Die Präsidentin und der Schmerz
Thomas liegt auf dem Lazarettbett und starrt auf die Stümpfe. Deutlich fühlt er einen Schmerz im Fuß, dann tobt einer in der rechten Wade. Seltsam, denkt Thomas, da haben die Eskimos zig Worte für Schnee und wir mit den beiden bestialischen Kriegen und all den Krebspatienten und Autobahnopfern nur ein einziges Wort für Schmerz. Mir fällt partout kein anderes ein. Ob er pocht, sticht, brennt, pulsiert, zerreist, immer heißt der Schmerz Schmerz. Leid, Gebrechen, nein, das ist was anderes.
Der linke Fuß schmerzt jetzt unerträglich. Wie kann das sein? Er hat doch der Beerdigung seiner Beine beigewohnt. Harry hat für sie einen kleinen Sarg gezimmert und dabei gebrummt, Abschiednehmen sei wichtig. Die Schmerzen überwältigen Thomas, er spürt dankbar, wie er in eine Ohnmacht gleitet. Ihm erscheint das Gesicht des jungen Soldaten, der aus der Notkapelle Weihrauch stahl, um es über die stinkende Kiste zu spritzen. ‘Drüben wirst du heil sein.’ ‘Pah’, hatte er erwidern wollen, war aber stumm geblieben. Der Soldat war sehr nett, Harry auch.
Thomas erwacht, als die Krankenschwester das Fenster aufreißt und hysterisch ruft: “Sie kommt! Sie kommt!”
Da wird auch schon eine Frau von Bodygards und Reportern ins Zimmer geschoben. Sie trägt ein rotes Kostüm, Stöckelschuhe, die Haare kurz. Unwillkürlich führt sie die rechte Hand unter die Nase. Die Krankenschwester beträufelt ein Taschentuch mit Limonensaft und reicht es ihr. Die Frau nimmt es verlegen an. Durch die Meute kämpft sich ein draller Offizier. Er schreit:
“Das hier ist Realität! Das hier ist die Wahrheit! Wollen Sie den Krieg noch immer leugnen? Er stinkt zum Himmel. Da kann man nicht einfach wegriechen.”
“Was erlauben Sie sich!”, zischt jemand. “Sie sprechen mit der Präsidentin! Mäßigen Sie den Ton!” Die Präsidentin hebt die Hand und sagt kaum hörbar:
“Lassen Sie uns allein!”
Engel hat Thomas sich anders vorgestellt, schön und von transparenter Zartheit. Die Frau im roten Kostüm hat Falten, gelbliche Zähne und robuste Schenkel. Sie ist trotzdem ein Engel. Sie sitzt auf dem Bett gegenüber, verbreitet den Geruch von Kernseife und Wurzelbürsten, Sauberkeit und Frieden. Das Morphium, denkt Thomas, und dann sagt er:
“Sie sollten ein Holzfällerhemd tragen und Bluejeans. Das stünde Ihnen besser.”
Die Präsidentin lächelt, an ihm vorbei ins Nichts.
“Ja, so würde ich mich wohler fühlen.”
“Ich werde nie mehr Bluejeans tragen”, sagt Thomas.
“Oh, doch. Nur etwas Geduld, man wird Ihnen Protesen fertigen. Sie werden sehen.”
“Dafür sind die Stümpfe zu kurz.”
Die Präsidentin schaut aus dem Fenster.
“Es tut mir so leid.”
“Wissen Sie, dass ich meine Beine spüre, obwohl sie vergraben sind? Sie tun höllisch weh.”
“Phantomschmerzen”, bemerkt die Präsidentin.
“Der Kopf im Wasserglas”, kichert Thomas. “Die ganze Welt ist eh nur im Kopf. Und wenn der Kopf kaputtgeht, ist die Welt futsch. All die schönen Bilder. Aber auch der ganze verdammte Mist.”
“Haben Sie ein schönstes Bild?”, fragt die Präsidentin und blickt auf ihre Hände.
“Oh, ja, das habe ich! Stellen Sie sich ein Mädchen vor, die Haut ist braun, die Haare blauschwarz. Sie sitzt auf einer Wiese, den Rücken an den glatten Stamm eines Baumes gelehnt. An einem Ast hängen die Gewänder zum Trocknen. Durch silbrige Blätter fallen Sonnenstrahlen auf ein Glas. Es ist gefüllt mit hellgelbem Honig. Mit schlankem Finger fährt sie immer wieder hinein, sie nascht ungeniert wie eine junge Bärin.”
Ja, das sei wundervoll, sagt die Präsidentin, blickt unter sich und fragt:
“Ihre Freundin?”
“Nein”, sagt Thomas, “das letzte Bild mit Beinen. Das Mädchen war ein Köder.”
Die Präsidentin schaut aus dem Fenster ins Dunkle.
“Ich muss gehn”, sagt sie.
“Irgendwann müssen alle gehn, mit Beinen oder ohne sie”, sagt Thomas.
Er streckt ihr den Arm entgegen. Sie steht jetzt vor dem Bett, mit gesenktem Kopf.
“Wollen Sie mir nicht die Hand geben?”, fragt Thomas.
“Natürlich”, sagt sie.
Er zieht sie zu sich hinunter. Ja, im Arm ist noch Kraft. Ihr Gesicht ist dicht vor seinem.
“Politker kennen sich doch mit Worten aus. Kennen Sie ein anderes Wort für Schmerz?”
“Nein”, sagt sie leise.
“Schade”, sagt Thomas traurig. “Man sollte einen Wettbewerb ausschreiben.”
Sie lacht. Da bricht er ihr das Genick.
Der Engel rollt die Augen ins gelbliche Weiß.
Wie gut sie es hat, denkt Thomas. Nicht mal Zeit zum Erstaunen. Er stößt den Körper von sich und lauscht. Angst hat er keine. Was kann man ihm schon tun.
Er wartet. Es ist still, zu still, so still, dass er weiß, was kommt. Ja, er hat Recht. Schüsse knallen, pfeifen, donnern. Ein Abschiedskonzert, nicht übel. Der Mond schiebt sich ins Fenster.
“Friss mich”, bittet Thomas.
Sein Blick bohrt sich in den Mondmund. Aus roten Augen hüpft etwas in den Schlund. Es ist derart winzig, dass niemand daran glauben könnte, selbst wenn er wollte.