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Die Reise
Die Türen schließen sich, begleitet von einem hydraulischen Zischen. Die Luft wirkt plötzlich schwerer, dichter, wie an einem schwülen Sommertag. Nervös streichst du deine Hose glatt. Dein Blick wandert auf der Suche nach Ablenkung; von der klebrigen Lache vor deinen Füßen über die abgenutzten Sitzbänke, zur Decke. Alles ist in gelbes Licht getaucht. Du zählst die Lampen, es beruhigt dich, lässt dich vergessen, wo du bist. Acht Stück auf jeder Seite, nein, halt; auf der Linken sind es nur sieben, eine ist kaputt.
Die anderen Fahrgäste haben sich gleichmäßig verteilt, jeder für sich, alleine in seiner stillen Einsamkeit. Alle sitzen in Fahrtrichtung. Vielleicht wird ihnen sonst schlecht, vielleicht wollen sie auch nur sehen, was auf sie zukommt, dort in der Dunkelheit auf sie lauert.
Du verscheuchst diesen Gedanken und schaust nach draußen. Noch fahrt ihr überirdisch, trotzdem bist du von Dunkelheit umgeben. Schon seit Tagen wird es nicht mehr richtig hell; die Nacht hat den Tag verschluckt.
Die Lichter der Stadt vermischen sich mit schemenhaften Reflexionen auf der zerkratzten Scheibe. Du verspürst Unruhe, deine Blase drückt. Als du über deine Stirn streichst, spürst du einen leichten Schweißfilm. Du fühlst dich beobachtet, doch keiner hat sich umgedreht; sie blicken weiter starr geradeaus, obwohl es dort nichts zu sehen gibt.
Der Zug wird langsamer, dein Atem beruhigt sich. Die Türen öffnen sich mit dem selben Zischen. Klare, kühle Luft flutet deine Lungen. Du schließt die Augen und atmest Freiheit.
Ein paar Fahrgäste steigen aus und andere nehmen ihren Platz ein. Mit einem Rucken geht die Fahrt weiter. Keiner spricht, als fürchteten sie sich, die bleierne Stille zu zerreißen. Das Bild bedrückt dich, du schaust wieder aus dem Fenster.
Lichter ziehen an dir vorbei. Ein, zwei Mal erhascht du einen Blick in eines der erhellten Fenster. Der Anblick suggeriert Harmonie und Geborgenheit; als gebe es noch eine andere Welt außerhalb dieser.
Plötzlich verschwinden die Lichter. Wenige Zentimeter vor deinem Gesicht, nur durch die Glasscheibe getrennt, rast schmutziger Beton an dir vorbei. Dein Herz schlägt schneller, deine Beine fangen an zu kribbeln. Du versuchst dich zu beruhigen, versicherst dir, dass du aussteigen könntest. Es funktioniert, die Angst geht zurück. Die Bahn wird langsamer, du siehst den Bahnsteig. Von künstlichem Licht beschienen, erscheint er noch schmutziger; trotzdem spendet er dir Hoffnung. Du sammelst neue Kraft, bekämpfst den Drang auszusteigen, aufzugeben. Du klammerst dich an die Illusion hinter der Scheibe und bemerkst nicht, dass immer mehr Menschen in den Wagon strömen.
Jemand setzt sich neben dich. Ein dicker, ungepflegter Kerl. Du machst ihm Platz, wirst in die Ecke gedrängt. Er riecht nach Alkohol und altem Schweiß. Du überlegst, das Fenster zu öffnen, doch entschließt dich dagegen. Nervös tippelst du mit den Füßen; eine Schweißperle läuft deine Schläfe hinunter. Du hörst eine Stimme. Ein Bettler bahnt sich seinen Weg durch die taubstumme Menge. Niemand sieht ihn an, alle ignorieren seinen kleinen Kaffeebecher. Als er dich erreicht, beugst du dich nach vorne und lässt Kleingeld in den Becher fallen. Müde Augen lächeln dich aus einem zerfurchten Gesicht an.
"Gott segne dich."
Du lächelst zurück und nickst. Die Bahn hält, der Bettler steigt aus und die Einsamkeit kehrt zurück. Immer mehr Gesichter strömen herein, ihre leblosen Körper versperren dir die Sicht. Du fühlst dich gefangen, ohne Ausweg. Der Geruch ihrer Leiber hängt in der Luft, macht dir das Atmen unmöglich. Du stehst auf, deine Beine fühlen sich schwer an. Niemand macht dir Platz, du zwängst dich durch die Menge, berührst mit deinem Gesicht ihre stinkenden Körper; Ekel erfüllt dich. Schließlich erreichst du die Tür, die Masse schließt sich hinter dir. Gegen die Panik ankämpfend versuchst du dich zu erinnern, wie weit die nächste Station entfernt ist. Die Bahn verliert an Fahrt, du atmest erleichtert auf. Sie kommt zum Stehen; mitten in der Dunkelheit des Tunnels. Die Erkenntnis trifft dich wie ein Schlag. Schweiß läuft dir in die Augen, du siehst dich panisch um, doch keiner nimmt Notiz. Ein Knacken erfüllt den Wagon, du hörst eine Durchsage, doch verstehst sie nicht. Du bekommst keine Luft mehr, beginnst an der Tür zu zerren, die Hebel lassen sich nicht bewegen. Immer panischer zerrst du an ihnen, mit aller Kraft, die Tür öffnet sich, du fällst, schlägst hart auf; Blut fließt dein Kinn hinab, du stehst auf und läufst los.
Läufst einfach blindlings in die Dunkelheit.