Hallo Woltochinon,
was genau ist inhaltliche Qualität? Für mich ergibt sich die Qualität einer Kurzgeschichte (oder die gefühlte Qualität) meistens durch eine Kombination von Inhalt und Stil/Form. Diese Verbindung macht doch meistens das eigentliche Wesen einer Geschichte aus. Ein toller Plot, schwach umgesetzt, lässt den Leser ebenso unbefriedigt zurück wie eine sprachliche Perle, die eine unzureichende Geschichte erzählt. Obwohl ich behaupten würde, dass überragende formale Qualität es sogar schaffen kann, inhaltliche Schwächen zu vertuschen oder zumindest auszugleichen, einfach weil das Thema gut umgesetzt ist. Mit anderen Worten: Eine „schlechte“ Idee „gut“ umgesetzt wird doch oft positiver aufgenommen als eine „gute“ Idee, die dafür „schlecht“ umgesetzt worden ist. Stil und Form tragen den Inhalt entscheidend mit. Geht es einem nicht oft so, dass man jemandem eine schöne Geschichte resümieren möchte und feststellt, dass die bloße Wiedergabe des Inhalts extrem langweilig klingt, dass einen die Geschichte beim Lesen aber sehr berührt hat?
Unter anderem wird die Meinung vertreten, die Aufgabe einer guten Kurzgeschichte sei es, Gefühle zu wecken.
Ich denke, dass das in abstrahierter Form wirklich für alle Kurzgeschichten gilt. Selbst wenn die Geschichte eine klare Aussage verfolgt, ist sie doch gleichzeitig darauf ausgerichtet, im Leser Gefühle zu wecken. Eine gesellschaftskritische Geschichte will kritisieren, aber erreichen wird sie den Leser vermutlich am besten, wenn sie seine Gefühle aktiviert – Mitleid, Empörung, Verwirrung, Betroffenheit könnten das in diesem Falle sein. Die Gefühle bilden dann eine Ansatzstelle für die eigentliche Aussage der Geschichte. Im Beispiel der gesellschaftskritischen Story hieße das für mich, dass ich als Leser für die Kritik empfänglich werde, weil die Geschichte in mir Empfindungen ausgelöst hat.
Zentraler Gegenstand von Texten werden Inhalte wie Missbrauch, Suizid usw. Oft bewegen sich solche Texte auf der Ebene von Berichten, ohne eine über das Geschehen hinausgehende Aussage. Deshalb die Frage: Braucht eine (gefühlsorientierte) Geschichte eine Aussage?
Was ist eine Aussage? Ich bin hier nicht ganz sicher, ob ich da auf der richtigen Fährte bin. Heißt die Aussage einer Geschichte: die Geschichte mit dem Ziel schreiben, noch etwas anderes als die Gefühle anzusprechen?
In diesem Fall … Ich weiß es nicht, aber ich glaube, dass auch eine ausschließlich gefühlsorientierte Geschichte automatisch eine Aussage hat. In deinen Beispielen zählst du Missbrauch und Suizid auf. Natürlich kommt hier hinzu, dass es wohl verdammt schwer ist, eine „gute“ Suizid- oder Missbrauchsgeschichte zu schreiben. Das wäre für mich eine, die Gefühle in mir weckt, ohne danach zu heischen. Das beste Beispiel sind Suizidgeschichten. Wenn ich während des Lesens nicht das Gefühl habe, dass entweder der Prot ein erbärmlicher Schlappschwanz oder der Autor ein unkreativer Heini ist, dem kein anderes Ende einfällt, wenn ich nicht das Gefühl habe, dass der Prot mir mit einer Fahne entgegenwinkt ‚Hallo, ich bin ein armes Opfer, ich bringe mich jetzt um, und deshalb musst du Mitleid mit mir haben, verstehst du, MITLEID’ … dann könnte es sein, dass es eine „gute“ Suizidgeschichte ist. Die Betonung liegt auf den Anführungszeichen um das Wort „gut“. Vielleicht sollte ich eher sagen: dass es eine ist, die ich dem Autor abnehme und die ich an mich heranlasse. Eine solche Geschichte könnte dann Gefühle in mir wecken. Zum Beispiel Betroffenheit, Traurigkeit. Braucht sie dann noch eine Aussage? Ich glaube, wenn sie die erwähnten Gefühle in mir weckt, dann hat sie einfach eine Aussage. Weil die Gefühle aus etwas Tieferem heraus provoziert worden sind als aus der von dir erwähnten „Lust an der Last der Gefühle“. Ich würde sagen, auch hier kommt wieder die Sache mit den formalen Aspekten zum Tragen. Denn gerade bei den von dir erwähnten Themen kommt es verdammt stark darauf an, wie sie umgesetzt worden sind.
Wagen wir Autoren nicht genug Neues, treten wir zu Lasten inhaltlicher Qualität auf der Stelle?
Was sollen wir Neues wagen? Die Frage ist, glaube ich, zu Unrecht als vorletzte gestellt, wichtiger finde ich:
Wie erhält man also inhaltliche Qualität, überprüft man einen Text auf Schlüssigkeit und andere qualitätsgebende Merkmale?
Hm, sicher empfinde ich einen Text als qualitativ „besser“, wenn ich feststelle, dass der Plot in sich schlüssig ist. Wenn ich eine Geschichte schreibe, passiert es auch oft, dass ich denke: Das und das musst du noch plausibel machen. Schlüssigkeit ist ein fundamentales Kriterium für jede Geschichte, weil der Leser unzufrieden ist, wenn sie nicht funktioniert. Wenn ich eine Geschichte erzähle, in der sieben Geißlein dem bösen Wolf die Tür öffnen und sich von ihm fressen lassen, ist diese Geschichte nicht schlüssig, weil die Geißlein eigentlich keinen Grund zu ihrem Verhalten haben. Baue ich aber ein, dass der Wolf sie mit einer Kreidestimme und einer mehlbestäubten Tatze überlistet hat, ist die Schlüssigkeit wieder gegeben. Es ist nicht das beste Beispiel, aber ich hoffe, das ist es, was du mit der Schlüssigkeit meinst. Was sind die ‚anderen qualitätsgebenden Merkmale’? Ich glaube, meine Gedanken drehen sich gerade im Kreis …
Woran messe ich inhaltliche Qualität?
An der Originalität des Inhalts? Wenn ich also z.B. etwas erzähle, was noch niemand vor mir erzählt hat?
An der Bedeutsamkeit des Inhalts? Aber bedeutsam für wen? Für mich als Autoren, als Leser, für die Menschheit insgesamt?
Vielleicht heißt inhaltliche Qualität auch: genau das zu erzählen, was für die Geschichte wichtig ist. Eben bei Kurzgeschichten scheint das ja wichtig. Wenn ich inhaltliche Qualität so begreife, komme ich aber wieder zu meinem Ausgangspunkt zurück, an dem sich Inhalt und Stil verschränken.
Oder erhalte ich inhaltliche Qualität, wenn ich eine Geschichte in erster Linie um des Inhalts willen schreibe, um die Geschichte zu erzählen, die ich dann auch erzähle - und nicht, um einfach irgendetwas zu erzählen, das ich dann sprachlich schön verpacke?
Ich glaube nicht, dass mein Posting hier viel vorangebracht hat, aber du bringst mich wirklich ins Grübeln mit deiner Qualitätsfrage. Ich fürchte fast, dass man auf der Suche nach der Antwort wieder in die Sache mit den Geschmäckern abdriften wird. Vielleicht lässt sich inhaltliche Qualität nur subjektiv bestimmen – also eigentlich gar nicht?
Liebe Grüße,
ciao
Malinche