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Die Präsidentin und der Schmerz

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02.09.2010
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Die Präsidentin und der Schmerz

Thomas liegt auf dem Lazarettbett und starrt auf die Stümpfe. Deutlich fühlt er einen Schmerz im Fuß, dann tobt einer in der rechten Wade. Seltsam, denkt Thomas, da haben die Eskimos zig Worte für Schnee und wir mit den beiden bestialischen Kriegen und all den Krebspatienten und Autobahnopfern nur ein einziges Wort für Schmerz. Mir fällt partout kein anderes ein. Ob er pocht, sticht, brennt, pulsiert, zerreist, immer heißt der Schmerz Schmerz. Leid, Gebrechen, nein, das ist was anderes.
Der linke Fuß schmerzt jetzt unerträglich. Wie kann das sein? Er hat doch der Beerdigung seiner Beine beigewohnt. Harry hat für sie einen kleinen Sarg gezimmert und dabei gebrummt, Abschiednehmen sei wichtig. Die Schmerzen überwältigen Thomas, er spürt dankbar, wie er in eine Ohnmacht gleitet. Ihm erscheint das Gesicht des jungen Soldaten, der aus der Notkapelle Weihrauch stahl, um es über die stinkende Kiste zu spritzen. ‘Drüben wirst du heil sein.’ ‘Pah’, hatte er erwidern wollen, war aber stumm geblieben. Der Soldat war sehr nett, Harry auch.
Thomas erwacht, als die Krankenschwester das Fenster aufreißt und hysterisch ruft: “Sie kommt! Sie kommt!”
Da wird auch schon eine Frau von Bodygards und Reportern ins Zimmer geschoben. Sie trägt ein rotes Kostüm, Stöckelschuhe, die Haare kurz. Unwillkürlich führt sie die rechte Hand unter die Nase. Die Krankenschwester beträufelt ein Taschentuch mit Limonensaft und reicht es ihr. Die Frau nimmt es verlegen an. Durch die Meute kämpft sich ein draller Offizier. Er schreit:
“Das hier ist Realität! Das hier ist die Wahrheit! Wollen Sie den Krieg noch immer leugnen? Er stinkt zum Himmel. Da kann man nicht einfach wegriechen.”
“Was erlauben Sie sich!”, zischt jemand. “Sie sprechen mit der Präsidentin! Mäßigen Sie den Ton!” Die Präsidentin hebt die Hand und sagt kaum hörbar:
“Lassen Sie uns allein!”

Engel hat Thomas sich anders vorgestellt, schön und von transparenter Zartheit. Die Frau im roten Kostüm hat Falten, gelbliche Zähne und robuste Schenkel. Sie ist trotzdem ein Engel. Sie sitzt auf dem Bett gegenüber, verbreitet den Geruch von Kernseife und Wurzelbürsten, Sauberkeit und Frieden. Das Morphium, denkt Thomas, und dann sagt er:
“Sie sollten ein Holzfällerhemd tragen und Bluejeans. Das stünde Ihnen besser.”
Die Präsidentin lächelt, an ihm vorbei ins Nichts.
“Ja, so würde ich mich wohler fühlen.”
“Ich werde nie mehr Bluejeans tragen”, sagt Thomas.
“Oh, doch. Nur etwas Geduld, man wird Ihnen Protesen fertigen. Sie werden sehen.”
“Dafür sind die Stümpfe zu kurz.”
Die Präsidentin schaut aus dem Fenster.
“Es tut mir so leid.”
“Wissen Sie, dass ich meine Beine spüre, obwohl sie vergraben sind? Sie tun höllisch weh.”
“Phantomschmerzen”, bemerkt die Präsidentin.
“Der Kopf im Wasserglas”, kichert Thomas. “Die ganze Welt ist eh nur im Kopf. Und wenn der Kopf kaputtgeht, ist die Welt futsch. All die schönen Bilder. Aber auch der ganze verdammte Mist.”
“Haben Sie ein schönstes Bild?”, fragt die Präsidentin und blickt auf ihre Hände.
“Oh, ja, das habe ich! Stellen Sie sich ein Mädchen vor, die Haut ist braun, die Haare blauschwarz. Sie sitzt auf einer Wiese, den Rücken an den glatten Stamm eines Baumes gelehnt. An einem Ast hängen die Gewänder zum Trocknen. Durch silbrige Blätter fallen Sonnenstrahlen auf ein Glas. Es ist gefüllt mit hellgelbem Honig. Mit schlankem Finger fährt sie immer wieder hinein, sie nascht ungeniert wie eine junge Bärin.”
Ja, das sei wundervoll, sagt die Präsidentin, blickt unter sich und fragt:
“Ihre Freundin?”
“Nein”, sagt Thomas, “das letzte Bild mit Beinen. Das Mädchen war ein Köder.”

Die Präsidentin schaut aus dem Fenster ins Dunkle.
“Ich muss gehn”, sagt sie.
“Irgendwann müssen alle gehn, mit Beinen oder ohne sie”, sagt Thomas.
Er streckt ihr den Arm entgegen. Sie steht jetzt vor dem Bett, mit gesenktem Kopf.
“Wollen Sie mir nicht die Hand geben?”, fragt Thomas.
“Natürlich”, sagt sie.
Er zieht sie zu sich hinunter. Ja, im Arm ist noch Kraft. Ihr Gesicht ist dicht vor seinem.
“Politker kennen sich doch mit Worten aus. Kennen Sie ein anderes Wort für Schmerz?”
“Nein”, sagt sie leise.
“Schade”, sagt Thomas traurig. “Man sollte einen Wettbewerb ausschreiben.”
Sie lacht. Da bricht er ihr das Genick.
Der Engel rollt die Augen ins gelbliche Weiß.

Wie gut sie es hat, denkt Thomas. Nicht mal Zeit zum Erstaunen. Er stößt den Körper von sich und lauscht. Angst hat er keine. Was kann man ihm schon tun.
Er wartet. Es ist still, zu still, so still, dass er weiß, was kommt. Ja, er hat Recht. Schüsse knallen, pfeifen, donnern. Ein Abschiedskonzert, nicht übel. Der Mond schiebt sich ins Fenster.
“Friss mich”, bittet Thomas.
Sein Blick bohrt sich in den Mondmund. Aus roten Augen hüpft etwas in den Schlund. Es ist derart winzig, dass niemand daran glauben könnte, selbst wenn er wollte.

 

Schon dieser Satz über die "appen Beine" wie der Ruhri sagt, lohnt, die Geschichte zu lesen,

liebe hula hoop:

Der linke Fuß schmerzt jetzt unerträglich. Wie kann das sein? Er hat doch der Beerdigung seiner Beine beigewohnt.

Oder auch

“Irgendwann müssen alle gehn, mit Beinen oder ohne sie”, sagt Thomas.

Und doch scheint es dem Amputierten ein Problem zu sein, dass Inuit, die er immer noch volkstümlich als Fleischfresser bezeichnet, mehr Ausdrücke für Schnee haben als im Deutschen für Schmerz verwendet werden. Doch dem wäre entgegenzuhalten, dass nichts darüber bekannt sei, ob es auf Grönland Schneegeld gäbe.

Aber im Ernst: es gibt mehr als genug Begriffe, welche unterschiedliche Schmerzempfindungen beschreiben – wie der vom hohen Besuch am Krankenlager bezeichnete Phantomschmerz. Aber muss man gleich jemand das Genick brechen, weil er entgegen der eigenen Meinung ein zwotes Wort weiß?

Da stünde der Präsidentin auch kein Holzfällerhemd mehr - und wäre es noch so chic … Was selbstverständlich ironisch gemeint ist und zudem auch noch in formvollendeten Konjunktiv irrealis daherkommt, was meiner Frage nach dem Sinn von Straßenlaternen an anderer Stelle hierorts eine feine Ergänzung und Variante gibt.

Die Bandbreite Deiner kurzen Geschichten ist enorm und das wichtigste überhaupt: gut und knapp erzählt (obwohl mir die Monk-Variante mit allen Abschweifungen hundsgemein [!] gefällt. Gute Literatur lässt sich nicht in Schubladen zwingen, wenn auch der größte Künstler zugleich Oberbuchhalter und somit im Schubladendenken befangen sein kann.)

Bisschen von der Kleinkrämerseele:

zerreist
Nicht von reisen, sondern reißen (bei unteutscher Tastatur:reissen)
Protesen
th,

was wenig genug Futter für die Kleinkrämerseele ist.

Gruß

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Guten Tag, hula hoop,

Das ist solide geschrieben, Portion Moral und Portion Gefühl, dafür wenig Geschichte, denn plötzlich kam der Schluß und störte mich am meisten.

Der Mond schiebt sich ins Fenster.
“Friss mich”, bittet Thomas.
Sein Blick bohrt sich in den Mondmund. Aus roten Augen hüpft etwas in den Schlund. Es ist derart winzig, dass niemand daran glauben könnte, selbst wenn er wollte.
Es ist wohl kaum Nacht, wenn die Präsidentin kommt. Also schiebt sich irgendwas in sein Gesichtsfeld, das er als Mond bezeichnet. Es könnten Feinde sein, die ihn töten kommen, der hübsch dicke Lauf einer Mordswaffe, das ist zwar weit hergeholt, aber wer weiß, wie bedudelt der Held ist. Es hüpft etwas aus roten Augen in den Schlund, also eher von ihm zu dem anderen, da er in den Mund starrt. Könnte seine Seele sein, die er aushaucht, da es mit den Worten winzig und glauben mystisch verziert wird. Das wäre ziemlich plausibel, andererseits völlig unbefriedigend für mich, denn nach diesen kryptischen Bildchen könnte das Geschieße und Gedonnere auch schon Einbildung gewesen sein. Der Mann hat vielleicht alles nur phantasiert. Und ist dabei vor sich hingestorben. Oder auch nicht. Hat die Präsidentin umgebracht oder auch nicht, egal, ich als Leser soll vielleicht einfach mal darüber nachdenken, wie das ist mit dem Krieg! (Dabei hab ich neulich erst gelesen, die Eskimos hätten gar keine hundert Wörter für Schnee.)
Als ich soweit war, hatte ich es satt, hatte meinen Grips lange genug an etwas gewetzt, das auch ein elaborierter Trugschluß, ein Verlegenheitsschluß gewesen sein könnte, um aus einer allzu klassischen Szenerie und Personenkonstellation schnell und einfach wieder rauszukommen.

Diese Fehler fielen mir auf:

Ob er pocht, sticht, brennt, pulsiert, zerreist
zerreißt
man wird Ihnen Protesen fertigen.
Prothesen
“Es tut mir so leid.”
“Wissen Sie, dass
Da ist einmal alte Rechtschreibung zwischen all der neuen. Hübsch, aber bestimmt nicht mit Absicht.

Gruß,
Makita.

 

Hallo Hula Hoop,

Eskimo-Sprachen haben tatsächlich nicht mehr Wörter für Schnee, als andere Sprachen. Das hängt zum einen damit zusammen, dass andere Sprachen (wie z.B. das Deutsche) ebenfalls mehrere Wörter haben ( meist Komposita, wie die Inuit-Sprachen auch), und zum anderen damit, dass die gemeinten Sprachen Polysynthetisch sind, was heißt, dass sie mit Hilfe von Affixen in einem Wort das ausdrücken, wofür wir einen ganzen Satz brauchen, ganz unabhängig davon, ob es um Schnee oder sonstwas geht. Das ganze kann man auch bei Wikipedia nachlesen.

Natürlich könnte man sagen, der Prota glaubt halt wie so viele andere auch an dieses Schnee-Eskimo-phänomen, aber eine ganze Geschichte drauf aufzubauen finde ich schwierig.

Wie wärs, wenn du das einfach weglässt und als Aufhänger für seine leicht irre Suche nach einem zweiten Wort für Schmerz (vermutlich reichen ihm Komposita da nicht aus) Seine Suche nach Ausdruck für das, was er empfindet nimmst?
Er könnte das Gefühl haben, dass das Wort nicht reicht, er erhofft sich Besserung durch das Aussprechen seiner Empfindung. Da er schon ziemlich neben sich steht (liegt) würde es doch passen, wenn er den Unterschied zwischen Gefühlen wie Trauer oder Wut einerseits und dem Schmerzempfinden andererseits nicht rafft, und nun gibt er verzweifelt dem Wort die Schuld daran, dass es gegen physischen Schmerz nicht hilft.

Na, vielleicht kannst du dem Vorschlag ja was abgewinnen,

Gruß, Streifenkaninchen!

 

Ich hab ein Problem mit dieser Geschichte. Makita tut das relativ banal ab "Bisschen Moral, bisschen Gefühl", tjo, ich find den Text erschreckend auf Wirkung kalkuliert. Mit den fast kitschigen Bildern und dem Schluss, und dass er da die Präsidentin in einem Halbsatz tatsächlich, als überraschende Pointe umbringt, ... ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll. Rechtfertigt die dünne Vorgeschichte so einen Schritt? Ein deprimierter Kriegsversehrter, der seine Präsidentin umbringt, als persönliche Genugtuung? Sollte man das als Leser gut finden? Und man sieht ja an den Reaktionen auch, dass ist eigentlich hier ein riesen moralisches Dilemma. Eine wahnsinnige Grundfrage. Und die Leute tun das hier mit einem Achselzucken ab und reden über Schnee.
Das ist für mich immer das Problem bei solchen Geschichten, die ein soo großes Thema anpacken und dann zu kurz springen. Natürlich ist das Thema interessant, natürlich ist der Text auch gut geschrieben. Aber wenn man sowas auffährt, so eine riesen Kanone, dann darf da nicht nur ein Schüsschen rauskommen, weil man sich als Leser sonst furchtbar abgestumpft fühlt. Da muss dann einfach mehr dahinter sein. Riesen Konflikt hier, riesen Potential für Unterfütterung und knapp und furchtbar eindimensional erzählt.
Wie soll ich mich als Lesr fühlen, wenn mir so ein existentieller Konflikt gezeigt wird, so ein spannendes Thema, und der Text löst bei mir ein Unbehagen aus, weil er so kalkuliert und eindimensional wirkt? Dem Mord an Tyrannen da, der entscheidenden Tat seines Lebens, wird überhaupt keine Bedeutung beigemessen. Das ist zu viel Stoff für den Text. Das geht nicht. Man stumpft den Leser auch ab, wenn man ihm Menschen so präsentiert, als könne man in der entscheidensten Sekunde ihres Lebens, einen Entscheidungs und Denkprozeß von Monaten, mal eben so - zwischen Tür und Theke - erklären. Das ist Erzählen auf einem Niveau, das die Welt als ganz einfach beschreibt. Nicht von der Sprache her, sondern von der Weltsicht, vom Aufbau der Geschichte her.

Man kann einen Tyrannen, für den Leser befriedigend, nicht unter - was weiß ich - 5 Seiten umbringen. Ich weiß nicht, wo da die Grenze liegt. Der Text hier ist für mich deutlich drunter.

Gruß
Quinn

 

Lieber Friedrichard, liebe Makita, liebes Streifenhörnchen, lieber Quinn!

Man dankt wie immer artig für Zeit-und Geistaufwand, und freut sich sehr über Vorschläge und auch Vernichtendes!

Lieber Friedrichard, wo bleibt denn das Contra zu den Pro-Thesen? Das mit dem s, statt ß oder ss pasiert dem Rheinhessen öfter. Ich spreche etwa Sch ... mit einem s aus und sage – oh Graus - Plume statt Blume (dennoch glauben alle, ich sei aus Hannover , da siehste mal: Keiner hört mehr zu und hin, auser Euch.)

Liebe Makita, warum soll es nicht Nacht sein? Meinst du, bei Blitzbesuchen auf Kriegsschauplätzen wie in Afghanistan ist’s immer taghell? Auf der Kleinschreibung von: es tut mir leid, bestehe ich (es tut mir weh, er tut mir schön, der Duden hat nicht immer Recht (hier gebe ich klein bei, auch wenn’s mir klein besser gefällt!)
Ja, es hüpft aus seinen Augen, das Seelchen, wenn man denn dran glaubt.

Liebes Streifenkaninchen, ich werde meinen Linguistikprofessor verklagen, der das mit den Eskimos behauptet hat. Naja, Ende der 70iger wurde jeder Depp noch Professor. Oder waren das die Hopi (wie schreibt man das?)- Indianer - und für einen ganz anderen Sachverhalt?

Lieber Quinn, wieso Tyrannenmord? Die Dame ist doch sehr nett, etwas linkisch, sehr menschlich. Wollte, für Hitler hätte man einen einzigen Satz gebraucht und keine 5 Seiten.
Worum’s mir ging: Um gestörte Kommunikation, um Sprachlosigkeit. Und die Form entspricht diesem Inhalt.

 

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