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Die Rekrutierung

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13.02.2010
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Die Rekrutierung

Wenn man ihren Kopf von Weitem sah, bemerkte man sofort, dass ihr Haar so geschnitten war, dass die Silhouette die Form eines Sechsecks bildete. Darunter die Lehrerinnenkombination: meist ein gedeckter Hosenanzug, ein Hauch von Lippenstift, als besonders Accessior eine Perlenkette, die über dem Kragen des mattweißen Pullovers lag, und eine Brille mit dunklem Rand, die diesem jungen und an sich vielleicht sogar ganz hübschen Wesen noch mehr lehrerhafte Strenge verlieh. Und als sie sagte: „Dann bewirb dich doch!“, klang das streng und sachlich.

Obwohl sie im Lehrerzimmer nebeneinander saßen, war ihre Beziehung noch immer kühl und distanziert. „Das wäre doch was für dich“, legte sie nach. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Aber er blieb vorsichtig. „Ich habe kein Interesse“, antwortete er distanziert, „Verwalten ist nicht meine Stärke. Und daher lasse ich die Finger davon“ Damit glaubte er, das Thema hinreichend kommentiert zu haben, aber sie ließ nicht locker: „Sie brauchen Leute wie dich: kommunikativ, gute Organisatoren, Macher.“ Natürlich war auch er Komplimenten zugänglich – besonders solchen - aber er hatte wirklich keine Lust sich zu bewerben. Schon gar nicht für diesen Job. Und selbst wenn er sich anders entscheiden wollte, wäre sie die letzte gewesen, der er das auf die Nase gebunden hätte. Woher sollte ausgerechnet sie wissen, wen sie brauchten? „Aber ich ...“, setzte sie gerade an, als der Gong ertönte, der ihre gemeinsame Zwischenstunde und ihr Gespräch jäh beendete.

Ein paar Minuten später hatte er die Blätter in der Klasse verteilt, Mit viel Gerumpel hatten sich die Schüler über ihre Schulaufgabe gemacht, eine Gedichtinterpretation – Heine und Eichendorff. Etwas Handfestes. Kein Abdriften ins Fantastische. Gute Literatur also.

Stille stellte sich ein. Und mit ihr etwas Langeweile. Sein Blick wanderte über die schreibende Schüler, aus dem Fenster hinüber zur Tankstelle, glitt über die veralteten Plakate an der Rückwand des Zimmers, die auf die letztjährige Landesausstellung hinwiesen. Vor ihm auf dem Pult: Angabenblätter, weiße Bogen in A4, seine Armbanduhr auf dem Pult. Sie tickte ganz leise.

In dieses Ticken hinein hörte er ein leises, aber energisches Kratzen hinter sich. Ein Knuspern wie von Mäusen, aber leiser und doch abgehackter, zielstrebiger. Er blickte sich um: Nichts war zu sehen. Dann wieder das Knabbern eindeutig von rechts kommend. Wieder nichts. Nur die Tafel, blank geputzt. An die Seitentafel hatte er „Viel Erfolg“ geschrieben, womit er schon seit Jahrzehnten – auf gerade zu lächerliche wie romantische Weise - seine Schüler motivieren will. Daneben hatte ein Schüler eine stark stilisierte Blume gezeichnet.

Das Knuspern war nun deutlicher zu hören, war jetzt noch lauter und noch verunsichernder. Wieder ein Blick an die Tafel; wieder nichts, oder besser: fast nichts. Eine ganz geringfügige Veränderung hatte er wahrgenommen: In der Mitte der Blüte warf sich der Lack etwas auf, kräuselte sich, mehr und mehr; und langsam entstand ein Loch, erst ein ganz kleines, das immer größer wurde. Und am Rand des Loches nahm er etwas Violettes wahr. Kleine bananenförmige Wesen, scheinbar ohne Gliedmaßen, durchsichtig wie Quallen, arbeiteten sich wie gefräßige Schnecken durch das Loch, ohne dass jedoch so etwas wie ein Maul erkennbar gewesen wäre. Erst waren es nur wenige, dann wurden sie immer mehr. Sie verteilten sich über die Tafel, die meisten um das Loch herum, einige fielen mit einem satten Geräusch auf den Boden, leuchteten dort kurz orange auf und zerfielen implodierend.

Ungläubig und verwirrt – unfähig etwas zu tun - betrachtete er das Ereignis. Wie würden seine Schüler darauf reagieren? Er stand auf, ging, so gelassen wie möglich, zur Seitentafel, um sie nach innen zu klappen, Er zog etwas, aber sie gab nicht nach; zog mehr – wieder nichts. Widerstand. Nun zog er so fest er nur konnte. Und plötzlich gab die Tafel nach, mit einem „Plopp“, so ähnlich wie man es vom Gefrierschrank kennt, nur viel lauter.

Nur für einen Moment sah er dann ein quadratisches Loch in der Wand. Ein gewaltiger Sog ergriff ihn, zog ihn hindurch in einen Raum ohne Begrenzungen, in einen wirren Strudel. Es gab kein Oben und Unten mehr; kein Links, kein Rechts. Lichtpunkte, schwammartig Fluoreszierendes klatschte ihm ins Gesicht. Doch alles umgeben von Stille – nur das Brausen des Soges. Es war wie ein Fallen ins Nichts und dennoch war da dieses Gezogenwerden. Schneller und immer schneller. Weit vorne tauchte ein Lichtschimmer auf, der immer größer und heller wurde, gleißendes Licht, das zu einer Wand wurde, auf die er zuraste, auf der er zu zerschellen drohte. Nur noch ein kurzer Moment vor dem Aufschlag ..

Dann ein weiches Abfedern in einem riesigen Daunenbett. Ein kurzes Nachschwingen. Als er die Augen öffnete, sah er sie: Zuerst das Hexagon ihres Kopfes, dann aber ihr mädchenhafter Körper, glatt und leicht gebräunt, sich anschmiegend, von einem wohligen Duft umgeben, schlangenhaft; lächelnd; die Hände zwischen seine Schenkel gleitend. Dann ein Kuss, weich, ein Hauch, nur der Hauch eines Hauches auf seine Lippen. Und ihrer Stimme, rauchig sanft: „Nun geh schon!“

Mit diesen Worten schob sie ihn aus dem Bett und durch eine Tür in ein gewaltiges Büro; in der Mitte ein Schreibtisch; dahinter ein Mann in einer Lodenjanker, mit einen Henriquatre im Gesicht. Er schaut von seinen Akten auf.
„Wo bin ich?“, stotterte er. – „Im Kulturministerium natürlich! Sie sind doch der neue Schulleiter von ..?“ Er schrie laut: „Nein!“ Da öffnete der Beamte lächelnd die Schublade seines Schreibtischs und ein gewaltiger Schwarm der violetten Wesen quoll daraus hervor, ergoss sich über ihn; hüllte ihn ein, sie fingen an zu knabbern, zuzubeißen ...

 

Hi Rasmus,


Der Anfang der Geschichte hat mir gut gefallen. Vor allem die Beschreibung der sechseckigen Lehrerin fand ich sehr schön. Hatte insgesamt was Putziges (nicht falsch verstehen, ich fand das toll) und ich hatte in der Tat ein Bild vor Augen.
Die Schilderung der Klassenarbeit aus Lehrersicht war auch nett und von einem sehr leisen, aber durchaus vorhandenen Humor durchzogen. Als es dann ins Fantastische abdriftet, gelingt dir dieser Wechsel zunächst auch wirklich gut - aber sobald dein Lehrer durch den Strudel fliegt, habe ich komplett den Faden verloren.

Mag an mir liegen, aber ich habe am Ende der Geschichte das Gefühl, nichts verstanden zu haben. Seine Kollegin will, daß er sich als Schulleiter bewirbt, was er nicht tut und dafür von Würmern rekrutiert und dann gefressen wird? Ist er eingenickt und die Würmer stellen seine Angst vor der Beförderung dar? Sind Kultusminister Monster? Für meinen Geschmack ist das Ende leider sehr vage (oder ich hab irgendwas überlesen).

Zwei kleine Fehler sind mir aufgefallen:

schwammartig Fluoreszierendes klatschte mir ins Gesicht
ihm
die Hände zwischen meine Schenkel gleitend.
seine

 

Lieber Gnoebel,
ich befürchte, dass ich dir darauf keine Antworten geben kann. Es ist einfach so passiert :-)

 

Hallo Rasmus,

sehe den Text eher als ‚seltsam‘ an: Guter Einstieg, gibt den Leser Boden unter den Füßen, dann gleitet das Ganze in seltsame Realität ab.
Gut, dass du nicht alles einfach zum Traum erklärst (wird leider oft gemacht), die scheinbare Realität des Bettes ist wieder eine Scheinwelt – toll wäre es, wenn es hier eine Art ‚Lösung‘ (auch innerhalb der Irrealität) geben würde, so bleibt der Text unbefriedigend, verspielt Potential.

Woltochinon

 

Nein

Das will ich eben nicht. Und zwar, weil wir immer literarische Lösungen erwarten. Wir haben immer so einen Ästhetik der Ordnung im Kopf und wenn die nicht aufgeht, sind wir enttäuscht. Seien wir doch mal enttäuscht!

 

Hallo Rasmus,

dann komme ich eben deiner Aufforderung nach - ich bin enttäuscht.
Was hast du jetzt gewonnen? :dozey:

Ordnung hin oder her, aber letztlich muss es in sich stimmig sein. Sonst ist es willkürlich. In meinen Augen ist genau das einen Tick zu viel der Fall. Und damit geht der Text für mich nicht auf.

grüßlichst
weltenläufer

 

Einspruch Euer Ehren

Uns zwingt niemand zur Stimmigkeit außer unsere Erwartungen. Stars für Oslo - das ist Stimmigkeit, alle finden es Klasse, es überrascht aber niemanden. Warum nicht harmonisch beginnen, scheinbar das Spiel mitspielen und dann alles in einen Strudel des Grotek-Willkürlichen versinken lassen? Warum Realität? Was bringt sie dir? ;)
PS: das macht ja richtig Spaß!

 

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