeit anzusehen. Ich hatte zwar keine Ahnung von Wirtschaft und noch weniger von gesetzlichen Regelungen (für uns Neger existierte so etwas gar nicht), dachte aber, dass wir Sklaven nichts zu befürchten hatten.
Und so ging das Leben weiter seinen langsamen, müden Gang unter der heißen Julisonne des Südens. Bis zu jenem Tage, als Senior Santos aus Baton Rouge auf Oak Alley eintraf.
8
Es war ein unendlich heißer Nachmittag auf dem Zuckerfeld, was die Arbeit erschwerte, da die Haut vom Schweiß schlüpfrig war, und das Messer einem leicht aus der Hand gleiten konnte. Für mich war bereits um vier Uhr nachmittags Schluss mit der Feldarbeit, da Mr. Dellatour den Sklaven zwei Stunden Pause zwischen Feld- und Hausarbeit gewährte.
Diese beiden Stunden konnte ich nicht ganz so gestalten, wie ich das wollte, da mindestens fünfundvierzig Minuten dafür draufgingen, mich zu reinigen, dann zum Herrenhaus zu gehen und das Hausgewand anzuziehen, zumindest hatte ich aber eine gute Stunde für mich selbst. In meiner Hütte waren zwölf Sklaven untergebracht, und glücklicherweise war ich der einzige davon, der auch Hausarbeit verrichten durfte. Marijo, mein Bettnachbar, hatte vor Jahren auch im Hause gearbeitet, wurde dann aber wegen Schlamperei entlassen und wieder zur Feldarbeit verdonnert.
Meist nutzte ich meine freie Stunde in der Hütte um zu lesen oder zu beten. Im Hochsommer geschah es auch oft genug, dass ich vor Erschöpfung kurz einnickte.
Als ich an jenem Nachmittag vom Feld kam, wollte ich zuerst Naobi in ihrer Hütte besuchen. Sie war schon seit vier Jahren eine der Haussklavinen der Dellatours, wurde aber seit einigen Wochen von der Arbeit verschont – sie war im vierten Monat schwanger. Der Vater war Haiduro, einer der fleißigsten Männer auf der ganzen Plantage und einer der liebenswertesten Freunde, die ich besaß. Die Dellatours befürworteten Beziehungen und Schwangerschaften innerhalb der Sklaven, und ich wusste auch warum, dafür hatte ich bereits zuviel gelesen: Es hielt die Männer ruhig, und bewahrte sie vor Aufständen und Meutereien. Man überlegte es sich zweimal, einen todbringenden Aufstand zu starten, wenn man Frau und Kinder zu verlieren hatte.
‚Hallo Naobi!’ sagte ich, als ich durch die Türe ihrer Hütte trat. Das Mädchen – sie war erst zweiundzwanzig – lag auf ihrer Pritsche und nähte.
‚Anthony!’ Sie lächelte. ‚Es freut mich, dass du mich besuchst! Die Arbeit heute schon beendet?’
‚Jawohl’, sagte ich. ‚Wie geht es dir?’
‚Ich kann nicht klagen.’ Naobi legte das Nähzeug beiseite und streichelte mit beiden Händen über ihren großen Bauch. ‚Das Kleine ist schon sehr lebendig. Ich kann es spüren!’
‚Liebe Grüße von Haiduro’, bestellte ich ihr. ‚Er sagt, es könnte heute etwas länger dauern. Die Sonne steht hoch, und sie macht keine Anstalten, unter zu gehen.’
‚Ja’, sagte sie. ‚Juli und August sind am schlimmsten. Aber ich bin ohnehin nicht alleine.’
Wir unterhielten uns einige Minuten, und ich brachte ihr einen Krug frisches Wasser vom Brunnen. Als ich ging, warf sie mir ein Lächeln zu. ‚Haiduro und ich – wir werden das Kind nach dir taufen! Anthony. Oder Antonia. Je nachdem.’
‚Das freut mich, Naobi.’
Es war das letzte Mal, dass ich das Mädchen lächeln sah.
Ich hatte gerade meine Hütte erreicht, als die große Messingglocke zu läuten begann, die hinter dem Herrenhaus im Garten stand, und durch ein Seil vom Balkon des Hauses bedient werden konnte. Ihr Läuten konnte zweierlei bedeuten – entweder es bedeutete Alarm, was am helllichten Nachmittag in all den Jahren noch nie der Fall gewesen war, oder aber die Glocke hieß einen Besucher willkommen.
Ich hob meinen Kopf und blickte in Richtung der Allee. Da sich die Sklavenhütten hinter dem Haus befanden, konnte ich nicht den ganzen Weg vom Eisentor des Grundstückes bis zur Türe des Hauses einsehen, aber ich konnte zwischen den Bäumen zumindest das Wichtigste mitverfolgen. Und tatsächlich – obwohl mein Blick vom Schweiß getrübt war konnte ich die beiden weißen Empfangsdamen erkennen, Clarice und Madonne, die seit mehreren Jahren Mr. Dellatour dienten. In ihrer Mitte ging eine weitere Person, ein Mann. Er trug einen weißen Anzug, Leinen, vermutete ich, und obwohl ich sein Gesicht auf diese Distanz nicht erkennen konnte, strahlte der Mann eine gewisse Seriosität aus, eine Kälte, die mich trotz der Julihitze erschaudern ließ – wahrscheinlich, dachte ich, weil ich wusste, dass er ein Mann des Staates war, ein Kontrolleur. Heute weiß ich es besser.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirne, betrat die Holzhütte und legte mich auf meine Pritsche. Über eine Stunde lag ich da, doch ich fand weder Schlaf noch Ruhe. Obwohl ich keinen Grund dazu hatte, über den Gast meiner Herren nachzudenken, konnten sich meine Gedanken nicht von dem Mann im weißen Anzug lösen. Sein Anblick hatte tief in mir eine seltsame Unruhe ausgelöst.
Eine Unruhe, die mich seit diesem Tage beherrscht und bis heute nie wieder losgelassen hat.
9
Später an jenem Tag wartete ich in der Ecke des Speisesaales darauf, dass meine Herren und ihr Gast zu Tische kamen. Ich konnte ihre Stimmen schon von draußen vernehmen – sie standen auf der Veranda und tranken etwas Kühles, wahrscheinlich weißen Rum. Die Zeit war vorangeschritten, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Speisen aus der kleinen Küche, die sich aus Sicherheitsgründen nicht im Haus befand, herangetragen wurden.
‚Bitte sehr, Senior Santos’, sagte Mr. Dellatour von draußen, dann ging die große Holztüre auf, und für einen kurzen Moment konnte ich dem ungebetenen Gast direkt in die Augen sehen. Er hatte schwarzes Haar, und – wie für einen Spanier üblich – eine dunkle, gelbliche Haut. Seine Augen waren dunkel, nein, sie waren schwarz, tiefschwarz. Immer noch, oder schon wieder, trug er den hellweißen Anzug, der einen morbiden Kontrast zu seinem restlichen Äußeren bildete.
‚Danke sehr’, sagte Senior Santos, und ich senkte meinen Blick. Es gilt als unhöflich, als Sklave den Leuten in die Augen zu sehen.
Mr. Dellatour schritt neben Senior Santos her, ihnen folgten Iago Fernando und Celina Dellatour.
‚Bitte, nehmen Sie Platz.’ Mr. Dellatour rückte selbst den Stuhl vom Tische weg und bot ihn seinem Gast an. Er selbst setzte sich zusammen mit Senior Fernando auf die gegenüberliegende Seite, und Celina Dellatour leistete Santos auf dessen Tischseite Gesellschaft.
Ich selbst machte mich daran, die Kurbel zu bedienen. Wenig später tanzten dann auch die restlichen Angestellten um den Tisch herum und bewirteten die Herren und ihren Gast mit Eiswasser, Wein, Rum und den herrlichsten Speisen, an die sich mein lädierter Verstand erinnern kann. Schildkrötensuppe war unter den Gerichten, Rindersteaks, Krokodilfleisch, auf Eis servierter Kaviar und Seelachs, dazu Weißbrot und Salate.
‚Wo gedenken Sie, Senior Santos, mit ihrer Arbeit zu beginnen?’, fragte Mrs. Dellatour und führte ihre Gabel mit dem zarten Rinderfleisch zu ihrem Mund. Ihr Ehemann und Senior Fernando lächelten. ‚Schätzchen“, sagte Dellatour, ‚Senior Fernando wird selbstverständlich auf den Feldern beginnen.’
Und plötzlich veränderte sich das Essen.
Zuerst dachte ich, ich wäre es gewesen, der zuviel weißen Rum getrunken hatte, und nicht meine Herren. Ich traute meinen Augen nicht, als ich sah, was dort im Brotkörbchen lag. Das war kein Weißbrot. Vielmehr sah es aus wie Vogelköpfe.
‚Nein, Sir’, sagte Santos trocken. ‚Durchaus nicht.’
Ich kniff meine Augen zusammen und schüttelte meinen Kopf, in der Hoffnung, dass mir die lange Arbeit am Feld und die gleißende Sonne nicht wohl bekommen waren und mir mein Verstand nur einen Streich gespielt hatte. Doch als ich die Augen wieder öffnete, waren die Vogelköpfe nicht verschwunden – leere Augenhöhlen starrten aus gefiederten, von den Rümpfen getrennten Häuptern aus dem Brotkorb heraus.
Das Rindersteak, das ich Sekunden vorher noch auf dem Teller von Celina Dellatour gesehen hatte, hatte sich in einen Haufen schwarzer, lebendiger Käfer verwandelt, die kreuz und quer über den Tisch liefen. Der schwarze Kaviar in der Eisschüssel schien sich ebenfalls zu bewegen – dann erkannte ich dass es gar keine Fischeier waren, sondern kleine, schwarze Spinnen, die sich in der Schüssel tummelten.
‚Meine Arbeit, werte Gastgeber, hat bereits begonnen, als ich zwischen den prächtigen Eichen dort draußen durch das Eisentor schritt.’
Mrs. Dellatour spießte einen der Käfer auf ihrer Gabel auf, und Senior Fernando trank aus seinem Weinglas einen Saft, der mich an dünnflüssigen Kot erinnerte. Die braune Flüssigkeit rann ihm übers Kinn hinunter und befleckte die Tischdecke. Er schien es nicht zu merken, und auch die anderen taten, als hätte alles seine Richtigkeit.
‚Von diesem Zeitpunkt an, habe ich zu beobachten begonnen, und ich werde erst wieder damit aufhören, wenn ich das Tor zum zweiten Mal passieren werde.’
Mr. Dellatour nickte, dann nahm er einen Löffel aus der Kaviarschüssel und führte ihn zum Mund. Ich glaube, ich habe kurz aufgehört, die Kurbel zu bedienen, als ich sah, wie er Dutzende der schwarzen Spinnen verschlang, und einige von ihnen den Weg aus seinem Mund fanden und über seine Wangen in sein Haar flohen.
Senior Santos griff in den Brotkorb und biss herzhaft in einen der angefaulten Vogelköpfe. Das Geräusch der Schädelknochen, die zwischen Santos’ Zähnen zermalmt wurden, verfolgt mich noch heute in meinen Träumen.
Eine der Angestellten kam zum Tisch und schenkte weißen Rum nach. Nur, dass es kein Rum war, sondern eine trübe, grünliche Flüssigkeit, die ich nicht zu definieren wagte.
War ich denn völlig übergeschnappt? Es musste so sein, denn offenbar war ich der einzige, der statt Rindersteaks Käfer, statt Wein Durchfall und statt Kaviar lebendige Spinnen sah. Die Angestellte verzog keine Miene, als einer der riesigen Käfer ihren Arm nach oben krabbelte. Ich kann heute nicht mehr genau sagen, was mir damals durch den Kopf gegangen ist, aber ich vermutete, dass ich einen Sonnenstich, oder ein grässliches Fieber eingefangen hatte. Ich wandte mein Gesicht vom Tische ab und versuchte für den restlichen Abend die Wand anzustarren, während ich weiterhin die Kurbel betätigte, um den Herrschaften eine angenehme Abkühlung zu verschaffen.
Eine halbe Stunde später hatten sie fertig gespeist, und ich wagte einen kurzen Blick auf den Tisch.
Keine Käfer zu sehen. In den hohen Gläsern befand sich roter Wein, in den kleineren war weißer Rum. Das Brotkörbchen beherbergte Weißbrot, oder das, was davon übrig war, und in der Eisschüssel befanden sich noch die Reste des Kaviars. Ich atmete auf, und mir fielen mehrere Steine vom Herzen. Ich hatte mir wirklich alles nur eingebildet.
Ich lächelte in mich hinein, froh darüber, dass ich doch nicht verrückt war und kein tödliches Fieber hatte.
Die Herren und ihr Gast blieben noch über eine Stunde. Sie sprachen zuerst über den Bundesstaat, über Baton Rouge und über Abraham Lincoln. Später, als sie bereits alle vom Wein und vom weißen Rum benebelt waren, sprachen sie sogar in meiner Anwesenheit laut und offen über die Sklavenaufstände, und über einen möglichen Krieg zwischen den Yankees und ihnen.
Ich für meinen Teil verließ den Speisesaal gegen neun, wechselte mein Gewand, nahm eine Kleinigkeit zu mir und legte mich danach schlafen.
Doch lange sollte der Schlaf nicht währen.
10
Es muss kurz vor Mitternacht gewesen sein, als ich erwachte. Es war kein Geräusch, das mich geweckt hatte, vielmehr ein ungutes Gefühl. Ein Gefühl, dass etwas Böses in der Nähe war.
Es war ziemlich dunkel in der Hütte, und um mich herum vernahm ich das tiefe Atmen der anderen Sklaven. Durch das Fenster, das meinem Bett quer gegenüber lag, fiel schwaches Mondlicht herein. Draußen war nichts zu erkennen.
Mein Blick fiel vom Fenster zur Hüttentür – auch durch den Spalt zwischen der Tür und dem Boden schimmerte das schwache, blaue Mondlicht. Was hatte mich tatsächlich geweckt? War es vielleicht nicht doch ein Geräusch gewesen? Oder hatte ich einfach nur einen bösen Traum gehabt – einen Traum, indem Celina Dellatour und ihr Mann Insekten statt köstlichen Speisen verzehrten? Wenn dem so war, dann konnte ich mich nicht mehr daran erinnern.
Doch da – plötzlich vernahm ich doch ein Geräusch. Es war sehr leise, und einen kurzen Augenblick dachte ich, dass ich es mir nur eingebildet hatte: ein leises, klickendes Geräusch, als würde Metall auf Holz klopfen – auf den hölzernen Hüttenvorbau. Ich sah wieder zum Eingang hinüber, worauf mich fast der Schlag traf. Der Lichtspalt unter der Tür war jetzt an zwei Stellen unterbrochen: Jemand stand vor meiner Hütte.
Ich überlegte kurz, ob ich ‚Hallo?’ rufen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Ich würde nicht nur meine Freunde wecken, die sich den Schlaf verdient hatten, wie kaum jemand anderes im Staate Louisiana, sondern würde außerdem denjenigen verscheuchen, der da vor meiner Türe stand.
Stattdessen warf ich mein Leintuch zurück und richtete mich so leise wie nur möglich auf. Währenddessen ließ ich den Lichtspalt zwischen Boden und Türe nicht außer Augen. Das Bild war unverändert – zwei Schatten, wie von dürren Beinen, unterbrachen das Licht. Wer auch immer da draußen stand – er bewegte sich nicht.
Leise schwang ich meine Beine von der Pritsche und setzte die Füße langsam am Boden auf. Ich hoffte, das Holz würde nicht knarren, doch als ich aufstand und mein gesamtes Gewicht darauf verlagerte, knarrte es dennoch. Blitzschnell sah ich zum Spalt hinüber – die Schatten waren nun fort. Und dann vernahm ich wieder das leise Klicken, wie von Metall auf Holz.
Ich achtete nicht länger auf meine eigenen Geräusche und bewegte mich auf den Eingang zu. Das Klicken war wieder verstummt. Hastig öffnete ich die Tür und trat einen Schritt auf den Vorbau hinaus. Der Mond schien mir mitten ins Gesicht – er tauchte die Plantage in ein blaues, unheimliches Licht. Niemand war zu sehen. Die anderen Hütten lagen friedlich unter den Eichen und ließen sich vom Mond bescheinen. Nirgends war mehr Licht zu sehen, auch nicht in den Obergeschossen des Herrenhauses.
Ich hielt kurz inne, um vielleicht doch noch einmal dieses klickende Geräusch vernehmen zu können, konnte jedoch nichts hören. Falls wirklich jemand hier gewesen war, war er jetzt verschwunden. Ich trat wieder in die Hütte, schloss die Türe und begab mich zurück ins Bett. Die anderen atmeten immer noch gleichmäßig, einer – Jeremy – schnarchte. Keiner von ihnen hatte etwas mitbekommen.
Obwohl ich zuerst dachte, in dieser Nacht wach bleiben zu würden, döste ich eine Zeit lang dahin, bis der Schlaf mich schließlich überwältigte und davontrug.
11
Am nächsten Tag befand ich mich bereits um fünf Uhr morgens am Feld. Ich hatte schlecht geschlafen, soviel stand fest, und das erste, woran ich mich beim Aufstehen erinnerte, war die Gestalt vor der Hüttentür und die klickenden Geräusche.
‚Macht das ihr raus kommt, Leute!’, schrie Aguedo Rodriguez von draußen. ‚Es gibt viel zu tun!’
Bevor wir uns an die Arbeit machten, hielt Rodriguez eine Rede darüber, dass wir an diesem Tage besonders sorgfältig arbeiten mussten, da der staatliche Aufseher heute auch das Feld aufsuchen würde.
Erst als ich bereits ein Dutzend Zuckerrohre geschnitten hatte, kam Bamboo, einer der Sklaven aus meiner Hütte, zu mir. Er schwitze bereits zu dieser frühen Stunde und ließ von der Arbeit nicht ab, während er zu mir sprach: ‚Hast du schon gehört, was heute Nacht geschehen ist?’
Ich stutzte. ‚Wovon sprichst du?’
‚Naobi’, sagte er. ‚Haiduro klopfte heute Nacht ans Herrenhaus. Er wollte, dass jemand den Arzt aus Vacherie rief. Doch noch ehe er wieder in seine Hütte zurückgekehrt war, war es zu spät.’
Ich ließ von dem Zuckerrohr ab und starrte Bamboo an. ‚Was?’, rief ich. „’Was war zu spät?’
‚Naobi hat heute Nacht ihr Kind verloren.’
Ich sank auf die Knie. Nein, mein Gott, das durfte doch nicht wahr sein. Naobi. Sie war im vierten Monat. ‚Mein Gott’, sagte ich. ‚Sie wollte das Kind nach mir benennen.’
‚Tut mir Leid, Anthony. Du solltest heute besser nicht zu ihr gehen.’
‚Hey, ihr da drüben!’ Rodriguez stand drei Reihen hinter uns. ‚Hört auf zu quatschen und geht wieder an die Arbeit! Aber hurtig!’
Nur langsam kam ich wieder auf die Beine – ich musste mich an den Zuckerrohren festhalten. ‚Bamboo’, sagte ich. ‚Weißt du, wann genau das geschehen ist?’
‚Nun ja, Haiduro hat den anderen erzählt, dass er kurz nach Mitternacht zum Herrenhaus gelaufen war, weil Naobi starke Schmerzen hatte. Fünfzehn Minuten später, als er seine Hütte wieder erreicht hatte, war der Embryo bereits ausgeschieden.’
Kurz nach Mitternacht, also. Ich dachte zwar, dass ich einige Zeit vor Mitternacht aufgewacht war, so genau konnte ich das aber nicht sagen. Es war also möglich, dass der aufgebrachte Haiduro die Gestalt vor meiner Tür gewesen war. Doch irgendwie glaubte ich nicht daran.
Mir tat Naobi Leid und auch Haiduro. Doch hier draußen auf dem Feld gab es nichts, was ich hätte tun können. Ich schluckte meine Trauer.
12
Als ich an jenem Nachmittag gegen vier Uhr vom Feld kam, fühlte ich mich krank und schwach. Den ganzen Tag hatten mich fürchterliche Gedanken geplagt. Gedanken, die mit dem Essen am Tag davor zu tun hatten, mit der Gestalt vor meiner Türe und mit der Fehlgeburt Naobis.
Senior Santos ließ sich nicht blicken. Rodriguez hatte an diesem Morgen sein Erscheinen am Feld angekündigt, doch er war nicht gekommen. Wahrscheinlich hatte er andernorts mehr zu tun und würde sich erst morgen um die Felder kümmern. Gut möglich auch, dass er sich während des Tages unsere Hütten angesehen hatte, als er ungestört war.
Diesen Nachmittag – es war Donnerstag, der sechsundzwanzigste Juli – hatte ich meinen freien Abend. Draußen am Feld hatte ich mir vorgenommen, abends die Kapelle aufzusuchen und ein Licht für das tote Baby anzuzünden. Vorerst aber wollte ich nichts anderes als schlafen – mit einem klaren Kopf ließ sich leichter denken, und auch leichter arbeiten.
Doch als ich auf meiner Pritsche lag und die Holzdecke der Hütte anstarrte, kam die ganze Erinnerung an die letzte Nacht wieder hoch.
Das klickende Geräusch.
Der unterbrochene Lichtspalt.
Ich musste wieder nach draußen, an die frische Luft, sonst wäre ich durchgedreht. Ich konnte genauso gut jetzt zur Kapelle gehen, es würde mir nicht schaden. Also zog ich meine Sandalen an, streifte mir ein Hemd über und verließ die Hütte.
Auf dem Hüttenvorbau blieb ich kurz stehen, inhalierte die heiße Südstaatenluft und streckte mich. Ich weiß nicht mehr, aus welchem Grunde ich zu Boden sah – wahrscheinlich war es nichts als Zufall – aber was ich sah, jagte mir einen gehörigen Schrecken ein: Auf dem dunklen Holzboden des Vorbaus waren Abdrücke zu sehen. Fußabdrücke.
Nun, es hätte mich nicht gewundert, wenn es tatsächlich Fußabdrücke gewesen wären – immerhin schliefen alleine in dieser Hütte zwölf Sklaven –, aber es waren keine Fußabdrücke. Das dunkle Holz zeigte das erdige Abbild eines Halbkreises.
Es war der deutliche Abdruck eines Hufes.
13
Mit einem Mal wusste ich auch, was das klickende Geräusch verursacht hatte.
Wo der eine Abdruck war, gab es noch mehrere. Nicht so deutlich wie dieser eine, vollkommene Huf direkt vor der Türe, aber sie waren da. Einer auf der Stufe, der auf den Vorbau herausführte, einer knapp vor der Türe, einer direkt davor und zwei weiter von der Türe weg. Es – was immer es auch gewesen sein mochte – war offensichtlich vor den Geräuschen des knarrenden Bodens geflüchtet, die ich erzeugt hatte.
Wenn es in letzter Zeit geregnet hätte und die Erde ein bisschen feuchter gewesen wäre, hätte ich sicherlich noch mehr Abdrücke in der ganzen Siedlung gefunden.
Etwas war letzte Nacht vor meiner Hütte. Etwas mit Hufen. Doch was war es? Ein Tier? Auf der Plantage gab es einige Ziegen und einen Bock, doch die waren in einem Gehege nahe dem Küchengebäude eingeschlossen. Womöglich war eine ausgerissen.
Schließlich kam ich zu dem Entschluss, dass es wohl doch nicht das Huftier war, das letzte Nacht vor meiner Türe stand. Ich konnte mich deutlich daran erinnern, zwei Lichtunterbrechungen gesehen zu haben. Zwei Beine. Doch ich konnte nur einen Hufabdruck sehen. Andererseits waren da die klickenden Geräusche. Kein Metall, sondern knöcherne Hufe, die auf Holz schlugen.
Nun, wie ich meine Schlussfolgerungen auch drehte, es passte nichts zusammen. Ich beschloss mir vorläufig keine weiteren Gedanken darüber zu machen. Die ganze Sache war doch lächerlich.
Ich verließ die von den Bäumen geschützte Sklavensiedlung und machte mich auf den Weg zur Kapelle, die sich am westlichen Ende des Anwesens befand. Dazu passierte ich das Herrenhaus, das Küchengebäude, den Ziegenstall und den Friedhof.
Ich erreichte die Kapelle gegen sechs, etwa zwanzig Minuten bevor drei Menschen auf Oak Alley ihr Leben ließen.
14
Die Kapelle war klein und hatte etwa vierzig Sitzplätze. Nicht genug, um alle Angestellten und Sklaven in einem Gottesdienst vereinen zu können, aber das war auch nicht nötig. Wer wollte, konnte in seiner Freizeit das kleine Gotteshaus aufsuchen. Es war ständig geöffnet.
Ich war alleine in dem Steinbau und saß in der ersten Reihe, direkt vor dem Altar. Meine Gedanken waren bei Naobi, Haiduro und ihrem verlorenen Baby.
‚Wir werden das Kind nach dir taufen. Anthony. Oder Antonia. Je nachdem.’
Dann riss Glockenläuten meine Gedanken entzwei, und ich dachte: Noch ein Besucher.
Nach und nach ereilte es mich, wie unwahrscheinlich es war, zwei Gäste in einer einzigen Woche willkommen zu heißen, doch erst als ich die Schreie vernahm, die vom Osten her an meine Ohren drangen, war ich überzeugt: zum ersten Mal seit meiner Ankunft auf Oak Alley läutete die Glocke nicht eines Besuchers wegen – heute läutete sie Alarm.
Mit einem hastigen Kreuzzeichen verabschiedete ich mich vom Herren, drehte mich um und lief aus der Kirche hinaus. Schon als ich unter dem Kapellendach auf die Wiese trat, konnte ich den Rauch über den Eichen aufsteigen sehen. Eine Frau schrie, und auch Männer riefen durcheinander, doch es war zu weit entfernt, als dass ich etwas verstehen hätte können.
Ich eilte über die Wiese und über den Friedhof, durch einige Reihen Eichen hindurch, bis ich schließlich sah, was die Quelle des Rauches war: das Küchengebäude stand in Flammen. Riesige Flammen loderten aus den Fenstern und Türen, der Rauch quoll schwarz und dicht in den Himmel hinauf. Einige Angestellte, aber auch ein paar Sklaven tummelten sich rund um das Gebäude, schleppten Wasserkörbe vom Brunnen heran und versuchten das Feuer unter Kontrolle zu bringen. Die Messingglocke im Garten des Herrenhauses läutete immer noch.
Ein brennendes Ding lag auf der Wiese und schien sich zu bewegen, einige schütteten Wasser darüber, doch das Feuer erlosch nicht. Glas klirrte. Mr. und Mrs. Dellatour kamen beide vom Herrenhaus angerannt, dicht gefolgt von Senior Fernando. Immer mehr Neger kamen vom Feld gerannt und stürmten auf den Brunnen zu.
Ich lief so schnell ich konnte, rannte am Ziegengehege vorbei und schnappte mir einen der Futterkübel. Hitze schlug mir ins Gesicht, als ich auf dreißig Meter an das brennende Gebäude herangekommen war. Die Flammen schlugen immer noch große Zungen, und eine der Angestellten – offenbar geschockt – stand in einiger Entfernung und schrie sich die Seele aus dem Leibe.
Der Geruch von verbranntem Fleisch hing in der Luft. Jetzt sah ich auch, was das mittlerweile nur noch qualmende Ding auf der Wiese war – es war Herve Gaishlain, der Küchenchef, oder der schwarz-rote Rest, der von ihm übrig war.
Ich lief an dem armen Kerl vorbei und stürmte auf den Brunnen zu. Bevor ich ihn erreicht hatte, fiel mein Blick auf das Herrenhaus. Jemand stand am Balkon.
Es war ein Mann im weißen Anzug, und selbst wenn ich es von dieser Entfernung nicht genau sehen konnte – ich wusste, dass es Senior Santos war, der dort oben stand und keinen Finger rührte, während auf der Wiese unter ihm das Leben aus dem Körper des Küchenchefs wich und das zweier Angestellter schon längst erloschen war.
15
Zwei Stunden später war das Feuer gelöscht, der Schrecken aber noch nicht von Oak Alley gewichen. Jacques Dellatour hatte seine Frau zurück ins Haus bringen lassen, als er erkannt hatte, dass mehr als nur das Küchengebäude zu schaden gekommen war. Der Arzt hatte es mittlerweile aus Vacherie hierher geschafft, doch es war längst zu spät: Gaishlain war tot, sein Körper aber in weit besserem Zustand als die seiner beiden Gehilfen. Ich kannte die Namen der beiden nicht, hatte aber gesehen, wie die Männer ihre verkohlten Leiber aus dem Gebäude gezogen hatten. Es war unmöglich zu sagen, wie alt, oder welchen Geschlechts die beiden Toten gewesen waren. Den beißenden Geruch verkohlter Organe werde ich wohl so schnell nicht wieder vergessen können.
Die meisten Neger waren in ihre Hütten gegangen, einige, darunter auch ich, tummelten sich rund um den Brunnen und versuchten sich den Ruß abzuwaschen und Verbrennungen zu kühlen.
Mr. Dellatour stand zusammen mit Iago Fernando nahe an den Trümmern der Küche und gestikulierte wild. Zwei Frauen knieten in einiger Entfernung und weinten, weitere drei beteten.
Keiner konnte eine genaue Aussage darüber treffen, wie es denn zu dem Unglück gekommen war – die drei Betroffenen waren schließlich tot. Ich hatte Fernando mit einigen anderen sprechen hören, und er sagte etwas von einer Gasexplosion. Ich konnte mir nicht erklären, warum es der Küchenchef aus dem Gebäude geschafft hatte, seine beiden Gehilfen aber nicht. Wenn es tatsächlich eine Explosion gegeben hatte, waren die beiden vielleicht schon vorher tot oder verletzt, oder es war ihnen der Weg nach draußen versperrt gewesen.
Mr. Dellatour kam später noch zu uns Sklaven herüber und klärte uns darüber auf, dass die nächste Mahlzeit erst morgen stattfinden konnte. Außerdem kündigte er an, dass es in den folgenden Tagen zu Aufräumarbeiten kommen würde, und dass etwa zwanzig Mann von der Feldarbeit befreit wurden. Welche Männer das waren, würde am nächsten Tage verlautet werden.
Ich fragte mich, was Mr. Dellatour wohl zu Senior Santos sagen würde und was die Herrschaften an diesem Abend zu speisen gedachten. Tief in mir war ich sicher, dass Senior Santos schon zuvor gewusst hatte, dass das Essen an jenem Abend ausfallen würde.
16
In jener Nacht hörte ich keine Hufschläge, und ich sah auch keine Schatten über dem Türspalt.
17
Der Tag danach war von tiefer Trauer und gedrückter Stimmung beherrscht. Am Vormittag wurde eine Messe für die Verstorbenen gehalten, an denen jeder teilnehmen durfte, der wollte. Ich war auch dabei, hatte aber keinen Platz mehr in der Kirche bekommen, und so stand ich mit einigen anderen Sklaven und Angestellten auf der Wiese und versuchte den Worten des Priesters zu lauschen.
Danach begannen die Aufräumungsarbeiten, für die ich mich freiwillig meldete. Rodriguez war zwar nicht sehr erfreut darüber, aber für mich war jede Abwechslung willkommen, auch wenn sie von solch trauriger Natur war.
In der Mittagspause verteilte ein Bäcker aus Vacherie, den Senior Fernando kurzfristig bestellt hatte, Brote und anderes Gebäck. Es war unsere erste Mahlzeit seit vierundzwanzig Stunden, und doch brachten einige der Helfer keinen Bissen hinunter. Ich selbst arbeitete vor dem abgebrannten Küchengebäude und trug die Steinmauern ab – andere aber mussten darin arbeiten, und ich konnte mir gut vorstellen, dass es da noch den einen oder anderen Patzen verbrannten Fleisches abzukratzen galt.
Am Nachmittag sah ich Mr. Dellatour zusammen mit Senior Santos nahe dem Unfallort. Sie standen in einiger Entfernung, wobei hauptsächlich Mr. Dellatour sprach und Senior Santos sich Notizen machte. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr dachte ich, dass dieser Santos etwas mit den unheimlichen Vorkommnissen auf Oak Alley zu tun hatte. Ich arbeitete jetzt schon acht Jahre hier, und abgesehen von manchen Ausfällen der Feldaufsichten gegenüber uns Sklaven, ging es so friedlich zu, wie es auf einer Plantage nur sein konnte. Doch seit dieser Staatsbeamte Santos das Anwesen betreten hatte, war zuviel schief gegangen. In der Nacht hatte Naobi ihr Kind verloren, und das, nachdem ich selbst aufgewacht war und eine Gestalt vor meiner Türe gesehen hatte. Eine Gestalt, die anscheinend einen Hufabdruck hinterlassen hatte. Am nächsten Abend brannte das Küchengebäude bis auf die Grundmauern nieder und riss drei unschuldige Menschen in den Tod. Wenn man es genau nahm, gab es also vier Tote innerhalb von wenigen Stunden. Nicht zu vergessen diese schreckliche Vision, die mich beim Essen am ersten Abend mit Senior Santos ereilt hatte. Mein Gott, war das schrecklich.
Voller Angst sah ich dem heutigen Abend entgegen, an dem ich wieder im Speisesaal sitzen und die Gespräche der Herren belauschen würde. Wenn mich heute Abend eine ähnliche schreckliche Vision heimsuchte, schwor ich bei mir, würde ich am nächsten Tag um einen Arzt bitten.
Gegen drei Uhr Nachmittag kam dann plötzlich ein Sklave von den Feldern her gelaufen. ‚Senior Fernando!’, schrie er schon von weitem, und Fernando, der auf der Veranda des Herrenhauses saß, senkte seinen Notizblock. ‚Senior Fernando, wir brauchen einen Arzt!’
Urplötzlich stoppte ich meine Arbeit und sah ungläubig zur Veranda hinüber. Fernando sprang von seinem Stuhl auf. Ich konnte nicht hören, was er sprach, weil er nicht so schrie wie der Sklave, konnte mir aber vorstellen, dass es etwas wie ‚Was ist passiert?’ war. Der Neger hatte die Veranda erreicht und erzählte Santos hastig, was geschehen war. Dieser verschwand sofort ins Haus hinein, und der Sklave machte sich auf den Rückweg zum Feld.
‚Hey! Du da!’, rief plötzlich Amiro, unser Aufseher hier am Unfallort, einige Meter von mir entfernt. Der Sklave blickte in seine Richtung und änderte seinen Kurs – er kam jetzt direkt zu uns herüber. Ich versuchte meine Neugier zu verbergen, in dem ich weiterhin Steine von dem Gemäuer abtrug, behielt Amiro aber im Blickfeld.
‚Ja, Sir?’, fragte der Sklave, als er die Baustelle erreicht hatte.
‚Was ist geschehen?’ Amiro hatte die Hände in die Hüften gestemmt und erinnerte mich eher an einen alten Römer, von denen ich gelesen hatte, als an einen Sklavenaufseher im 19. Jahrhundert.
‚Einer der Sklaven, Sir, Haiduro. Es war seine Frau, die vorletzte Nacht das Kind verloren hatte.’
Ich erstarrte auf der Stelle.
‚Was ist mit ihm?’, fragte Amiro.
‚Er ist durchgedreht, Sir. Ist mit dem Messer auf den Aufseher losgegangen.’
‚Mein Gott.’ Amiro blickte zu Boden. ‚Rodriguez. Ist er tot?’
‚Nein, Sir. Aber er blutet stark, und wenn wir die Blutungen nicht stillen können…’
‚Geh jetzt, Sklave.’ Amiro blickte in unsere Richtung. Außer mir hatten noch einige andere das Gespräch mitgehört, und alle starrten wir in Amiros Richtung.
‚Was glotzt ihr so?’ Er hatte jetzt wieder seine Hände in die Hüfte gestemmt. ‚Weitermachen!’
Wie in Trance trug ich die nächsten paar Steine von der Mauer ab. Hatte ich richtig gehört? Haiduro war mit dem Messer auf Rodriguez losgegangen? Der Haiduro, der jeden Abend vor seiner Pritsche kniete und betete? Der Haiduro, der mir, als ich mit Sumpffieber im Bett lag, Wasser vom Brunnen gebracht hatte? Der durch und durch gütige und sanfte Haiduro, der nicht einmal einer Fliege etwas zu leide tun konnte? Gut, er und seine Frau hatten vorletzte Nacht etwas sehr Schlimmes erlebt, aber dass er deswegen mit dem Zuckerrohrmesser auf seinen Aufseher losging, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Ohne die Arbeit niederzulegen blickte ich in Richtung der Felder. Der Sklave war schon wieder zwischen den Zuckerrohren verschwunden, aber eine andere Gestalt schien gerade herauszukommen. Eigentlich wunderte es mich gar nicht mehr, als ich Senior Santos aus dem Zuckerfeld treten sah.
Zwanzig Minuten später war Rodriguez tot.
18
Bevor ich an jenem Tage ins Herrenhaus ging, um meinen Dienst im Speisesaal aufzunehmen, erfuhr ich von einigen Sklaven, was sich im Laufe des Tages alles zugetragen hatte.
Der Arzt war nicht mehr rechtzeitig gekommen, und Rodriguez war verblutet.
Haiduro wurde der Polizei von Vacherie übergeben und wartete jetzt in einer Zelle irgendwo in der Stadt auf seine Exekution. Die Regierung kannte keine Gnade mit schwarzen Verbrechern.
Doch das war längst nicht alles.
Eine der Angestellten im Herrenhaus war die Treppe hinuntergefallen und hatte sich das Genick gebrochen – die fünfte Tote.
Der Priester, der am Morgen die Messe für die verstorbenen Küchen¬angestellten gehalten hatte, war auf dem Weg nach Vacherie mit der Kutsche in den Graben gefahren. Er brach sich vier Rippen und lag im Hospital.
In einer Hütte nicht weit von meiner eigenen war zu Mittag ein Wespennest von der Größe eines menschlichen Kopfes entdeckt worden. Die Hütte war komplett mit Wespen gefüllt, und so sehr ihre Bewohner auch versuchten, Türen und Fenster zu öffnen und die Biester hinauszuscheuchen – die Wespen wollten die Hütte nicht verlassen.
Laut eines Sklaven waren die Zuckerrohre rund um den toten Rodriguez herum verfault.
Die schwarzen Fahnen waren gehisst, und das Herrenhaus stand in Mitten des Anwesens wie ein trauriger Kern, der zusammenhalten versuchte, was am Auseinanderbrechen war. Ich hätte zu gerne gewusst, was sich in den Gedanken der Dellatours abspielte. Ob auch sie die Vorkommnisse mit der Ankunft von Senior Santos in Zusammenhang brachten? Ich wusste es nicht, aber bis zum Abendessen war es nicht mehr lange hin, und dort würde ich vielleicht mehr erfahren.
‚Carlos’, sagte ich zu einem der Neger, die mit mir im Kreise beieinander standen und über die Geschehnisse sprachen. ‚Du warst doch dabei, als Haiduro Rodriguez erstach. Erzähl mir davon.’
‚Ich kann dir nur sagen, was ich den anderen auch schon erzählt habe, Anthony.’ Er blickte im Kreis herum, dann sah er mir in die Augen. ‚Du kennst Haiduro besser als ich, und wir alle hier wissen, dass Gewalt nicht einmal in seinem Wortschatz existierte. Und heute… er hatte so einen Ausdruck in den Augen, als wäre er nicht ganz bei sich.’ Carlos pausierte kurz, dann fügte er hinzu: ‚Wenn du mich fragst, Anthony, war Haiduro heute Nachmittag vom Teufel besessen.’
19
Mir fiel es wie Schuppen von den Augen.
Wenn du mich fragst, Anthony, war Haiduro heute Nachmittag vom Teufel besessen.
Spinnen und Käfer statt Steaks und Kaviar.
Eine Fehlgeburt – das Leben im Keim erstickt.
Eine brennende Küche, so heiß wie das Feuer der Hölle.
Ein besessener Mann, der einen Aufseher ersticht.
Unfälle, die keine Zufälle mehr sein konnten.
Ein Wespennest voller Unheil.
Ein verunglückter Priester.
Ein Abdruck eines Hufes am Vorbau meiner Hütte.
Wir Neger werden ja im Allgemeinen für religiös, ja für spirituell gehalten. Zum großen Teil stimmt das auch, zumindest soweit ich für mich sprechen kann. Doch Glauben funktioniert nicht nur in eine Richtung. Wer an das Gute glaubt, muss unweigerlich auch dessen Kehrseite akzeptieren.
Und diese Kehrseite war vor zwei Tagen nach Oak Alley gekommen.
Ich glaubte nicht länger an Zufälle, und ich glaubte nicht mehr daran, dass irgendjemand, auch nur irgendjemand, die Plantage lebend verlassen würde.
Der Teufel ging um, auf Oak Alley, und ich hatte allen Grund zur Annahme, dass er in dieser oder der nächsten Nacht sein Werk vollenden würde.
20
Ich sprach mit niemandem über meine Theorie, und ließ mir auch nichts anmerken. Ich spielte mit dem Gedanken, mich bei den Dellatours krank melden zu lassen, um der Arbeit im Speisesaal zu entgehen – bei all den Vorkommnissen würde es sie wahrscheinlich nicht einmal wundern. Doch ich entschied mich dagegen – vielleicht konnte ich durch die Gespräche am Abend noch mehr herausfinden, mehr über den todbringenden Gast Santos.
Als ich pünktlich zur Umkleide erschien, erwartete mich bereits Madonne, eine der Angestellten. Ich würde heute Abend nicht benötigt werden, meinte sie, und dass Senior Fernando verkündet hatte, sie wollten heute ganz ohne Angestellten speisen. Wahrscheinlich, so dachte ich, wollten sie in Ruhe über die Vorkommnisse sprechen, ohne dass ihre Entschlüsse sogleich auf das Anwesen hinausgetragen wurden.
‚Mrs. Dellatour ist übrigens vor einer Stunde abgereist’, sagte Madonne. ‚Sie verbringt das Wochenende in New Orleans. Kann ich sehr gut verstehen, wenn du mich fragst.’
Ich nickte.
In Gedanken hatte ich Celina Dellatour schon vor mir – mit der Kutsche in einen Baum gekracht, der Kopf auf der Straße aufgeschlagen und die Augäpfel von den Krähen ausgepickt. Oder ihr Blut verteilt im Mississippi, ihr Körper zerteilt vom großen Schaufelrad des Dampfers, in das sie geraten war.
‚Mach es einfach wie wir auch, Anthony’, sagte Madonne. ‚Geh zurück in deine Hütte, leg dich schlafen und mach dir keine Gedanken. Sich Gedanken zu machen verschlimmert die Situation nur, weißt du?’
Nein, dachte ich. Das stimmte so nicht. Sich Gedanken zu machen, konnte einem manchmal einen Vorteil verschaffen.
21
Und ich machte mir Gedanken.
Die Vorstellung, dass Santos heute Nacht die Sklavenhütten aufsuchen würde, um sich noch mehr Seelen zu holen, als er ohnehin schon hatte, brannte sich in mein Hirn ein.
Ich musste Vorbereitungen treffen. Musste mich verstecken. Ich hatte keine Ahnung, ob der Teufel allwissend war, oder ob er ebenso den Gesetzten der Natur erlegen war, wie wir Menschen.
Vieles, über das ich nachdachte, ergab keinen Sinn: warum hatten die Dellatours und Senior Fernando an jenem Abend nicht gesehen, was sie gegessen hatten? Warum habe ich es gesehen? Vielleicht war es eine weitere Taktik Santos’, die mich um den Verstand bringen sollte. Letztendlich kam ich zu dem Schluss, dass sich Dinge, bei denen der Teufel im Spiel ist, nicht vollständig klären lassen.
Ich hatte keine Ahnung wie Mr. Dellatours und Senior Fernandos Pläne bezüglich der nächsten Tage aussahen – sie konnten wohl kaum so tun, als wäre nichts geschehen. Ich erwartete nicht, dass sie die gleiche Erkenntnis erfuhren wie ich, hoffte aber dennoch, dass sie Senior Santos mit den Unfällen und Missgeschicken in Zusammenhang brachten.
Als ich zur Hütte zurückkam, war die Sonne bereits am Untergehen. Einige Sklaven saßen auf dem Vorbau und unterhielten sich. Ich ging an ihnen vorbei und legte mich auf meine Pritsche.
Dann dachte ich nach.
22
Gut, ich hatte viel gelesen, leider aber nie etwas darüber, wie man den Teufel überlistete. Deshalb war meine Idee auch nicht gerade berauschend, aber ich fand, dass es einen Versuch wert war. Wenn der Teufel heute Nacht nicht kommen sollte, würde ich morgen schlimmstenfalls mit einem wehen Rücken aufwachen.
Ich klopfte an die Türe von Naobis Hütte und trat ein. Einige Sklaven lagen bereits auf ihren Pritschen, Naobi kniete vor ihrer und hatte die Hände gefaltet. Sie betete.
‚Naobi’, sagte ich und trat an sie heran. Sie blickte zu mir herauf, und ich sah in dunkle Augenringe und verweinte Augen. Sie stand auf und ich nahm sie in die Arme. ‚Schon gut, Kleines’, sagte ich, während sie von Neuem zu weinen begann.
‚Kann ich dich einen Moment sprechen?’ Ich blickte um mich. Einige der Sklaven sprachen miteinander, andere lagen nur da und dösten. ‚Alleine.’
Naobi nickte. ‚Gehen wir nach draußen.’
Wir verließen die Hütte und betraten den Eichenwald hinter der Sklavensiedlung. Hier waren wir allein.
‚Kleines, es tut mir alles so wahnsinnig leid.’
‚Anthony, es ist so furchtbar. Erst das Baby. Und jetzt Haiduro. Wie soll ich das nur durchstehen?’ Sie schluchzte, aber ihre Tränen versiegten – ich nahm an, sie hatte schon zu viele davon vergossen.
‚Naobi, du musst mir jetzt gut zuhören.’
23
Später lag ich in meinem Bett und wartete darauf, dass die anderen einschlafen würden. Es dauerte länger als sonst, denn die meisten meiner Mitbewohner hatten am Nachmittag nicht mehr gearbeitet, als Haiduro durchgedreht war, und hatten am Nachmittag bereits die Möglichkeit, sich zu erholen. Die aktuellen Ereignisse brachten einem außerdem zum Nachdenken und raubten einem teilweise den Schlaf.
So dauerte es über zwei Stunden, bis alle schliefen. Die einzigen Geräusche waren das Atmen meiner Kollegen und das Zirpen der Grillen außerhalb der Hütte. Vorsichtig schlug ich das Leintuch zurück und kletterte aus dem Bett. Der Boden knarrte selbstverständlich wieder, aber ich bezweifelte, dass dies jemanden wecken würde.
Ich stand nun neben meiner Pritsche und strich das Leintuch glatt. Der nächtliche Besucher sollte meinen, dass dies ein unbenütztes Bett war. Ich griff nach dem Buch, das auf dem Nachtkästchen lag – es war der einzige Gegenstand darauf. Leise tappte ich über den Holzboden und ging um das Bett herum. Beim Nachbarsbett angekommen legte ich das Buch auf Marijos Nachtkasten. Marijo schlief tief, und ich hoffte für ihn, dass er auch schlafen würde, wenn Senior Santos zu Besuch kam.
Was nun folgte hatte ich bereits am Abend geprobt. Vorsichtig ließ ich mich auf den Boden sinken, woraufhin dieser unter meinem Gewicht stöhnte. Ich legte mich der Länge nach auf den Rücken, so sachte wie ich es nur vermochte. Es war anstrengend, leise zu sein, und mir klopfte das Herz bereits jetzt bis zum Halse. Dennoch rutschte ich nun am Rücken liegend seitlich über den Boden – bis ich unter Marijos Bett verschwand. Bei den Pritschen handelte es sich um einfache, aus Holz zusammengenagelte Gestelle, die etwa vierzig Zentimeter vom Bett abgehoben waren. Diese vierzig Zentimeter sollten mir, so hoffte ich, das Leben retten.
Meine Arme hatte ich ausgestreckt, und die Handflächen berührten den staubigen Boden. Ich hielt den Kopf gerade und blickte direkt auf die hölzerne, durchgebogene Unterseite des Bettes. So lag ich nun da und wartete.
Das Atmen unter dem Bett fiel mir von Atemzug zu Atemzug leichter, doch meinen Knochen setzte die versteifte Lage gehörig zu. Ich wollte mich nicht strecken, da ich befürchtete, der Boden würde wieder zu knarren beginnen.
Gegen Mitternacht fielen mir schließlich die Augen zu, und ich döste in einem Wirrwarr aus schrecklichen Gedanken ein.
Ich schreckte hoch, als ich ein Geräusch hörte, und ertappte mich dabei, wie schnell und laut mein Atem war. Ich versuchte mich zu beruhigen, um wieder langsamer Luft zu holen, als ich das Geräusch ein zweites Mal vernahm.
Das klickende Geräusch.
Der Huf des Teufels, der auf das Holz der Hütte schlug.
Mir stockte der Atem.
Von meiner Position aus konnte ich nicht zum Fenster sehen, wenn ich aber meinen Kopf zur Seite neigte, konnte ich den Türspalt einsehen, unter dem das Mondlicht herein schien. Es war nicht so hell wie vorletzte Nacht, da heute dichte Wolken am Himmel standen und dem Mondlicht seine Reise zur Erde erheblich erschwert wurde, aber es reichte aus, um zu erkennen, dass die Gestalt wieder vor der Türe stand.
Ein Déjà-vu Gefühl ereilte mich, als ich die beiden Schatten der krummen Beine sah, die den Lichtspalt unterbrachen. Alles war genau wie in der vorletzten Nacht, und einen kurzen Augenblick lang hoffte ich, dass die Gestalt auch heute wieder verschwinden würde. Aber sie verschwand nicht.
Stattdessen öffnete sich die Türe, und der Teufel betrat unsere Hütte.
Das schwache Mondlicht flutete nun den Raum, und es wurde einen Deut heller. Ich versuchte, so wenig wie möglich zu atmen, und als ich die Beine der Gestalt sah, die gerade die Hütte betreten hatte, lief mir ein kalter Schauder über den Rücken. Die Unterschenkel waren krumm und pelzig, sie glichen eher den Läufen eines Hundes, als den Beinen eines Spaniers. Einer der Läufe mündete in einen mehr oder weniger menschlichen, haarigen Fuß mit fünf Zehen, der andere jedoch hatte statt des Fußes einen knochigen Geißhuf. Es war der Teufel, so wie ich ihn mir als Kind immer vorgestellt hatte.
Die Gestalt schlich herein, und bei jedem Schritt konnte ich das leise, flüsternde Klicken hören. Es war viel zu leise, als dass einer meiner Freunde dadurch aufwachen konnte.
Der Teufel trat ans erste Bett heran, verweilte dort kurz und ging dann zum nächsten weiter. Ich konnte ihn nur bis zu den Schienbeinen sehen, der Rest blieb mir verborgen, was auch gut so war. Ich weiß nicht, ob ich den Anblick seines wahren Gesichtes ertragen hätte.
Als er beim vierten Bett in der Reihe angekommen war – ein Bett vor Marijos, zwei Betten vor meinem eigenen – lief es mir abwechselnd heiß und kalt über den Rücken. Ich sah nicht, was das Untier mit den schlafenden Menschen anstellte, konnte mir aber gut vorstellen, dass es etwas Endgültiges war.
Die Beine standen immer noch vor dem vierten Bett – Carlos Bett –, und sie verrenkten sich, als würde sich die Bestie über ihn beugen. Dann klickte der Huf erneut, und der Teufel stand direkt neben mir.
Ich hörte auf zu atmen.
Schweiß lief mir über die Stirne, und ich betete zu Gott, dass das Aufschlagen eines Schweißtropfens am Boden kein Geräusch verursachte. Die Beine standen regungslos neben mir, und obwohl ich nicht einmal wagte, meine Augen zu verdrehen, konnte ich die schwarzen Haare sehen, die seine dürren Läufe bedeckten. Der Gestank von totem Fleisch drang mir in die Nase. Der Teufel stinkt also nicht nach Schwefel, dachte ich bei mir, er stinkt nach dem Fleisch der Toten, die er auf dem Gewissen hat. Das Fleisch hunderttausender Menschen, Millionen von Menschen.
Der Huf hob sich etwas vom Boden ab, und ich war mir fast sicher, dass er sich wirklich über das Bett beugte. Was immer er gerade mit Marijo anstellte, er machte es nahezu lautlos.
Dann, endlich, flüsterte der Huf wieder sein Klicken, und die Beine bewegten sich weiter – direkt auf mein eigenes Bett zu. Dort verharrte die Gestalt, und mir wurde für einen Augenblick schwarz vor den Augen. Als ich wieder sehen konnte, standen die Beine immer noch dort, und der Fleischgeruch hing immer noch in der Luft – selbst unter dem Bett.
Ich wagte immer noch nicht recht zu atmen, und als sich die Beine des Teufels nach vorne neigten, als würde er sich nach unten beugen, glaube ich, setzte sogar mein Herz für einen schrecklichen, kurzen Moment lang aus.
Die Oberschenkel der Gestalt kamen zum Vorschein, und ich war mir sicher, dass sie sich tatsächlich nach unten beugte. Und das tat sie auch.
Der Teufel beugte sich zu Boden und blickte unter das Bett. Ich schloss meine Augen, da ich nicht den Verstand verlieren wollte, und wartete darauf, riesige, scharfe Krallen an meinen Beinen zu spüren, die mich unter der Pritsche herauszerrten.
Als das Zupacken der Klauen ausblieb, öffnete ich meine Augen. Der Teufel hatte sich wieder aufgerichtet. Er hatte zwar unter mein Bett gesehen, nicht aber unter das von Marijo, unter dem ich die schrecklichsten Minuten meines Lebens ausstand.
24
In seiner wahren Gestalt klapperte Senior Santos die sechs Betten in der gegenüberliegenden Reihe der Hütte ab. Als er wieder vorne angelangt war und sich beim letzten Bett, an dem vorletzten Lebenden im Raum zu schaffen machte, wusste ich, dass ich leben würde.
Ich wusste, dass er in dieser Nacht alle Seelen holen würde, die er holen konnte, aber ich wusste auch, dass ich nicht dazu gehörte. Nicht in dieser Nacht.
25
Selbst als die Sonne schon längst aufgegangen war, wagte ich mich nicht aus meinem Versteck. In der Hütte herrschte eine Stille, wie man sie sonst nur auf einem Friedhof finden konnte. Auch von außen waren keine Geräusche zu hören – selbst die Grillen waren schlafen gegangen, oder auch diese hatten ihre Seelen an den Teufel verloren.
Am späten Nachmittag an jenem Samstag hörte ich dann Stimmen. Nach zwanzig Stunden unter dem Bett eines Toten, wurde ich gerettet.
26
Die Staatspolizei war per Pferd angereist, um den Tod von Mrs. Dellatour zu verkünden, die in New Orleans in der Bourbon Street von einem Balkon gestürzt war und sich die Wirbelsäule gebrochen hatte.
Sie hatten das Herrenhaus leer vorgefunden, und erst als sie die oberen Stockwerke erkundet hatten, die Leichen entdeckt. Im ganzen Haus hatte niemand überlebt.
Die Toten wiesen keine Anzeichen von gewalttätiger Einwirkung auf. Der Arzt hat später versucht, die Todesursache der neun Toten im Herrenhaus und der achtundachtzig toten Sklaven in den Siedlungen festzustellen, und kam zu dem Schluss, dass es wohl eine Art Seuche gewesen sein musste. Vielleicht so etwas wie Sumpffieber mit tödlichem Ausgang und extremer Ansteckungsgefahr.
Die Leichen der Neger wurden noch vor Ort verbrannt, die von Mr. Dellatour und den weißen Angestellten nach New Orleans, Baton Rouge oder Natchez verschifft, je nachdem wo es Angehörige gab, die ihre Körper zu Grabe trugen.
Die Polizei vermisste außerdem das für jede Plantage vorgeschriebene Stammbuch, in dem die Namen und Daten von allen auf Oak Alley arbeitenden Angestellten und Sklaven verzeichnet waren.
Senior Santos’ Leiche wurde nicht gefunden, die Polizei wusste nicht einmal, dass diese Person existierte. Und die einzigen beiden Überlebenden der üblen Seuche von 1848 hüteten sich, sie zu erwähnen.
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Wie es mit mir weiter ging? Nun, ich durfte die Plantage nicht verlassen, denn rechtlich gesehen gehörte ich immer noch Mr. Dellatour und wurde ebenso weitervererbt wie das Haus, der Grund und alle anderen Besitzsamkeiten.
Mr. und Mrs. Dellatour hatten keine Kinder, und so erbte Jacques Dellatours Bruder William das gesamte Anwesen. Dieser war jedoch schon vor Jahren an die Westküste ausgewandert und wollte mit Plantagen und Sklavenzucht nichts zu tun haben. Er verkaufte das Anwesen zu einem Spottpreis an einen Amerikaner, der seit Oktober 1848 mein oberster Herr ist.
Naobi und ich kamen uns näher, aber von Liebe konnte keine Rede sein. Sie war mir nicht besonders dankbar dafür, dass ich ihr das Leben gerettet habe, als ich ihr die Anweisung gab, in jener todbringenden Nacht unter dem Bett statt darin zu schlafen. Haiduro wurde zwei Wochen später in Vacherie hingerichtet, und sie kam über den Schmerz nie wirklich hinweg. Ich akzeptierte das, und so lebten wir zusammen wie Mann und Frau, deren Liebe erloschen ist.
Kinder haben wir nie geplant, alleine schon deshalb nicht, weil wir wussten, dass es keinen Sinn hätte: Das Böse würde auf Oak Alley zurückkehren, oder dorthin, wo immer wir uns auch befanden. Es würde uns aufspüren und zu Ende bringen, was es vor drei Jahren begonnen hatte. Wenn Santos sich das Stammbuch angesehen hatte, und das hatte er, verdammt, immerhin ist er der Teufel, dann würde er wissen, dass die Zahl der gestohlenen Seelen nicht mit der Arbeiterzahl des Buches übereinstimmte. Der Teufel macht keine halben Sachen.
Auf Oak Alley arbeiten heute wieder vierundvierzig Sklaven, und eine Handvoll Hausangestellter. Sicher, es ist heute nicht mehr wie damals, in der Blütezeit Oak Alleys. Man merkt die Depression, den Niedergang wohin man blickt. Im Norden werden bereits Pläne geschmiedet, uns Sklaven zu befreien, und den Plantagenbesitzern will das gar nicht schmecken.
Die Himmel verheißen nichts Gutes.
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Dies ist das Ende meiner Geschichte, und der von Oak Alley und ihrem Niedergang. Ich bin froh, das Schreiben noch rechtzeitig beendet zu haben... ich hoffe ich finde noch die Zeit, in meine Hütte zu gehen und dieses beinahe vollständig ausgefüllte Notizbuch zu verstecken. Die Zeit drängt wirklich sehr.
Am Herrenhaus ist die schwarze Fahne gehisst. Naobi ertrank heute Morgen im Wasserbrunnen. Eine der Angestellten, die gerade die Blumen am Balkon des Hauses bewässerte, hat sie gesehen. Sie meinte, Naobi wäre gesprungen.
Aber ich weiß es besser. Und der große, schwarze Rabe, der schon seit Stunden in der Baumkrone über mir sitzt, ebenso.“
29
Dean klappte das Buch zu.
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„Mein Gott“, sagte Kevin.
Dean starrte ins Leere. Es war eine überwältigende Geschichte gewesen, die sie da unter den alten Dielen der Sklavenhütte gefunden hatten.
„Hier unten hat er gelegen!“ Kevin deutete auf die zusammengenagelten, morschen Bretter, die einst das Bett des Sklaven Marijo gebildet hatten. „Gelegen und sich zu Tode gefürchtet.“ Plötzlich sah er Dean an. „Glaubst du es?“
Dean atmete laut. „Ich werde es nicht wagen“, sagte er schließlich. „Ich werde es nicht wagen, an diesen Worten zu zweifeln.“
Dann stand er auf. „Komm! Es ist spät geworden.“
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Die Sonne stand bereits tief, als Kevin und Dean über die Absperrung zurück auf den Touristenpfad stiegen.
„Weißt du was?“, sagte Kevin. „Jetzt würde ich doch gerne das Herrenhaus sehen.“
Deans Blick war ernst. „Dafür ist es jetzt zu spät. Die schließen gerade. Hoffen wir, dass Mum nicht verärgert ist.“
Sie fanden ihre Mutter zusammen mit Tante Emily nahe dem Kaffeehaus, das gerade seine Pforten dicht machte. „Kevin, Dean! Wo zum Teufel habt ihr gesteckt?“
Kevin lief es eiskalt über den Rücken, als er die Worte seiner Mutter hörte.
32
Zwanzig Minuten später fuhr Maria Procter zusammen mit ihren Söhnen Kevin und Dean und ihrer Schwester Josepha Stevenson auf der LA18 den Mississippi entlang.
Dean saß am Rücksitz, und seine Finger strichen über das kleine, braune Ding auf seinem Schoß. Die Gespräche der beiden Frauen registrierte er nicht, während er aus dem Fenster starrte. Er fragte sich mit einem Male, ob es nicht vielleicht ein Fehler gewesen war, das Buch zu lesen und noch dazu zu entwenden. Und plötzlich, als hätte er irgendwas auf dem weiten Felde neben der Straße erblickt, erblasste er.
„Mum?“, fragte er mit zittriger Stimme. „Hast du eigentlich unsere Namen ins Gästebuch eingetragen?“
„Selbstverständlich, Schatz! Kevin, Dean und Maria Procter aus Jackson, Alabama. Kevin hat ja gesagt, ich soll euch…“
Doch Dean hörte die Worte seiner Mutter nicht mehr. Er war der Ohnmacht nahe. Seine Gedanken kreisten um einen einzigen Satz, den er heute Nachmittag gelesen hatte:
Der Teufel macht keine halben Sachen.
Der silbergraue Ford Taurus fuhr dem Sonnenuntergang entgegen, und während sich die Wolken grau verfärbten und immer dichter aneinander drängten, schoss ein schwarzer Vogel durch die Lüfte und folgte kreischend dem Wagen.
Die Himmel verhießen nichts Gutes.